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#02-06
dieser abschnitt handelt für mich von sanften saxofonen. könnte einer der experten für mich nochmal die unterschiedlichen charakteristika der einzelnen spieler/aufnahmen beschreiben? #05 hat für mich die meiste power, bzw. spielt bei diesem stück damit. bei #03 darf man an stan getz denken, bei #06 nicht? hat #04 nicht auch typische getz-quäker (2:12)? ist #01 ein alt? spielt der typ sonst nicht tenor? wechseln viele saxofonisten, haben sie oft ein haupt-horn?
Gerne! Ich hoffe, da sind nicht zuviele von der GEMA geblockte Videos dabei, ansonsten bitte um Rückmeldung und ich gucke nach Alternativen.
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#2
Hauptberuflich und ausschliesslich Altsaxer. Zur Doppelung: Tenor/Sopran ist relativ häufig, dazu bei Big Band-Musikern auch Tenor/Klarinette – alle sind in Bb gestimmt, d.h. man liest dieselben Noten (bzw. kann notfalls auch C-Noten lesen und einen Ganzton höher spielen), Alt und Bari sind in Es gestimmt (ebenso wie – Überraschung! – die seltene Es-Klarinette, es gibt auch die C-Klarinette, Alt-Klarinette, Bass-Klarinette etc., letztere ist wiederum relativ geläufig und auch in Bb gestimmt). Es hiesse beim Live-Transponieren eine kleine Terz runter, das kriegt man eher nicht hin … aber die Kombination Alt/Tenor ist wohl auch deshalb relativ selten, weil’s quasi innerhalb der Saxophone die andere Familie ist. Das C-Melody(-Saxophon), das wiederum sehr selten ist, bekanntester Exponent ist Frankie Trumbauer, ist in C gestimmt und liegt damit zwischen dem Alt und dem Tenor … was wiederum interessant ist, denn gerade bei „leichteren“ Tenorsaxophonisten, die eher das höhere Register favorisieren, ist ja manchmal der Vorwurf zu hören, sie spielen wie ein Altsaxophonist (z.B. bei Eddie Harris, aber durchaus auch bei einem Coltrane, der ja auch einen eher schlanken Sound pflegt). Trumbauer war wohl einer der quasi-Vorgänger von Lester Young, der wiederum in den späten Dreissigern (genauer ab 1936) mit Count Basie bekannt wurde und einen völlig anderen, schlanken Stil pflegte (der wiederum die ganzen „brothers“ prägte: Stan Getz, Al Cohn, Zoot Sims, Bill Perkins etc., aber auch einen prägenden Einfluss auf Charlie Parker hatte, ebenso wie auf Gene Ammons, Dexter Gordon, Sonny Stitt, John Coltrane und andere).
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#3
Hier sind wir in der gerade erwähnten „Brothers“-Ecke. Die Musiker spielten in der Sax-Section von Woody Herman, in deren Repertoire das Stück „Four Brothers“ (1947 von Jimmy Giuffre für Herman geschrieben, auf der Aufnahme ist er aber schon nicht mehr dabei) den einmaligen Sound dieser Section präsentierte: Herman am Lead-Alt, dazu dreimal Tenor und einmal Bariton:
Die Solisten (je 16 Takte): Zoot Sims (ts), Serge Chaloff (bari), Herbie Steward (ts), Stan Getz (ts) – Getz phrasiert sauberer als die anderen und hat definitiv den schönsten Ton (und Steward, der keine richtige Karriere machte, scheint sich zu verlieren). Die Breaks danach sind in der folgenden Reihenfolge: Getz, Sims, Steward, Chaloff. Die Klarinette stammt von Leader Herman selbst, und man beachte im Basie-artigen Shout-Chorus die tolle Schlagzeugarbeit von Don Lamond! (Es gab dann später auch LPs wie „The Brothers“ mit Cohn, Bill Perkins und Richie Kamuca und später „Four Brothers – Together Again“ mit den vier von der Originalaufnahme, also Cohn, Sims, Steward und Chaloff) und schon 1949 gab es Stan Getz and His Four Brothers (Five Brothers), später auf dem Long-Player „The Brothers“ veröffentlicht (Prestige 7022, Details hier – eine etwas lahme Angelegenheit).
