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Neil Young – Decade (1977)
Eine Compilation? Ja, eine Compilation!
Als Teenager in den späten 70er Jahren war mein Taschengeld knapp bemessen. Die Neuanschaffung einer Langspielplatte musste daher genau überlegt sein. Die Möglichkeit vorab in eine Platte reinzuhören gab es in der Regel nicht, auch hatte ich kaum Zugang zu Fachliteratur oder -presse. Daher war jeder Plattenkauf mit dem Risiko behaftet, ein Fehlgriff zu sein, der finanziell schwer ins Kontor schlug.
Um das begrenzte Budget möglichst effizient zu nutzen bot sich der Kauf von Doppel-LPs an, da sie ein günstiges Preis-Leistung-Verhältnis boten – zumindest was die Spielzeit betraf. Greatest Hits-Compilations versprachen außerdem ausgewählte Qualität und so griff ich hier gerne zu: Das Rote und das Blaue Album der Beatles, auch das Weiße, das ich anfangs ebenfalls für eine Compilation hielt, Bob Dylan’s GREATEST HITS VOL. 2, je eine Live-Doppel-LP von The Doors und Crosby Stills, Nash & Young. Ganz besonders wirtschaftlich angelegt schien das Taschengeld bei 3-fach LPs: The Bands THE LAST WALTZ und Neil Youngs DECADE.
Auf jeden Fall hatte man mit DECADE richtig was in der Hand: ein 3-fach fold out cover, durchgehend farbig bedruckt mit vielen Fotos und Neil Youngs handgeschriebenen Kommentaren zu jedem einzelnen Song. Den mittleren Teil des Covers konnte man sogar noch aus der Hülle herausziehen, so dass man insgesamt 8 Coverseiten anzuschauen und zu bestaunen hatte. Darin steckten drei LPs und alles zusammen brachte nicht nur einiges an Gewicht mit sich, sondern nahm aufgrund seines Volumens auch besonders viel Platz ein. Diesen breiten erdfarben-rotbraunen Rücken übersah man nicht so leicht im Plattenregal. Ein richtig dicker Schinken, bei dem man Besitzerstolz empfand.
Doch vor allem ist DECADE ein wahres Füllhorn an Musik. Der von Neil Young selbst chronologisch zusammengestellte Abriss seiner Karriere von 1966 – 1976 bildet das ganze Spektrum seiner Musik ab: Die frühen Aufnahmen mit Buffalo Springfield, die stilistisch noch einiges der british invasion schulden, der zerbrechliche Folk von SUGAR MOUNTAIN, die endlos spannenden Gitarrenimprovisationen von DOWN BY THE RIVER und CORTEZ THE KILLER, der Country Rock von HARVEST und HEART OF GOLD, mit SOUTHERN MAN und LIKE A HURRICANE metallischer Rock und verkaterte Drogenballaden wie TONIGHT’S THE NIGHT. Eigentlich ein sehr uneinheitliches Sammelsurium, aber so geschickt zusammengestellt, dass nicht nur die einzelnen LP-Seiten sondern das gesamte Album einen schönen Spannungsbogen haben. Ist DECADE eine BEST OF-Compilation? Ja, aber sie ist auch noch etwas anderes, denn neben den offensichtlichen Gassenhauern enthält sie außerdem viele Stücke, die den Hörer nicht direkt anspringen: die Single B-Seite SUGAR MOUNTAIN, FOR THE TURNSTILES, auf dem Neil Young nur von Gitarre, Banjo und Dobro begleitet wird, und andere Stücke, die sich nicht nur sehr schön in die Dramaturgie des Albums einfügen und das Bild abrunden, sondern die gerade durch ihre Eigenheiten bei genauem Hinhören einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Ganz nebenbei unternimmt man mit DECADE eine Reise durch Americana verschiedenster Spielarten. Danach konnte mich jedenfalls so leicht nichts mehr überraschen. Beat, Folk, Hard Rock, endlose Gitarrensoli, Country: Das kannte ich jetzt alles und andere Musiker mussten sich in diesen Genres erstmal an Neil Young messen. Vielleicht ist das der einzige Nachteil von DECADE: Auf den 6 Vinyl-Seiten ist so viel großartige Musik zu entdecken, dass ich lange Zeit gesättigt und damit zufrieden war. Jedenfalls habe ich jahrelang kein weiteres Album von Neil Young mehr erworben.
DECADE war lange Zeit eine meiner liebsten Platten. Irgendwann war das Vinyl durch meinen billigen DUAL-Plattenspieler zwar abgenutzt und mein Musikgeschmack wandelte sich. Neil Young kam in den 80ern etwas aus der Mode und DECADE verschwand etwas weiter hinten im Plattenregal. Aber schon Ende der 80er kaufte ich mir ein neues Exemplar von DECADE, das ich immer noch besitze, schätze und liebe. Vor einigen Monaten wurde eine 2-CD-Re-Issue von DECADE für einen Appel und ein Ei verramscht und ich konnte nicht widerstehen. Von der Gestaltung ist diese Ausgabe mit der Plastikhülle, dem kleinformatigen und zum größten Teil schwarz-weißem Booklet zwar nur ein blasser Abklatsch der ursprünglichen 3-fach LP. Aber die Musik auf DECADE klingt heute immer noch genau so faszinierend wie damals.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)