Antwort auf: Blindfold Test #22 – Friedrich

#10190621  | PERMALINK

vorgarten

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ach, was solls, ich fang mal an, bevor es wieder frühling wird.

#1 klassiker bzw. der einstieg zu einem klassiker, der ein wenig über den tellerrand (detroit) schauen möchte, dann aber bei hollywood-sandalenfilm-themen hängen bleibt, wogegen ich nicht das geringste habe. eine chinesische flöte (wie man hört: nicht einfach zu spielen), alice coltranes halbbruder an einem afghanischen saiteninstrument, das dunkel schillernde klavier eines bebop-veteranen und ein bisschen geschelle vom drummer. was dabei entsteht, kann ich kulturell nirgends anschließen. die geloopten 2 akkorde klingen eigentlich wie eine coda, auf der man gemeinsam hängen geblieben ist, und der pianist nutzt noch mal das modale potenzial, um einen kleinen abendspaziergang zu machen. würde der drummer mitspielen, wäre es wohl eine art calypso geworden. aber sie belassen es in vielerlei hinsicht mit andeutungen, was ich hier sehr, sehr schön finde. witzig, die abwärtsarpeggien des pianisten im thema – also doch hollywood und keine expedition.

#2 kenne ich auch, es bleibt behauptet fernöstlich und die band war sogar auch da. auch hier kein billiger exotismus. ganz soft kommt diese berühmte jazzboygroup daher, lässt das thema mit barocken umspielungen schluchzen, ohne es zu beschweren. auch hier minimaleinsatz des drummers. ganz toll, wie ab 2:28 das klavier vom barock in den japanischen folk findet. dann kommt natürlich noch blues. und chopin. und der hauchzarte kontrapunkt des altisten. nicht mein lieblingsstück von diesem schönen album, ich verstehe aber die wahl.

#3 das ist für mich etwas neues, glaube ich. ich identifiziere aber relativ schnell jemanden, über den du immer wieder mal etwas schreibst hier. oder? und schon wieder: warum weckt niemand den drummer auf? hier finde ich es ziemlich schade, weil der solide (oder auch: langweilige) bass dadurch im klangbild etwas überpräsent ist. minimalistisches trompetensolo, perfekt durchgeatmet, etwas nölig-gepresst in den tiefen lagen, aber dadurch unverkennbar. gehauchter individualismus. samtiges tenor dazu, elegantes klavier, das schöne thema. mehr braucht es hier nicht. schön. aber auch ein bisschen sehr stark abgehangen. ich brauche kaffee.

#4 oder bongos und congas, damit ich nicht vor schreck über einen schlagzeuger vom stuhl falle. ich glaube, ich werde langfristig auf einen höhepunkt vorbereitet. mal schauen. erstmal komme ich nicht auf den standard, was mich schon mal nervt. und wohin ist jetzt das vibrafon verschwunden? ha! „out of nowhere“! das gibt es auch vom herrn in #3, hier ist es ein alter meister aus der samtkatzentenorfraktion, mit einem äußerst geschmackvollen pianisten aus einer wohl ziemlich edel ausgestatteten hotellobby und das ganze ziemlich out of afro-cuba, in mehrerer hinsicht. ganz tolles verzierungssolo. passt auch zur „eingängigen“ melodie, die, wie wiki weiß, „von zahlreichen wiederholungen lebt“. das schattenvibrafon wacht kurz auf. just in diesem moment fängt meine junge nachbarin (8) an, schlagzeug zu üben. normalerweise denke ich dann, das haus stürzt ein – zu diesem stück hier passt es (mir gerade) aber.

kopfhörer auf und

#5. dezentes getrommel auf dem snare-rahmen – wow, danke! weiß gerade wieder nicht, was das für ein rhythmus ist, der auf dem schönen thema liegt, aber es geht ja bald in klassischen swing über. tenorist ist auf unaufgeregte weise ganz toll, jeder ton entschieden moduliert, ohne anzugeben. alles hüpft auf zehenspitzen. schöne aufnahme auch, mit raum und elastizität. ist das lucky thompson, deine jüngste entdeckung? kenne ihn ja selbst noch kaum, könnte aber passen. die athmosphäre stimmt, mehr will da auch niemand, ein letztes dehnen und strecken, langsames ausglühen. der bassist bleibt am längsten und schickt dem letzten gast noch einen akkord durch die tür hinterher.

