Startseite › Foren › Die Tonträger: Aktuell und Antiquariat › Replays: Neuauflagen, Deluxe- und erweiterte Editionen › Wiederhören im Forum… › Re: Wiederhören im Forum…
Soft Cell – NON-STOP EROTIC CABARET (1981)
Wenn man 1981/82 das öffentlich-rechtliche Radio als Tagesbegleitprogramm laufen ließ, war eines nicht zu vermeiden: Ob man wollte oder nicht, hörte man im Laufe des Tages mindestens einmal TAINTED LOVE von Soft Cell. Ursprünglich ein obskures von Gloria Jones gesungenes Northern Soul-Stück, wurde die Synthpop-Coverversion von Soft Cell ein Riesenhit und brannte sich in die Erinnerung einer ganzen Generation als typisches Stück der 80er Jahre ein. Keine Ü40 Party kommt heute ohne TAINTED LOVE aus und Soft Cell werden oft ausschließlich mit ihrem größten Hit verbunden, auch wenn sie wenig später mit SAY HELLO, WAVE GOOD BYE noch einen weiteren Hit hatten.
Das tanzbare TAINTED LOVE und die melodramatische Ballade SAY HELLO … sind durchaus typisch für Soft Cells Debut-Album, das beide Stücke enthält. Aber NON-STOP EROTIC CABARET bietet noch andere Facetten, als diese beiden Hits vermuten lassen. Man kann sie vorschnell als leichtgewichtigen Chart-Pop abtun, aber im Zusammenhang des Albums erscheinen diese Stücke in etwas anderem Licht.
Sänger Marc Almond und Instrumentalist Dave Ball teilten eine gemeinsame Leidenschaft für elektronische Popmusik einerseits und Soul andererseits. Bei Almond kam noch seine Begeisterung für Dusty Springfield, Jacques Brel und Liza Minelli hinzu und wie diese liebt auch er den großen Auftritt. Der Gegensatz zwischen der kühlen und reduzierten Elektronik von Dave Ball und dem melodramatischen, von Gefühlen überschäumenden Gesang Marc Almonds macht einen großen Teil des Reizes der Musik von Soft Cell aus. Und dann gab es da noch Almonds Lust, in den Schmuddelecken menschlicher Gefühle, Leidenschaften und Abgründe zu wühlen: Hier fand er die Themen der meisten Songs.
Mit FRUSTRATION beginnt EROTIC CABARET sehr plakativ: Ein kleiner Spießer kotzt sich über sein langweiliges Leben aus und träumt davon, mal so richtig über die Stränge zu schlagen: „Experiment with cocaine, LSD and set a bad bad example / Live a little, run a harem, be a tiger / Meet Bo Derek and be her Tarzan“. Das ist in seiner übertriebenen Klischeehaftigkeit schon wieder lustig – und es gibt das Thema vor: Auf EROTIC CABARET spielen sich lauter kleine Dramen zwischen Versuchung und Moral, Lust und Sünde ab und nicht alles davon ist geeignet für das Tagesbegleitprogramm. Das laszive SEEDY FILMS führt uns erst in ein Kino im Bahnhofsviertel und dann zum Telefonsex („Phone me tonight / And maybe we can talk dirty“) und bei dem aggressiven SEX DWARF brechen dann alle Dämme und die erotischen sado-maso Fantasien werden offen ausgelebt: “I would like you / On a long black leash / Walk my little doggy / Walk my little sex dwarf“ und dazu knallt die Peitsche. BEDSITTER beschreibt den tristen Alltag eines Nightlife-Süchtigen und SECRET LIFE handelt von Doppelleben und Erpressung. TAINTED LOVE und SAY HELLO … sind in diesem Sittengemälde von verbotener oder unerwiderter Liebe und sexueller Abhängigkeit nur zwei weitere Geschichten. EROTIC CABARET enthält lauter kleine Synthpop-Ohrwürmer, in denen sich aber Abgründe verbergen. Sicher ist es auch das Spiel mit dem Voyeurismus und den geheimen Fantasien des Hörers, die gezielte Provokation, die das Album damals so verführerisch machte.
EROTIC CABARET wurde in kürzester Zeit mit teilweise geliehenem einfachstem Gerät aufgenommen. Der etwas billig klingende elektronische Sound wirkt mit seinem Tuckern, Zischen und Fiepen aus heutiger Sicht schon wieder charmant und originell und passt gut zu der Rotlichtviertel-Athmosphäre, in der sich diese etwas klischeehaften Geschichten abspielen. NSEC ist ein Zeitdokument, aus der Distanz betrachtet für die frühen 80er typisch, eigentlich aber damals innovativ, denn Synthpop wurde ja gerade erst erfunden. Und die Verbindung von Synthpop und großer Stimme, die von Gefühlen übersprudelnd von der dunklen Seite von Liebe und Sex singt, macht NON-STOP EROTIC CABARET zu einem Klassiker nicht nur seines Genres, sondern auch der 80er Jahre.
--
„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)