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danke auch dir @friedrich für die schönen kommentare. ich beantworte die noch schnell und löse dann im verlauf des nachmittags auf. sämtliche fäden werden dann rot angestrichen und die abrupten stimmungswechsel hoffentlich auch erklärt.
friedrich
Track #01
Die gute alte Zeit. Das klingt musikalisch wie aus den 20er oder 30er Jahren, New Orleans, Kansas City, Chicago oder irgendwo da auf dem Wege. Aber die Aufnahme ist jünger, sagst Du? Der Begriff „jelly roll“ hat wohl diverse Bedeutungen mit sicher auch sexuellen Anspielungen (süß, weich und lecker halt). Ich mag diesen simplen tanzenden Rhythmus, das Volkstümliche. Schöne Soli, pralles Leben. Hört man wahrscheinlich am besten in feuchtfröhlicher Gesellschaft in der Kneipe.
new orleans, von diesen leuten seit den 1940ern gespielt, vom prallen leben hat wohl zumindest die bandleaderin einen begriff. „feuchtfröhlich“ würde natürlich jede_r lektor_in streichen, aber das ist entertainment und der tanz betrifft nicht nur die vom glöckchen begleiteten knie, sondern auch die doppelten bedeutungen im kopf. insofern: alles richtig.
friedrichTrack #02
Da höre ich aber auch gleich einen Bruch: Erst der derb zupackende Track #01 und nun so ein apartes Stück Musik, bei dem man den Kopf nachdenklich zu Seite neigen und ganz ergriffen gucken möchte. Das ist eher Konzertsaal als Kneipe. Wenn #01 tanzte, dann schwebt #02. Ich finde das ganz hübsch, ich mag die Stimme an sich, es kann mich aber nicht packen (erst recht nicht nach #02). Mit kommt das etwas textlastig vor – den Text verstehe ich aber offen gesagt nicht. Wirkt auf mich auch etwas verkopft und ambitioniert.
irgendwie mache ich diese trennung nicht ganz mit, zwischen apart und derb (beide haben etwas von beidem, finde ich), zwischen konzertsaal und kneipe. aber zwischen tanzen und schweben schon. dieses stück (@brandstand3000 nannt es „arty“) geht natürlich weiter zurück, auf die frage, wie man das unmittelbare lebenssetting in musik überführt, das wohl beide damen sehr gut kennen, aber die coolness haben sie gemeinsam. musik hat für beide als ausdrucksform etwas unmittelbar selbstverständliches, und das hört man auch, finde ich.
friedrichTrack #03
Und ab durch den time tunnel zurück in die Vergangenheit. Der Gesang (männlich? weiblich? egal?) reißt hier alles mit. Das klingt sowas von black, kennt keinen Unterschied zwischen Religion und Sex. „Yeah, yeah, yeah ohhh“ Singt er oder sie da auch „Touch me!“? Gerne!
der gesang ist weiblich (schräg, dass so viele hier sich unsicher sind), religion und sex und kampf und exil sind in der tat untrennbar verbunden. was du als „touch me“ hörst, ist wohl nur die ungewöhnlich aussprache von „joshua“. ich hatte ein bisschen erwartet, dass du weißt, wer das hier ist. habe aber keine ahnung, wieso.
friedrichTrack #04
Das ist sicher technisch-musikalisch raffinierter und virtuoser als #03, aber mit dem rollenden Linien auf dem Piano und der tighten rhythm group, den rumpelnden drumbreaks, wirkt das ähnlich berauscht-berauschend wie #03. So stelle ich mir Art Tatum vor.
art tatum kenne ich zu wenig, aber schön, dass du hier auch den rausch hörst (oder hast). genau das fand ich nämlich in der zusammenstellung auch.
friedrichTrack #05
Das ist ein viel sublimierter als #04. Latin touch, gelassen swingend. Wo kommt denn die Harfe her? Das Vibrafon perlt sehr schön. Hier ist eigentlich jedes Solo schön, das klingt wirklich so als wird die Staffel von einem zum anderen gereicht, ohne dass der Swing abreißt. Kleines Zitat von „It Ain‘t Necessarily So“? Sehr schönes Miteinander, wirkt spontan, aber auch gut geprobt. Irgendwo zwischen Swing und Bop.
freut mich, dass dir das so gut gefällt, mit eher leichten, swingenden sachen kennst du dich ja gut aus, wie dein bft zeigte.
friedrichTrack #06
Und wieder ein abrupter Stimmungswechsel. Der Pianist scheint mehr für sich selbst als fürs Publikum zu spielen und die rhythm section kann sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten. Sehr afterhours. Ich glaube, nach dem 3. oder 4. Whisky und in entsprechender Stimmung könnte mir das gefallen.