#6 toll. der bossarhythmus kommt vom puertoricanischen drummer, der wahnsinnston von einem menschen, der eine frankokanadische stadt im namen trägt, und das thema kommt aus böhmen (und hat sich spektakulär und gegen jeden kulturpurismus als spiritual etabliert). der gitarrist spielt wie üblich besser solo als begleitung. ich liebe dieses album wohl genauso wie friedrich, deshalb kann ich wenig neues dazu sagen. auch hiervon bekomme ich aber keine billige gute laune – das thema ist ja ernstgemeint und die aufnahme ein schwanengesang. soweit ich weiß, wird die komposition auch häufig auf afroamerikanischen beerdigungen gespielt…

#7, #8, #9 drei versionen über den karvenalsmorgen. meine liebslingsversion kommt aus japan, die ist natürlich nicht dabei. hier haben wir es zunächst mit nachtvogelgeräuschen zu tun und einem klassisch ausgebildeten gitarristen. es könnte der originalinterpret des filmsoundtracks sein, er singt es wehmütig, ohne schmalzig zu werden. gitarristisch wäre da noch einiges drin, vor allem in richtig flüssigkeit, dafür kommt aber eine tempoverschärfende coda. die zweite version kommt auch ohne eigentliche bossa-nova-begleitung aus, es ist aber wohl generell schwer, die komposition wie eine klassische bossa zu spielen (obwohl ihr ganzer kontext darauf hinausläuft). ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll – es ist recht einfach gespielt, am ende gibt es aber ein paar fehler und allgemein wirkt es etwas auswendig gelernt und steif. version drei ist garantiert die weibliche originalbesetzung. tolle stimme, viele gefühl, auch dann, wenn sie nur summt. natürlich viel pathetischer als die gilbertos und jobims, darin aber auch ganz toll. ihr sind bestimmt einige in die unterwelt gefolgt.

#10 bleibt in brasilien. und das hat mich kurz wahnsinnig gemacht, weil ich die stimme der sängerin erkannt habe und ein ganz großer anderer sänger angekündigt wird – beide hätte ich nicht zusammengebracht, weil ich nicht wusste, dass sie schon jahrgang 1966 ist und sie somit wirklich zeit zur zusammenarbeit hatten. der herr ist eines der größten irrlichter der brasilianischen musik, ein flamboyanter star, der in brasilien rockmusik etabliert hat, und das (typisch brasilien) aus einer dezidiert queeren perspektive. karriereabbruch 1990, und was, da abbrach, hört man hier, ein paar jahre vorher. beide machen auf bossa nova, und das ist total toll. als sängerin hatte ich die dame bisher etwas unterschätzt, aber das liegt auch daran, dass sie schwierige (weil: zu gute) ausgangsvoraussetzungen hatte. schöne überraschung, tolles stück!

#11 gitarre solo. großer, schöner halbakustischer ton. jetzt kann man natürlich voll daneben greifen, deswegen wage ich gar keine spekulation darüber, wer das ist. wir kennen ihn alle, oder? ich hätte eigentlich wes montgomery gesagt, aber von dem gibt es nur zwei soloeinspielungen, soweit ich weiß. jedenfalls ist das ganz großartig hier, im wechsel von single notes und akkorden. in der kürze auch ein schönes statement.

#12 ah, madame muss natürlich auch noch vorbei schauen. der große, pathetische closer eines tollen albums. und natürlich wurde der fantastische drummer der session vorher nach hause geschickt. als schlussgeste finde ich das jetzt recht dramatisch, aber ich hätte nicht gedacht, dass ein quasi schlagzeugloser bft so abwechslungsreich ausfallen könnte. eingeschlafen bin ich jedenfalls nicht, obwohl es nacht- oder morgengrauenmusik ist. wie in der geschichte des manha de carnival spürt man bei den meisten sachen, dass es vorher heiß zuging und alle verbrauchte energie noch im raum ist. ich warte jetzt, bis es kühler wird und stelle mir vor, ich hätte meinen gefrierschrank doch nicht abgetaut und es lägen noch einwürfel darin.

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