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Gleich zwei Alben? Ja, gleich zwei Alben!
Lou Reed – Transformer (1972)
Im Jahr 1970 hatte Lou Reed bereits seine erste Karriere hinter sich: Mit Velvet Underground hatte er zwischen 1967 und 1970 das neu definiert, was Rockmusik sein konnte, und damit noch Jahrzehnte später unzählige Musiker beeinflusst. Viel verdient hatte er damit aber nicht und so stand er nach der Auflösung von VU ohne Band und Geld da, zog mittellos wieder bei seinen Eltern ein und nahm einen Bürojob in der Firma seines Vaters an. Lou Reeds 1972 unternommener Versuch einer Solokarriere hatte nur bescheidenen Erfolg: Sein musikalisch unentschiedenes Solo-Debut kam bei Kritik und Publikum nicht an. Man hätte Lou Reed zu diesem Zeitpunkt als einen has been abschreiben können, der seinen Zenit bereits überschritten hat, hätte sich nicht auf der anderen Seite des Atlantiks ein alter VU-Fan an ihn erinnert.
Auftritt David Bowie. Der hatte Mitte 1972 in Großbritannien mit seinem alter ego Ziggy Stardust einen Riesenhit gelandet und war damit zum Star geworden. Er beschließt seinem gestrauchelten Helden und damaligen label-mate bei RCA Lou Reed unter die Arme zu greifen. Kurzerhand ließ er Reed nach London einfliegen und produzierte dort gemeinsam mit dem Gitarristen Mick Ronson Lou Reeds nächstes Album TRANSFORMER.
David Bowies Handschrift ist auf TRANSFORMER unüberhörbar: Satte Arrangements mit schneidenden Gitarren, Background Chören, Streichern und auch mal einem Saxofon und einer Tuba. Das ist Glamrock, nicht die kratzbürstige Musik von Velvet Underground. Und doch gibt es hier zahlreiche Bezüge zu VU. TRANSFORMER enthält nicht nur vier Songs, die Reed bereits zu VU-Zeiten geschrieben hatte. Auch in anderen Songs bezieht er sich auf die Zeit Ende der 60er, als er Protegé von Andy Warhol und Teil der Bohème um dessen Factory war. In seinem größten Hit WALK ON THE WILD SIDE besingt Lou Reed in jeder Strophe einen anderen von Andy Warhols Superstars. VICIOUS geht auf eine Anregung Andy Warhols zurück, bei MAKE UP glaubt man einen Transvestiten dabei zuzusehen, sich für den Auftritt auf einer Party in der Factory aufzubrezeln und ANDY’S CHEST trägt nicht nur Warhols Vornamen im Titel sondern nimmt darin auch Bezug auf das 1968 auf ihn verübte Attentat, das er nur knapp überlebte und das seinen Oberkörper entstellte.
TRANSFORMER führt ein Panoptikum gesellschaftlicher Außenseiter und Selbstdarsteller vor, die im Umfeld Andy Warhols mit ihren exhibitionistischen Eskapaden ihre 15 Minuten Ruhm genossen bevor sie wieder von der Bildfläche verschwanden oder drogenbedingt abstürzten. NEW YORK TELEPHONE CONSERVATION handelt vom Klatsch und Tratsch der Bohème, und in GOODNIGHT LADIES klagt Lou Reed über die Langeweile und die Einsamkeit, nachdem er daheim die Tür hinter sich geschlossen hat. In PERFECT DAY träumt er sich in eine heile Welt, kann aber gleichzeitig seinen Selbsthass nicht verleugnen: „I thought I was someone else, someone good“. Man könnte TRANSFORMER den Untertitel SZENEN AUS DEM LEBEN DER BOHÈME geben. Glamour, Ausschweifungen, Dekadenz, Blendwerk und Enttäuschung, musikalisch angemessen untermalt und von Lou Reed mit einer Mischung aus Faszination und Spott vorgetragen.
Lou Reed / John Cale – Songs For Drella (1990)
Mehr als 15 Jahre später: Auf Andy Warhols Beerdigung, der 1987 nach einer Gallenblasenoperation gestorben war, treffen sich Lou Reed und sein Weggefährte aus VU-Tagen John Cale wieder. Zwar hatte John Cale nach seinem Rauswurf bei VU geschworen, nie wieder mit Reed zusammenzuarbeiten. Auf Anregung des Malers Julian Schnabel beschließen die beiden jedoch, ein Requiem auf ihren verstorbenen Mentor Andy Warhol zu verfassen. Drei Jahre später nehmen sie eine Sammlung von Liedern auf, die Ende 1990 als SONGS FOR DRELLA veröffentlicht wird. Wer ist „DRELLA“? „DRELLA“ war der Spitzname von Andy Warhol, erfunden von Superstar Ondine. Ein Kunstwort aus Dracula und Cinderella, das die widersprüchliche Persönlichkeit Warhols beschreibt. Einerseits der privat unnahbar und schüchtern wirkende Einzelgänger, andererseits der clevere Manipulator der Kunstwelt, der die Talente seiner Mitarbeiter geschickt zu seinem eigenen Vorteil nutzte. Ein Blick nicht nur auf Andy Warhol also, sondern gleichzeitig auch auf dessen Entourage in der Factory und die New Yorker Kunstszene der späten 60er Jahre.