die rhtyhm section ist vielleicht die wachste ihrer zeit, aber ihre zurückhaltung hier ist schon mehr als respektvoll. es ist halt klar, wem hier der spotlight gehört. soll ich mal mit whisky vorbeikommen? (letztes mal wurde eher metaxa benötigt, wenn ich mich recht erinnere.)
friedrichTrack #07
„Hallo Tanzbär!“, denke ich zuerst, wenn ich die Tuba höre, aber dann kommen diese fein arrangierten Bläser und die schönen Soli. Auch das swingt wieder in einem schönen Fluss daher. Mit dem Tuba-Solo – wann hört man sowas schon mal? – schließt sich der Kreis. Klingt so wie Brass Band meets Gil Evans. Gefällt mir gut.
schön beschrieben. ein bisschen schade, dass das kavier hier immer überhört wird, das finde ich sehr interessant im vergleich zu dem aus #6. aber das arrangement und die tuba sind natürlich der hinhörer hier.
friedrichTrack #08
„Get down, baby!“ Ist das Kirche, Bordell oder Tanzboden? Egal! Wahnsinnig schwerer groove, alle hängen sich richtig rein und treiben die Betriebstemperatur ihres Instrument weit über den vom Hersteller empfohlenen Höchstwert. Da hört man Blues, Gospel, Jazz und Funk gleichzeitig. Das hält der beste Motor auf die Dauer nicht aus, aber für zweieinhalb Minuten ist das das Größte!
genau!
friedrichTrack #09
Das ist cool! Auch hier wieder ein schleppender langsamer groove, aber viel zurückgenommener. Drum & Bass gefallen mir gut. Dann wird der Pianist dramatisch. Großes Kino. Vorhang, Applaus!
o ja, der applaus und der vorhang werden hier vehement eingefordert, was auch ein späte rache ist, der wurde nämlich institutionell verwehrt. wundert mich auch, dass man nicht sofort erkennt, wer hier am werk ist.
friedrichTrack #10
Das ist etwas offensichtlich Religiöses. Gospelchor mit bluesiger Jazzbegleitung. Diese Kombi gefällt mir!
schön.
friedrichTrack #11
So, hier willst du also einen diss on mir lesen? Aber so schlimm finde ich das gar nichtDas hat ja durchaus einen groove, steigert sich auch ins Berauscht-Berauschende, in sofern kann ich das nachvollziehen und auch verstehen, wieso das hier im Mix ist. Klar, mir wird das irgendwann – ich sag mal – zu unklar strukturiert und auch in der extrem hohen Reizdichte und das fast ständige Spielen am Limit schlicht zu anstrengend – und dann gebe ich auf. Mehr als 9 Minuten? Grundgütiger! So stelle ich mir Albert Ayler vor.
ayler hätte die hier wahrscheinlich noch weggepustet, aber klar, das ist hier kein easy listening. es braucht aber irgendwie die länge, finde ich, wenn auch nur, um zu zeigen, dass solch eine spannung tatsächlich gehalten werden kann.
friedrichTrack #12
… hat einfach das Pech, das er direkt an Track #11 anschließt und bei mir der Kanal an Free Jazz vorläufig voll ist. Sorry! Ganz interessant ist das anscheinend völlig unvermittelte Nebeneinander zwischen Gesang und Piano und dem Rest der Instrumentierung. Ganz getragen das eine, völlig durchgeknallt das andere. Eigenartig …
Puh, erstmal durchatmen!
ok, dann kommt der erwartete diss eben verspätet und trifft ungerechterweise dieses schöne, spontane und beseelte experiment
friedrichTrack #13
Das fängt nach der für mich schweren Kost von #11 und #12 sehr versöhnlich an. Eine Flöte – Balsam für Trommelfell und Seele! Wenn ich mal beiseite lasse, dass die Flöte eigentlich im Jazz sowieso nicht unbedingt die Königsdisziplin ist – das ist ein sehr schön und virtuos gespieltes Solo, sehr lebhaft, mit feinen Nuancen, hier und da ein angedeuteter Triller. Ich vermute mal, dass die Flöte das Hauptinstrument des – äh … – Flötisten ist. Kenne ihn aber nicht. Ausnahmsweise gefallen mir sogar das Bass- und das Drumsolo. Auch die beiden spielen sehr nuanciert und ideenreich. Schöne, leicht beschwingte Atmosphäre, gleichzeitig sehr virtuos.
endlich mal ein stimmungswechsel, der gefällt. wie gesagt: die antihaltung der flöte im jazz gegenüber werde ich nie begreifen, aber hier passt ja offenbar alles. freut mich.
