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special attraction – mondays at slugs‘ (1966-72)
in der nummer 242, east 3rd street, zwischen avenue b und c, ist heute eine kleine bakery, “rossys”. die straßen sind sauber, hell und voller leute, die es sich leisten können, dort zu wohnen, und keinen ärger machen. in den 1960ern sah es dort natürlich ganz anders aus, so weit im osten (nur einen block weiter und man ist am east river). dreckig, dunkel, 1-raum-wohnungen mit bad in der küche für 50 dollar, eine armer, multikultureller bevölkerungs-mix, eine drogenszene, die langsam von leichten sachen auf speed und heroin umsteigt. „niemand lief da abends einfach so rum“, erzählt jerry schultz, ein hippie, dem 1964 vom leiter seiner gurdjieff-gruppe aufgetragen wird, etwas soziales und interaktives zu machen. er beschließt, mit seinem partner robert schoenholt für wenig geld ein zum verkauf stehendes armenisches restaurant zu übernehmen und einen club daraus zu machen.
gentrifizierung im east village, 1964: erst kommt die drogenszene, dann ihre besten kunden, die jazzmusiker, schließlich die bohème. der laden ist auf rustikal zurück gebaut – ein langer schlauch, die backsteine liegen frei, ein paar große lampen geben nur wenig licht, ganz hinten eine vergleichsweise große bühne, eingangstür und –schild machen auf western. platz haben offiziell 75 besucher_innen, es sind oft doppelt so viele. in den paar momenten zwischen aussteigen aus dem taxi und betreten des clubs konnte man überfallen werden. touristen bleiben da erstmal weg, u-bahn-haltestellen sind weit weg.
dass aus dem schneckensalon (bei gurdjieff waren „slugs“ dreihirnige wesen, „saloon“ durfte der club bald nicht mehr genannt werden, also bald „slugs‘ in the far east“) einer der wichtigsten jazzclubs in new york wurde (zumindest zwischen 1967 und 1972), ging vor allem auf die musiker selbst zurück, die dort um auftrittsmöglichkeiten baten (einer der ersten war jackie mclean, ohne kabarettkarte, also am eintritt beteiligt, und es kamen 200). lange zeit bleibt es ein ort für insider, für musiker und ein informiertes publikum. mit der die gegend dominierenden gang, der „nunchaku brotherhood“, hat man sich geeinigt, und die drogenhändler sind natürlich trotzdem jede nacht vor ort. der musikalische kurator (jim harrison) ist schwarz, eine seltenheit in new york mitte der 60er. alle damals wichtigen musiker treten auf: miles ist einmal die woche da, entdeckt dort jack dejohnette und jarrett, deren arbeitgeber charles lloyd wird dort groß (resonance hat gerade frühe aufnahmen aus dem club veröffentlicht), mingus, mclean, monk lässt sich häufig von pannonica hinfahren und spielt, wenn die gebuchten bands aufgehört haben, lee morgan bereitet dort sein comeback vor, für ornette coleman erhöht man ausnahmsweise den eintrittspreis, cecil taylor beschädigt spielend den angeblich so tollen steinway (larry willis erinnert sich dagegen an ein ziemlich schlechtes klavier). im schlepptau die schwarzen künstler, maler, schriftsteller, baraka mehrmals in der woche, aber auch salvador dalí, leary und ginsberg, dann natürlich die jazzkritiker. eine kellnerin bedient mit umgehängter lebender boa constrictor. ein soziales experiment, east village underground, far out von dienstag bis sonntag.