Andy Warhol: Geboren als Sohn eines Arbeiters in Pittsburgh, der früh stirbt und ihn in die Obhut seiner Mutter und seines älteren Bruders gibt. „Bad skin, bad eyes, gay and fatty“ wie Reed und Cale ihn beschreiben. Ein Außenseiter von Natur aus, sozusagen, aber auch begabt und ehrgeizig. Später erfolgreicher Werbegrafiker in New York City, Protagonist einer neuen Kunstrichtung, zuerst belächelt und angefeindet, dann umschwärmter Pate einer Bohème-Gemeinde, in der sich Modells, Musiker, Stricher, Transvestiten und psychisch labile Millionenerbinnen tummelten, Star auf dem internationalen Kunstmarkt – und gleichzeitig gläubiger Katholik, der regelmäßig zur Messe ging, einen eisernen Arbeitsethos pflegte und mit seiner Mutter und unzähligen Katzen zusammenlebte.
Es besteht kein beabsichtigter Zusammenhang zwischen TRANSFORMER und SONGS FOR DRELLA. Dennoch gibt es etwas, was die beiden Alben miteinander verbindet: Zunächst ist dies natürlich Lou Reed als leader bzw. als co-leader neben John Cale. Und dann ist da die Beschäftigung mit der Figur Andy Warhol und dessen Umgebung. Bei SONGS FOR DRELLA ist dies erklärtes Konzept. Dies ist es bei TRANSFORMER zwar nicht, aber es ist kaum zu überhören aus welchem Millieu Lou Reed hier seine Themen schöpft.
Im Gegensatz zu TRANSFORMER ist SONGS FOR DRELLA sparsam, fast spartanisch instrumentiert. Nur die Stimmen von Lou Reed oder John Cale und die Instrumente, die man mit ihnen assoziiert: Lou Reeds E-Gitarre, John Cales Piano und seine Viola, die schon auf VUs Debut-LP eine prominente Rolle gespielt hatte. Reed und Cale schaffen damit kleine musikalische Skizzen, die einzelne Aspekte aus der Biografie Andy Warhols darstellen. Seine Herkunft aus der Stahlarbeiterstadt Pittsburgh in SMALL TOWN („there’s only one good use for a small town / you hate it and you know you’ll have to leave“), Warhols Konzept der Factory, in der er sich mit einer Schar von „crazy people“ umgab, die ihn inspirierten (OPEN HOUSE), seine Arbeitsethos (WORK: „all that matters is work“). Seine künstlerischen Strategien werden in STYLE IT TAKES, STARLIGHT und IMAGES beleuchtet. Es wird aber auch nicht verschwiegen, dass die Sterbensrate in der Factory vergleichsweise hoch war, Andy Warhol jedoch jegliche Verantwortung dafür von sich wies („IT WASN’T ME“). In dem unheimlichen, von John Cale gesprochenen A DREAM meint man dann aber auch etwas von dem Menschen Andy Warhol hinter der Maske des Künstlers zu erahnen, der alleine verträumt den Schneeflocken zusieht und von Freunden und Mitarbeitern enttäuscht ist. Am Ende macht sich Lou Reed den Vorwurf, Andy zu dessen Lebzeiten nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt zu haben: „Things always seem to end before they start“
Ein kammermusikalischer Nachruf, der auf die verschiedenen Facetten des Künstlers und Menschen Andy Warhol zurückblickt. Stellt man TRANSFORMER dem Album SONGS FOR DRELLA gegenüber, ergibt sich ein eigenartiger und schöner Kontrast: Das ausschweifende und hedonistische TRANSFORMER einerseits, das nüchterne und spröde SONGS FOR DRELLA andererseits. Zwei Betrachtungsweisen des gleichen Objekts, jedoch aus unterschiedlicher Perspektive, unterschiedlichem zeitlichen Abstand und mit etwas verschobenem Fokus. Scheint Lou Reed auf TRANSFORMER noch mitten im Factory-Millieu zu stecken, so ist SONGS FOR DRELLA von Lou Reed und John Cale ein Rückblick aus der Distanz – nachdenklich, melancholisch, etwas nostalgisch, voller Bewunderung für Andy Warhol aber auch nicht ohne Bitterkeit. Zwei Alben, die bei aller Gegensätzlichkeit doch etwas Verbindendes haben und die side by side gehört gerade dadurch ein überaus reizvolles Paar bilden. Gleichzeitig ein coming of age des Erzählers Lou Reed und vielleicht die beiden besten Platten die er nach Velvet Underground gemacht hat.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)