friedrichTrack#14
Erst mystisch-mysteriös, dann funky. Der groove packt mich sofort. Siebziger, I suppose, schon wegen der Produktion mit Streichern und Bläsern und des Sounds sowieso. Klingt auch mehr nach einer Produzentenarbeit als der eines Musikers. Huch, ist das eine Gitarre? Sowas kann sich nur ein Produzent ausdenken! Ich vermute dahinter irgendeine eigentlich kommerziell und hip gemeint Produzentenarbeit, für die man Top-Solisten geheuert hat. Und natürlich hat das Hip-Qualitäten – aber es ist auch sonst toll! Für einen Augenblick dachte ich, dahinter könnte der Chess-Clan stecken?
das hast du wohl gut und treffend beschreben. ist nicht der chess-clan, sondern der argo-cadet-clan, aber am deutlichsten hier wird schon die handschrift des produzenten. wobei der kopf der band und des albums sich hier ganz schön was vorgenommen hat und das hauptinstrument nicht ganz einfach in den jazz zu integrieren ist (weil weiblich codiert? wahrscheinlich). ist hier aber auch nochmal in einer fernöstlichen variante zu hören, also noch mal mehr verschiebung zur hipness. eine weitere zusammenarbeit von produzent und solistin trägt tatsächlich die hipness sogar im namen. manchmal finde ich das zu kommerziell und respektlos, aber hier funktioniert es super.
friedrichTrack#15
Ist das Konzeptkunst? Ich vermute, die Qualität des trx liegt irgendwo im Verhältnis von Musik und Text (den ich leider nicht verstehe). Ich mag den Instrumentaltrack eigentlich ganz gerne, auch wenn er sich etwas cabaret-artig anhört. Das wirkt auf mich wie eine Performance mit einer Botschaft, die bei mir aber nicht so recht ankommt.
die botschaft ist echt nebensache. es geht eher um humor, in dem sich arrangement und text treffen. das mag hier kaum jemand, schade.
friedrichTrack#16
Wieder was Lyrisches. Ich mag ja solch Arrangements mit sich aneinander reibenden Bläsern. Schöner Klangreichtum. Gestrichener Bass oder Cello, oder was ist das? Der trk schwebt oder wogt eher, rhythmisch was ganz anderes als die vorhergehenden trx. Wirkt auch gleich viel getragener, viel ernsthafter, fast mit einer Neigung zum Pathos. Schöne Sache!
das ist ein bass, mit viel dominanz im mix. den bassisten würde ich wohl jederzeit heraushören. aber bei dir wird es ein aha geben, wenn ich hier den produzenten verrate (um den es mir anfänglich aber gar nicht ging, genausowenig, wie um den in #14).
friedrichTrack#17
Der trk schließt sehr schön an #16 an, wird dann aber leicht funky. Ha, ich erkenne was: Da singt die Neumondtochter! Wenn man den Text googlet hat man auch gleich das Album und die Band. Mit M-Base und Steve Coleman bin ich nie warm geworden, auch wenn ich es echt versucht habe. Da denke ich immer: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Große Konzepte, die mit Musik aufgefüllt werden, die weniger ist, als die Summe ihrer Teile. Ich weiß, andere hören das anders. Dieses Stück ist aber vergleichsweise geradeaus gespielt und kommt daher recht gut bei mir an. Schöner Abschluss des BFT #24!
yes, treffer. coleman würde jetzt sagen: die komplexität liegt ja schon in den (afrikansichen) primärquellen, die für unsere ohren popgeschichtlich geradegebügelt wurden. und so geradeaus ist das hier auch nicht, aber die spiritual-hommage gibt natürlich einen starken und eingängigen rahmen vor.
friedrichIch habe diesen BFT im Zusammenhang mit dem Bild der black community vor der Kirche gehört, das Du damit verbunden hast. Nach meiner Interpretation also, dass die Stücke im weitesten Sinne etwas Religöses / Spirituelles haben, was in der black music ja gleichzeitig oft etwas sehr Körperliches hat. Gott und Sex liegen da sehr nahe beieinander. Bei vielen Stücken meinte ich das hören zu können, bei anderen weniger. Und wo ich das hören konnte, gefiel mir das auch sehr gut. Bin gespannt, was Du Dir dabei gedacht hast!
das spirituelle war eigentlich ein nebeneffekt und das bild ein kleines ablenkungsmanöver. aber wenn man weiß, dass die religiösen inhalte mal als kommunikationsmedium gedient haben und entsprechend getwistet wurden (von menschen, die lange zeit noch nicht mal kirchen besuchen durften), ist das mit sexuellen doppeldeutigkeiten ja nicht grundsätzlich anders. mir ging es hier aber eigentlich um ausdrucksmöglichkeiten für menschen, die in diesem zusammenhang noch mal weniger selbstverständlich waren. danke für’s mitmachen, auflösung folgt!
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