in diesem underground gibt es einen „sub-underground“, und der findet regelmäßig ab märz 1966 an montagen zwischen 21 und 4 uhr statt. das arkestra, das sonst keinen ort in new york findet, wird zur special attraction, wenn ansonsten in der stadt die lichter ausgehen. schultz hat keine intimen erinnerungen an ra, obwohl dieser und seine männer zwischen 1966 und 1972 fast jeden montag auftreten (ab 68 reisen sie mit dem zug aus philadelphia an). sonny sei „kein mixer“ gewesen, sehr ruhig. die musiker hätten niemals mit den anderen gespielt, sie waren ein kult, sehr freundlich, sehr ernst. sie hätten halt ihr ding gemacht. und: niemals drogen genommen, völlig merkwürdig an diesem ort. meistens seien sie früher am tag gekommen und hätten geprobt – also manchmal 15 stunden am stück gespielt. aber sub-underground hieß auch: es dauert, bis die kritiker auch mal am Montag vorbeikommen. und diese wundern sich über sachen, die wir heute längst der diskografie abgelesen haben: elektrifizierte instrumente! kollektivimprovisationen! swing-nummern dazwischen! plötzlich wird gesungen! musiker bewegen sich, tanzen, haben merkwürdige kostüme an! michael zwerin findet in der village voice, das alles sei „ugly and beautiful and terribly interesting“, auch john wilson von den new york times wundert sich und weiß nicht, was er davon halten soll. stefan brecht schreibt in der vergreen review, der merkwürdige mix aus swing-big-band-formeln und schreiender kakophonie sei ausdruck von „bad taste“, aber möglicherweise etwas, was uns in die zukunft führe, indem es uns unsere historizität deutlich mache. auf keinen fall sei sun ra „ironisch“.
ra hatte sich geärgert, als er in einem plattenladen fletcher-henderson-aufnahmen unter dem titel „a study in frustration – the fletcher henderson story“ gebündelt sah. er transkribierte daraufhin henderson-aufnahmen für seine band, inklusive der fehler, als wertschätzung. dem henderson-veteranen russell procope fiel die kinnlade herunter, als er im slugs‘ gilmore einen seiner eigenen fehler reproduzieren hört, von einer aufnahme aus 1933. das publikum erlebt die band als ultimativen ausdruck szenischer schrägheit, auf manche macht sie aber auch einen leicht beunruhigenden eindruck, mit ihren dunklen brillen und den merkwürdigen kostümen – szwed findet, dass sich das arkestra, ironie hin oder her, von allen showmanship-konventionen absetzte, die weiße von schwarzen künstlern verlangten – ohne provokant zu sein oder bescheiden. sondern „blues people“ (baraka), in ekstatischen zuständen des sprechens und tanzens, das, was später auch hendrix und james brown vorführen würden.
das ensemble selbst wächst. baraka vermittelt neue musiker mithilfe des HARYOU ACTs, einer hilfsorganisation für kreative schwarze jugendliche. leute kommen vorbei und spielen mit. der ehemalige hindemith-schüler james jackson, ein oboist und hornist, hat einen antiquitätenladen in der nachbarschaft, war auch für das schild und die geschnitzte tür des slugs‘ verantwortlich, darf mehr und mehr mitspielen; übernimmt schließlich die riesige trommel von black harold, mit der die auftritte des arkestras gemeinhin begonnen werden und nennt sich „jacson“. später kommen sänger_innen und tänzer_innen dazu. manchmal wird ein film auf die band projiziert.
die aufnahmen, die es vom arkestra aus dem slug’s gibt, sind von 1972; zu finden auf einer 6-cd-box von transition. das ist schon weit in ihrer philadelphia-phase, in einer völlig anderen besetzung als 1966. und aus der schlussphase des clubs. lee morgan war dort im februar von seiner freundin erschossen worden, die betreiber hatten keine lust mehr auf die immer heroinverseuchtere und beschaffungskriminelle nachbarschaft, konnten sich aber nicht leisten, in soho einen club mit innovativem jazz aufzumachen. also war im august schluss. es gibt aufnahmen aus dem slugs‘ von mingus, lloyd, tolliver und natürlich ayler. aber so richtig abbilden, wofür dieser club stand, können sie wohl kaum.
hier ein einziges, schlechtes, foto vom arkestra im slug’s (im booklet der 6-cd-box zu finden):
White decorators interested in Art,
Black file clerks with theatrical ambitions,
kids making pharmaceutical revisions
in journals Comp. instructors urged they start,
the part-Cherokee teenage genius (maybe),
the secretary who hung out with fairies,
the copywriter wanting to know, where is
my husband? the soprano with the baby,
all drank draft beer or lethal sweet Manhattans
or improvised concoctions with tequila
in summer when, from Third Street, we could feel a
night breeze waft in whose fragrances were Latin.
(anfang eines gedichts von marilyn hacker über das „old reliable“, eine bar, die sich 1966 schräg gegenüber vom slugs‘ befand)
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