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vorgartenoh, wie schön, danke für deine kommentare! ich bin gerade unterwegs, in kassel, bei diesem etwas ausgedehnteren kunst-event, und komme wohl erst dienstag zum antworten. ich löse dann aber auch bald auf, bevor gypsy auf reisen geht. kommentare von friedrich sind dann eben da (was mich freuen würde) oder nicht.
Lieber @vorgarten, habe ich Dich je im Stich gelassen? Btw: Kannst ja dann mal eine kurze Einschätzung des Kunst-Events geben.
Aber zur Sache:
Track #01
Die gute alte Zeit. Das klingt musikalisch wie aus den 20er oder 30er Jahren, New Orleans, Kansas City, Chicago oder irgendwo da auf dem Wege. Aber die Aufnahme ist jünger, sagst Du? Der Begriff „jelly roll“ hat wohl diverse Bedeutungen mit sicher auch sexuellen Anspielungen (süß, weich und lecker halt). Ich mag diesen simplen tanzenden Rhythmus, das Volkstümliche. Schöne Soli, pralles Leben. Hört man wahrscheinlich am besten in feuchtfröhlicher Gesellschaft in der Kneipe.
Track #02
Da höre ich aber auch gleich einen Bruch: Erst der derb zupackende Track #01 und nun so ein apartes Stück Musik, bei dem man den Kopf nachdenklich zu Seite neigen und ganz ergriffen gucken möchte. Das ist eher Konzertsaal als Kneipe. Wenn #01 tanzte, dann schwebt #02. Ich finde das ganz hübsch, ich mag die Stimme an sich, es kann mich aber nicht packen (erst recht nicht nach #02). Mit kommt das etwas textlastig vor – den Text verstehe ich aber offen gesagt nicht. Wirkt auf mich auch etwas verkopft und ambitioniert.
Track #03
Und ab durch den time tunnel zurück in die Vergangenheit. Der Gesang (männlich? weiblich? egal?) reißt hier alles mit. Das klingt sowas von black, kennt keinen Unterschied zwischen Religion und Sex. „Yeah, yeah, yeah ohhh“ Singt er oder sie da auch „Touch me!“? Gerne!
Track #04
Das ist sicher technisch-musikalisch raffinierter und virtuoser als #03, aber mit dem rollenden Linien auf dem Piano und der tighten rhythm group, den rumpelnden drumbreaks, wirkt das ähnlich berauscht-berauschend wie #03. So stelle ich mir Art Tatum vor.
Track #05
Das ist ein viel sublimierter als #04. Latin touch, gelassen swingend. Wo kommt denn die Harfe her? Das Vibrafon perlt sehr schön. Hier ist eigentlich jedes Solo schön, das klingt wirklich so als wird die Staffel von einem zum anderen gereicht, ohne dass der Swing abreißt. Kleines Zitat von „It Ain‘t Necessarily So“? Sehr schönes Miteinander, wirkt spontan, aber auch gut geprobt. Irgendwo zwischen Swing und Bop.
Track #06
Und wieder ein abrupter Stimmungswechsel. Der Pianist scheint mehr für sich selbst als fürs Publikum zu spielen und die rhythm section kann sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten. Sehr afterhours. Ich glaube, nach dem 3. oder 4. Whisky und in entsprechender Stimmung könnte mir das gefallen.
Track #07
„Hallo Tanzbär!“, denke ich zuerst, wenn ich die Tuba höre, aber dann kommen diese fein arrangierten Bläser und die schönen Soli. Auch das swingt wieder in einem schönen Fluss daher. Mit dem Tuba-Solo – wann hört man sowas schon mal? – schließt sich der Kreis. Klingt so wie Brass Band meets Gil Evans. Gefällt mir gut.
Track #08
„Get down, baby!“ Ist das Kirche, Bordell oder Tanzboden? Egal! Wahnsinnig schwerer groove, alle hängen sich richtig rein und treiben die Betriebstemperatur ihres Instrument weit über den vom Hersteller empfohlenen Höchstwert. Da hört man Blues, Gospel, Jazz und Funk gleichzeitig. Das hält der beste Motor auf die Dauer nicht aus, aber für zweieinhalb Minuten ist das das Größte!
Track #09
Das ist cool! Auch hier wieder ein schleppender langsamer groove, aber viel zurückgenommener. Drum & Bass gefallen mir gut. Dann wird der Pianist dramatisch. Großes Kino. Vorhang, Applaus!
Track #10
Das ist etwas offensichtlich Religiöses. Gospelchor mit bluesiger Jazzbegleitung. Diese Kombi gefällt mir!
