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So höre ich das:
Nach den vorab veröffentlichten Tracks rechnete ich schon damit, dass sich The XX auf ihrem neuen Album in Richtung tanzbarer Elektronik entwickeln. Dennoch beginnt I See You mit einer Überraschung: Sind das auf dem ersten Stück Dangerous etwa Bläser? Wie eine Fanfare, aber der Sound ist so manipuliert, dass sie wie synthetisch klingen. Und dann setzen beats ein, die direkt auf den dancefloor zielen. So war das nicht zu erwarten. Offenbar hat Jamie xx hier deutlichen Einfluss als Elektroniktüftler und Produzent ausgeübt. Das klingt optimistisch und selbstbewusst: „They say we‘re in danger / But I disagree / If proven wrong / Shame on me / But you‘ve had faith in me“.
Say Something Loving ist ein süßer Popsong, am Anfang von Lips dann ein sample des norwegischen Gesangstrios Mediaeval (das auf ECM veröffentlicht) „Just your love / Just your shadow / Just your voice / And my soul“, dazu Klänge wie herabfallende Wassertropfen. Es wird also athmosphärischer, beinahe sakral. A Violent Noise beginnt wie ein konventioneller Song, da ist der typische The XX-Gitarrensound, bis Jamie die Gitarren elektronisch manipuliert und schichtet, den Effekt auf- und wieder abbaut, so dass eine hoch dramatische Wirkung entsteht. Die folgenden, langsameren Stücke springen einem weniger direkt ins Ohr, dafür sind sie zu sehr zurück genommen, erfordern sogar etwas Geduld, leben vor allem vom Gesang von Romy Madley Croft und Oliver Sim und dem langsamen Spannungsaufbau. Vielleicht fehlt da auch etwas die Prägnanz. Brave For You ist aber ganz großes Kino: Jamie baut einen riesigen Klangraum auf und Romy hat keine Angst vor Pathos: „I will be brave for you / Stand on a stage for you / Do the things I‘m afraid to do / I know you‘d want me to“. Die Single On Hold ist dann wieder ein dance track, als Höhepunkt ein irritierendes sample von Hall & Oates, das das Stück fast wie R&B klingen lässt. I Dare You legt mit treibenden beats nochmal nach. Abschließend werden wir mit dem kleinen Epilog Test Me wieder runtergeholt und entlassen. Im Verlauf des Albums haben wie dann alles vom seligmachenden Dance Pop bis zu zu Tränen rührenden Balladen gehört.
Auf I See You machen The XX ein großen Sprung nach vorne, bleiben aber immer The XX. Da ist die minimalistische Instrumentierung, der durchdacht knappe Aufbau der Stücke, der understated gefühlvolle Duett-Gesang von Romey und Oliver und hier und dort schimmern sogar die vertrauten The XX-Gitarren durch. Aber The XX schütteln hier nicht nur den 80s Retro-Sound ab, sie emanzipieren sich auch von Post Punk und Indie, umarmen stattdessen lustvoll Club Culture und Electronica und kommen damit ganz im Hier und Jetzt an.
Ein wärmender Sonnenstrahl im ansonsten so kalten und grauen Januar. Gute ****.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)