Antwort auf: Blindfold Test #22 – Friedrich

#10202863  | PERMALINK

vorgarten

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clasjaz
Was aber ist eine kulturelle Atempause? Warum sollte die Kultur, die Musik, Zeit zum Luftholen brauchen? Ich meine die Kultur als Abstraktum, von der Du sprichst mit dem „kulturell“, obwohl Du sicher die einzelnen Menschen meinst. Das ist vielleicht die Aporie von Leben und Destruktion durch Macht, oder auch einfach nur Dummheit. Das scheint mir mehr und mehr der oberste Dachdeckelbegriff für Zerstörung zu sein, ob fröhlich oder geifernd.

du hast recht, „kulturelle atempause“ ist schon ziemlicher blödsinn. was ich meinte, war, dass einerseits ein vergleichsweise freies denken und sprechen möglich war, andererseits aber eben auch neue produktions- und zirkulationsmöglichkeiten dafür. und ein kulturpolitisches projekt. kubitscheks öffnung des landes für die internationalen märkte holte geld ins land, und wahrscheinlich wurde die abkehr von sozialistischen ideen mit der rhetorik einer „brasilianischen moderne“ kompensiert, die so tat, als würde sie allen menschen etwas gutes tun wollen. aber es gab eben plötzlich plattenfirmen, fernsehsender, große theaterproduktionen und eine avantgardistische archtektur, eine neue hauptstadt wird in den dschungel gebaut und ein paar intellektuelle sitzen in rio in ihren wohnzimmern, die aufs meer hinausgehen, und singen und dichten für ein paar andere intellektuelle (so hat es nara leão später gesagt, die sich dafür stark machte, dass die musik wieder „mit der stimme des volkes“ spricht, welches von den vielen völkern sie da auch immer gemeint hat) – und die (nicht unangenehmen und nicht blöden) ergebnisse zirkulieren plötzlich weltweit und sie andererseits auch wieder identifikatorisch (meine eigene beobachtung des dorffestes, wo plötzlich all „a felicidade“ mitsingen). bossa-nova-brasilien als eine phase der programme und pläne, in der er einzelne für alle sprechen, neue ordnungen errichten und damit neue unordnung schaffen, ein klassisches modernes projekt also. ich mag auch das nicht schön reden. aber was da entstand, ist ja in mehrerer hinsicht bemerkenswert.

clasjazWas Fichte betrifft, nun gut, nichts gegen ihn von hierorts. Aber Folterschreie zu hören und sie poetisch zu verdichten (wie bitte soll das dann gehen, vorgarten?) ist etwas anderes, als gefoltert zu werden. Und den Schrei aufzuzeichnen. (So kann man es auch nicht nennen.) Verhallen wird er ohnehin.

das sind sicherlich unterschiedliche dinge. außerdem hat fichte die schreie nicht selbst gehört, er hat sich von ihnen erzählen lassen. aber auf seine poetische methode lasse ich nichts kommen, sie hier zu beschreiben, würde nur zu weit führen. mir ging es nur darum, dass er mit seinen manieristischen texten, die mit recherchiertem material, mit eigenen und fremden aussagen, eine wiederverzauberung der welt anstrebten, ein ambivalentes, komplexes bild zeichnen konnte, in denen das alles spürbar ist und rätselhaft bleiben darf: erotik und gewalt, religion und pop, leichtigkeit und traurigkeit. ruy castro, dessen dampfplaudernd charmante bossa-nova-geschichte ich ja immer wieder lese, hat die schreie jedenfalls ziemlich effizient überhört und springt 1966 einfach mit jobim, bonfa und gilberto in die usa, anstatt nachzuschauen, was z.b. den tropicália-vordichter torquato neto, der u.a. die texte für „pra dizer adeus“ und „vento de maio“ schrieb, in den selbstmord getrieben hat.

führt hier alles zu weit und bleibt viel zu sehr an der oberfläche. aber ich finde es schon wichtig, zwischen dem schwarzen orpheus und brazilectro daran zu denken, dass wir hier von einem staat reden, der über 20 jahre lang seine künstler zensiert und noch anders zum schweigen gebracht hat. danke dafür.

danach wurde gilberto gil kulturminister. und dionne warwick sagte: “ sie wollen mitr doch wohl nicht weismachen, dass die bossa nova nicht von burt bacharach erfunden wurde??“

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