Track #11
So, hier willst du also einen diss on mir lesen? Aber so schlimm finde ich das gar nicht Das hat ja durchaus einen groove, steigert sich auch ins Berauscht-Berauschende, in sofern kann ich das nachvollziehen und auch verstehen, wieso das hier im Mix ist. Klar, mir wird das irgendwann – ich sag mal – zu unklar strukturiert und auch in der extrem hohen Reizdichte und das fast ständige Spielen am Limit schlicht zu anstrengend – und dann gebe ich auf. Mehr als 9 Minuten? Grundgütiger! So stelle ich mir Albert Ayler vor.
Track #12
… hat einfach das Pech, das er direkt an Track #11 anschließt und bei mir der Kanal an Free Jazz vorläufig voll ist. Sorry! Ganz interessant ist das anscheinend völlig unvermittelte Nebeneinander zwischen Gesang und Piano und dem Rest der Instrumentierung. Ganz getragen das eine, völlig durchgeknallt das andere. Eigenartig …
Puh, erstmal durchatmen!
Track #13
Das fängt nach der für mich schweren Kost von #11 und #12 sehr versöhnlich an. Eine Flöte – Balsam für Trommelfell und Seele! Wenn ich mal beiseite lasse, dass die Flöte eigentlich im Jazz sowieso nicht unbedingt die Königsdisziplin ist – das ist ein sehr schön und virtuos gespieltes Solo, sehr lebhaft, mit feinen Nuancen, hier und da ein angedeuteter Triller. Ich vermute mal, dass die Flöte das Hauptinstrument des – äh … – Flötisten ist. Kenne ihn aber nicht. Ausnahmsweise gefallen mir sogar das Bass- und das Drumsolo. Auch die beiden spielen sehr nuanciert und ideenreich. Schöne, leicht beschwingte Atmosphäre, gleichzeitig sehr virtuos.
Track#14
Erst mystisch-mysteriös, dann funky. Der groove packt mich sofort. Siebziger, I suppose, schon wegen der Produktion mit Streichern und Bläsern und des Sounds sowieso. Klingt auch mehr nach einer Produzentenarbeit als der eines Musikers. Huch, ist das eine Gitarre? Sowas kann sich nur ein Produzent ausdenken! Ich vermute dahinter irgendeine eigentlich kommerziell und hip gemeint Produzentenarbeit, für die man Top-Solisten geheuert hat. Und natürlich hat das Hip-Qualitäten – aber es ist auch sonst toll! Für einen Augenblick dachte ich, dahinter könnte der Chess-Clan stecken?
Track#15
Ist das Konzeptkunst? Ich vermute, die Qualität des trx liegt irgendwo im Verhältnis von Musik und Text (den ich leider nicht verstehe). Ich mag den Instrumentaltrack eigentlich ganz gerne, auch wenn er sich etwas cabaret-artig anhört. Das wirkt auf mich wie eine Performance mit einer Botschaft, die bei mir aber nicht so recht ankommt.
Track#16
Wieder was Lyrisches. Ich mag ja solch Arrangements mit sich aneinander reibenden Bläsern. Schöner Klangreichtum. Gestrichener Bass oder Cello, oder was ist das? Der trk schwebt oder wogt eher, rhythmisch was ganz anderes als die vorhergehenden trx. Wirkt auch gleich viel getragener, viel ernsthafter, fast mit einer Neigung zum Pathos. Schöne Sache!
Track#17
Der trk schließt sehr schön an #16 an, wird dann aber leicht funky. Ha, ich erkenne was: Da singt die Neumondtochter! Wenn man den Text googlet hat man auch gleich das Album und die Band. Mit M-Base und Steve Coleman bin ich nie warm geworden, auch wenn ich es echt versucht habe. Da denke ich immer: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Große Konzepte, die mit Musik aufgefüllt werden, die weniger ist, als die Summe ihrer Teile. Ich weiß, andere hören das anders. Dieses Stück ist aber vergleichsweise geradeaus gespielt und kommt daher recht gut bei mir an. Schöner Abschluss des BFT #24!
Ich habe diesen BFT im Zusammenhang mit dem Bild der black community vor der Kirche gehört, das Du damit verbunden hast. Nach meiner Interpretation also, dass die Stücke im weitesten Sinne etwas Religöses / Spirituelles haben, was in der black music ja gleichzeitig oft etwas sehr Körperliches hat. Gott und Sex liegen da sehr nahe beieinander. Bei vielen Stücken meinte ich das hören zu können, bei anderen weniger. Und wo ich das hören konnte, gefiel mir das auch sehr gut. Bin gespannt, was Du Dir dabei gedacht hast!
wahrEine Sache noch: Mir ist bei den letzten beiden BFTs aufgefallen, dass ich sie doch etwas zu lang fand. Mir wäre es lieber, man würde sich so ca. auf eine ¾ Stunde beschränken. Dann ist es zumindest für mich nicht so ein großer Angang, dazu was zu schreiben und schiebt es vielleicht nicht so lange vor sich her. Ist vielleicht aber auch nur mein persönliches Problem, weil ich mit LP-Längen sozialisiert wurde.
Ich schließe mich dem Antrag von @wahr an!
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)