Und wo wir gerade bei Herman sind, hier ist „Early Autumn“ aus derselben Zeit – der Track, mit dem Stan Getz zum Kinderstar wurde (das kurze Solo kommt gegen Ende):
Das ist jedenfalls die „Brothers“-Ecke, der fast alle weissen Tenorsaxer der Westküste (und stilistisch Verwandte aus anderen Gegenden wie Al Cohn aus Brooklyn oder eben Stanley Gayetski aus Philadelphia) in den vierzigern zuzurechnen sind (während der schwarze kalifornische Jazz, der in den Vierzigern eine Blütezeit erlebte, leider ziemlich verdrängt wurde).
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#4
Das ist ein Schmusetenor … der Übervater dieser Schule, die gar keine ist, ist Ben Webster, der wie kein anderer mit einer Ballade umzugehen wusste – „Stormy Weather“ von 1965, spät aus seiner Karriere, aber da war er noch sehr in Form:
Der eigentliche Vater dieser Schule – grosser Ton, viel Vibrato, ausspielen der Akkorde – ist Coleman Hawkins, seinerseits der Vater des Tenorsaxophons im Jazz (bis dahin eher im Circus daheim, auch Hawkins klingt in den 20ern teils noch sehr, sehr ruppig und flapsig). Hier sein bahnbrechendes „Body and Soul“ von 1939, sogar mit Noten zum Mitlesen (gerade erst entdeckt, sehr cool – die höchsten Töne ab ca. 2:40 sind übrigens auch keine ordentlich greifbaren mehr, mittlere Linie bei der letzten Seite der Noten):
Zum direkten Vergleich hier die ebenfalls grossartige Interpretation von Lester Young, mit seiner ganz anderen Herangehensweise: er phrasiert viel entspannter (Hawkins drängt nach vorn, Young lehnt zurück … wobei Webster, der klar zur Hawkins-Schule gehört, auch zurücklehnt), ist überhaupt nicht darauf aus, die Akkorde auszukosten und auszuspielen sondern spielt eher über sie hinweg, formt seine eigenen Linien, die natürlich „korrekt“ sein müssen, sich nicht mit den Akkorden des Klaviers beissen sollen (und wenn sie das mal tun und es sich nicht um einen schlichten Fehler handelt, sollte das eben eine gute Wirkung haben, aber in einer Ballade kommt das eher selten vor), aber die Wirkung ist eine völlig andere.
Sehr schön kann man all das auch hier hören, in der grandiosen Performance von „Fine and Mellow“ aus „The Sound of Jazz“, 1957 mit der späten Billie Holiday und dem späten Lester Young – die beiden waren „soulmates“ und haben in den Dreissigern irrsinnig schöne Musik zusammen gemacht … hier spielt „Pres“ (so Youngs Übername) nur ein kurzes, ziemlich minimalistisches Solo – man achte auf Holidays Mimik! – davor hören wir Webster und danach Mulligan (quasi ein „Brother“ auf dem Baritonsaxophon – er spielt dieses mit einem leichten Ton, der ihm wiederum den Vorwurf einbrachte, es wie ein Tenor zu spielen) und auch noch Coleman Hawkins. Da werden die Vorgehensweisen von Young auf der einen und Webster/Hawkins auf der anderen Seite sehr deutlich:
Der gesamte Solo-Reigen: Webster (ts), Young (ts), Vic Dickenson (tb), Mulligan (bari), Hawkins (ts), Doc Cheatham (t). Die Rhythmusgruppe: Mal Waldon (p), Danny Barker (g), Jim Atlas (b), Jo Jones (d).
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#6
Der Mann in #4 ist im Vergleich zum geradezu barocken Webster wohl etwas gradliniger – und das kann man dann mit #6 verknüpfen, wo noch einer der „Schmuser“ zu hören ist, der auch durch die Hawkins/Webster-Schule ging und damals in den frühern Sechzigern längst ein Veteran war, der schon gegen Ende der Swing-Ära schöne Small-Group-Aufnahmen gemacht hat.
