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Ich hatte weiter oben etwas über eine Compilation mit Aufnahmen, die Chet Baker in den Jahren 1955-56 in Paris für das Barclay Label gemacht hat geschrieben. Da ich diese Aufnahmen sehr mag, habe ich mir das ganze in einer erweiterten Ausgabe – anständig auf Tonträger, mit anständigen Cover und Booklet – besorgt.
Chet Baker in Paris – The Complete Original Recordings (1954-1956, Compilation 2012)
Der Titel ist etwas irreführend: der wahre Komplettist wird sich darüber beklagen, das es hier so gut wie keine alternate takes gibt und selbst ich wundere mich darüber, dass ein Stück von der oben genannten short version (Everything Happens To Me) hier fehlt. Dafür gibt es kurioserweise aber 5 Aufnahmen, die Chet vor bzw. nach seinem Besuch in Paris in Los Angeles gemacht hat, darunter die Gesangsversion von My Funny Valentine.
Der Qualität der Musik tut das aber keinen Abbruch. Auf den Pariser Aufnahmen klingt Chet so jung und frisch, ja unschuldig, verträumt und melancholisch, dass diese Musik für mich eine schon erotisch verführerische Aura hat. Sicher liegt auch eine Romantik allein schon in der Phrase „in Paris“ und dem Umstand, dass der Hintergrund von Chets Parisbesuch auch eine Frauengeschichte war. Und dann gibt es wiederum die Tragik, dass der Pianist von Chets Band Dick Twardzick in Paris eine frühen und tragischen Drogentod starb.
Es gibt hier verschiedene Besetzungen, meist im Quartett mit Chets amerikanischer Band oder einheimischen Musikern, die offen gesagt meist nicht besonders auffallen, sondern vor allem eine mannschaftsdienliche Leistung erbringen. Das ist hier aber auch gut so, denn Chet Bakers Ton auf der Trompete ist hier klar die Hauptzutat. Dazu gibt einige Stücke in größerer Bläserbesetzung, die auch ganz wunderbar sind.
Angesichts der Fülle des Materials hatte ich jedoch einen Anfall von Kulturpessimismus, wie er mich auch schon bei der Complete Thelonious Monk Blue Note Singles Compilations beschlich. Chet Baker in Paris enthält auf 2 CDs 36 Tracks mit mehr als 2,5 Stunden Musik. Nach spätestens einer Stunde geht es mir so, dass die Musik für mich im Hintergrund verschwimmt und nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. Entsprechend lange brauchte ich, das alles überhaupt mal bewusst zu hören. Ursprünglich wurden diese Aufnahmen auf mehreren LPs und EPs veröffentlicht, sicher eine Dosierung, die leichter zu konsumieren ist und der Musik auch besser gerecht wird, denn dafür wurde sie gemacht. Mehr ist eben doch nicht mehr ( @brandstand3000 ). Die heutige fast beliebige und sofortige Verfügbarkeit fast sämtlicher Musik hat für mich auch Nachteile. Und ich bin noch nicht mal einer, der Musik streamt.
Ich versuche mir gerade playlists zu zusammenzustellen, die die original Reihenfolge der ursprünglichen LPs rekonstruiert. Irgendwie führt das aber auch schon wieder diese Compilation ad absurdum.
Dennoch: Durchgehend erstklassige Musik, die ich jedem Freund des frühen Chet sehr ans Herz lege. Apropos früher Chet vs. später Chet. Ich sehr da keinen Widerspruch, nur unterschiedliche Reifegrade und ein Teil des Reizes besteht ja gerade aus dem Spannungsverhältnis zwischen beidem.
„Weniger, aber besser“ (Dieter Rams)
zuletzt geändert von friedrich--
“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)