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Anonym
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vorgarten
clasjazEs scheint so fern, in Ansehung des Horrors, des reingeputschten Horrors, der Niedertracht und der Infamie und der Ergötzung am Zuschinden der Körper, der Folter, dass man überhaupt noch traurig sein könne, geschweige sie kultig zu betreiben. Es wird ein Selbsterhaltungsreflex sein und vermutlich wird auch Paulo Fonteles noch getanzt haben, danach. – Bevor sie ihn erschossen haben.
ja, natürlich, aber hier reden wir von verschiedenen zeiten. die militärdiktatur in brasilien kann man nicht schönreden, das war ein folterstaat, von den usa unterstützt, damit sich nichts sozialistisches entwickelt, und von der (vor allem deutschen) industrie durchgepäppelt, während alle politisch engangierten künstler_innen, die die möglichkeiten hatten, ins ausland geflohen sind und erst in den 70ern wiederkehrten. der „kult der traurigkeit“ setzte in der kurzen, relativ stabilen und offenen kubitschek-zeit ein, genauso wie die reaktion der leichten formen, die eine andere art von traurigkeit vermittelten. wie gesagt, das dauerte alles nur kurz, aber es ist ohnehin problematisch, so ein riesiges land wie brasilien in eine zeit-narration zu stecken, solch eine vereinfachung kriegen leider nur diktaturen hin oder die sklaverei. heute ist das ja ein riesiges durcheinander, rohstoffreichtümer, von denen die bürger als letzte profitieren, korruption, viel dummes geld, das hauptsächlich glatte, weiße kunst als abschreibungsprojekte finanziert, eine der humansten rechtssysteme, was z.b. sexuelle minderheiten angeht und gleichzeitig die höchsten todesopferzahlen von transgendern in der ganzen welt. du hast recht, wenn du ein bisschen an der pop-nostalgie gegenüber der brasilianischen moderne kratzt, da gabs nicht nur die schöne traurigkeit der bossa und die utopischen häuser von niemeyer, aber es war vielleicht eine kleine kulturelle atempause, in der man überhaupt so etwas wie ein „offizielles“ konzept für schönheit und leichtigkeit entwickeln konnte, während der staatshaushalt bankrott ging. über das, was danach kam und natürlich nicht komplett alles auslöschte (jemand wie jorge ben konnte sich ja gut mit dem neuen regime arrangieren), muss man anders reden, dazu kann ich fonteles lesen, aber ich weiß das selbst schon aus den reportagen und poetischen verdichtungen von hubert fichte, der die schreie aus den folterkellern auch nicht mehr aus dem kopf bekam.
Das stimmt wohl, man kann eine Diktatur nicht schönreden, aber schamvoll verschweigen kann man sie, selbst von denen, die gelitten haben und gerade von ihnen, sonst wäre es keine Scham. Meine persönlichen Beziehungen laufen da eher nach und in Spanien; in Brasilien – und ein Land ist immer geografisch groß, die Gemüter unterscheiden sich oft von Haustür zu Haustür – mag es vergleichbar sein, weil die Diktatur und Sklaverei einebnet. Ich bin in den musikalischen Dingen viel zu wenig orientiert, auch darum danke für die Richtigstellung. On the other hand oder wie man das sagen soll, sind verschiedene Zeiten so etwas wie die „Verhältnisse“, die nicht so waren. Sie sind aber womöglich immer dieselben, sobald sich die Möglichkeit bietet.
Was aber ist eine kulturelle Atempause? Warum sollte die Kultur, die Musik, Zeit zum Luftholen brauchen? Ich meine die Kultur als Abstraktum, von der Du sprichst mit dem „kulturell“, obwohl Du sicher die einzelnen Menschen meinst. Das ist vielleicht die Aporie von Leben und Destruktion durch Macht, oder auch einfach nur Dummheit. Das scheint mir mehr und mehr der oberste Dachdeckelbegriff für Zerstörung zu sein, ob fröhlich oder geifernd.
Was Fichte betrifft, nun gut, nichts gegen ihn von hierorts. Aber Folterschreie zu hören und sie poetisch zu verdichten (wie bitte soll das dann gehen, vorgarten?) ist etwas anderes, als gefoltert zu werden. Und den Schrei aufzuzeichnen. (So kann man es auch nicht nennen.) Verhallen wird er ohnehin. Ich kann das nur wiedergeben, was mir im Fonteles-Band gesagt wird: Noch heute können die „Gedichte“ – und es sind eben keine, vor dreihundert Jahren hätte man sich mit „freien Rhythmen“ als Bezeichnung geholfen, dann kam die „Écriture automatique“ und irgendwo aus einem brasilianischen Folterbraus etwas Hingeworfenes, das nur in Großbuchstaben existiert, als ob die einfache Sprache nicht genügen könne und – allenfalls – noch ein Buchstabe dokumentieren könne.
Und ich bin in der wunderbar kuriosen Lage, den BFT gar nicht gehört zu haben, weil mir die Zeit für hinreichende musikalische Einschätzungen fehlt, aber eines mitzunehmen und hierher, ungehört, zu holen: Helen Mirrell mit Hall und Carter. In diesem spärlichen Sinn: Tausend Dank, friedrich.
Und gypsys große Dokumentation wird eine Überforderung mehr von meiner Seite sein, aber das weiß der gute Schuft.
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