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#5
Das hier ist nun wirklich interessant, denn vom Sound her hat der Herr hier einen gigantischen, voluminösen Ton zu bieten – also etwas, was man spontan mit der Hawkins/Webster-Ecke verbinden würde, nicht mit Young. Das ist aber eine Täuschung, denn seine Phrasen, seine Linien, gäbe es ohne Young wiederum nicht – er ist also eher ein Pres-Mann, aber mit einem anderen, sowieso sehr eigenen Ton.
Die Hawkins-Leute gerieten mit dem Bop in arge Bedrängnis, es gab mit Don Byas quasi einen, der zwischen Swing und Bop sein Ding machte, eine Hawkins ebenbürtige Virtuosität und Offenheit für die neuen Klänge an den Tag legte (Hawkins spielte ja auch mit all den Beboppern, Thelonious Monk hatte bei Hawkins einen seiner ersten wichtigen Jobs). Mit Benny Golson (bekannt z.B. von Art Blakeys Jazz Messengers aus dem Jahr 1958, vgl. „Moanin'“ auf Blue Note) oder Lucky Thompson (von dem wir es neulich eh ein paar Male hatten) gab es aber Musiker, die im Hard Bop bzw. schon im Bebop (Thompson) weiter einen Hawkins-Sound pflegten. Und Sonny Rollins war dann wiederum etwas dazwischen. Die Linie läuft wohl irgendwie von Young über Sonny Stitt (einer der seltenen Fälle, der Alt und Tenor zu gleichen Teilen spielte, ich bevorzuge ihn in der Regel am Tenor, wo er eigenständiger ist, am Alt ist er halt schon sehr nah an Charlie Parker) und Dexter Gordon, und da setzt dann auch der frühe Coltrane an, während Rollins eben wiederum vom Sound her zu Hawkins – und von der Konzeption und Souveränität und dem aus dem inneren kommenden Beat zu Louis Armstrong – zurückgeht, aber natürlich all die Neuerungen der Jahre danach berücksichtigt.
Zudem war Pres – was wiederum überraschen mag, wenn man ihn als den feingeistigen Meister der Leichtigkeit abgespeichert hat – der „original honker“ und DIE Quelle für das ganze Rhythm & Blues-Saxophon (das auch v.a. das Tenorsaxophon war, aber es gab auch Exponenten, die Altsax spielten, Earl Bostic, Eddie „Cleanhead“ Vinson oder natürlich Louis Jordan seien genannt). Aber es war eben Young, der die Quelle dafür war – auch bei einem vom Sound her klar Hawkins verpflichteten Mann wie Illinois Jacquet und seinem famosen Solo über „Flying Home“:
Hier spielt er das Ding ein paar Jahrzehnte später wieder … das war eins der Soli, das er nach der Plattenaufnahme auswendig lernen musste, weil die Leute es genau so hören wollten (Ben Websters Solo über Cotton Tail mit Duke Ellington ist auch so ein Fall – und geht durchaus auch in Richtung „honk“ … die Grenzen waren nie völlig dicht zuwischen den „Schulen“):
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Nochmal zum Technischen (vgl. #2 oben): die Klarinette hat ein „Zwischenregister“, das tiefe („chalumeau“) und das hohe verschieben sich von den Griffen her um eine Quinte, d.h. der Griff für C im tiefen Register ist der Griff für G im hohen Register … vielleicht erklärt das, warum in Big Band-Tagen gleichermassen Alt- wie Tenorsaxophonisten regelmässig auch Klarinette spielten, vielleicht hat das auch gar nichts damit zu tun, keine Ahnung, jedenfalls ist man quasi mit dem Konzept der Bb- vs Es-Stimmung vertraut, wenn man von der Klarinette her kommt … das Saxophon ist technisch einfacher, es gibt schlicht eine Oktavklappe (die eine am Bogen, der das Mundstück mit dem Hauptteil verbindet, man nennt ihn „Es-Bogen“ – oder „S-Bogen“? – , keine Ahnung warum) und die Griffe sind in der unteren und in der oberen Oktave identisch (und der Standard-Tonumfang deutlich kleiner als bei der Klarinette, wo man mit ordentlichem Ansatz auch in der Höhe recht einfach weiterkommt, beim Sax haben das sogenannte „Überblasen“ nur wenige wirklich im Griff, es wird eher mal als Stilmittel eingesetzt, ohne dass saubere Tonfolgen in dieser hohen Lage gespielt würden … es ist eher so, dass jeder seine paar Töne hat, die er sauber ansteuern kann und die halt einsetzt … wohingegen diese Technik bei der Klarinette – oder dem von der Lage her ähnlichen Sopransax – rasch nur noch schmerzhaft wird, Steve Lacy – das Video ist schon später und gemässigter – und andere haben das in den Siebzigern ausgeforscht, Evan Parker wäre da auch noch zu nennen, der unglaublich tolle Solo-Aufnahmen am Sopransaxophon gemacht hat).
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Und nochmal zu den Tenorsaxophonen … das mit den „battles“ fing ja früh an, es gibt die legendäre Story, als Young gegenüber Hawkins siegreich geblieben sei (den Übernamen „the Pres“, also „president“, hat ihm Billie Holiday verpasst, die er wiederum „Lady Day“ nannte) usw. Das war auch das Konzept hinter den späteren „brothers“-Aufnahmen oder der tollen Combo von Al Cohn und Zoot Sims, die natürlich nicht nur eine Battle um die andere fochten sondern auch perfekt zusammenpassten. Aus der anderen Ecke gab es z.B. Eddie „Lockjaw“ Davis (der reisst dein Herz raus und isst es roh, wenn du nicht aufpasst!) und Johnny Griffin (der auch in mancher Hinsicht an Hawkins anknüpfte, Lockjaw sowieso), oder Sonny Stitt (der wohl grösste Kombattant unter den Jazzmusikern) und Gene Ammons. Hier ein schönes Beispiel für ein friedliches Treffen von vier Giganten an einem Festival in den Nierlanden in den Siebzigern – wir hören Illinois Jacquet, Dexter Gordon, Buddy Tate und Budd Johnson (mit Hank Jones-p, Gene Ramey-b, Gus Johnson-d):
Derjenige, der dich hier auffrisst, ist Budd Johnson – der im Blaumannt mit den Hosen in den Achselhölen … grossartig der Moment ab 4:20, als er seinen „roll“ spielt und Illinois Jacquet dahinter steht und sagt „what?“, sich abdreht und danach grinsend weiter zuhört (und Buddy Tate im hellblau-weissen Tischtuch-Jacket applaudiert am Ende von Johnsons Solo). Das hier sind drei alte Hawkins-Männer (wobei eben Jacquet ohne Young auch nicht ginge), die natürlich alle ihren eigenen Stil gefunden haben, sowie der etwas jüngere Gordon, der eben einen moderneren, schlankeren Stil formte, der wiederum auf Young beruhte. Aber das alles spielte in den Siebzigern keine so grosse Rolle mehr, wie man sieht – es gibt vom selben Konzert noch weitere Auszüge in der Tube, ich liebe sowas!
Hier noch eins, Arnett Cobb 1982 mit „The Nearness of You“ (ab 1:41 zitiert er „What a Diff’rence a Day Makes“, eine Minute später zitiert er eins dieser Evergreens … und prompt kommt danach die Antwort: „I hear you, I hear you man!“):
Und klar, das alles ist grosses Macho-Kino und mir in der Hinsicht auch wieder sehr fremd … aber endlos faszinierend, gerade das, was einfach scheint, wenige Töne, einfache Phrasen … aber die Art und Weise, wie jeder Ton geformt wird, wir da immer auch ganz selbstverständlich mit kleinen Verschiebungen (in der „ernsten“ Musik würde man von Mikrotönen reden … und in der Hinsicht auch eine Notation wie oben von Hawkins‘ Solo über „Body and Soul“ problematisch bzw. nur eine Hilfe, eine Annäherung – das alles lässt sich eben nie ganz in unser westliches Musikkonzept zwängen.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba