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tour of new york state colleges, mai 1966
[nachdem ich heute den ganzen tag mal wieder sun ra gehört und einige blogeinträge hier repariert habe, mache ich hier mal ein bisschen weiter.]
wir sind bereits im jahr 1966 und damit schon in der schlussphase des new-yorker arkestras (der umzug nach philadelphia erfolgt im herbst 1968). und plötzlich, im märz, stellt sich eine kleine stabilität ein: der underground-club „slug’s saloon“, die 3rd street von ras „sun palace“ ein paar blocks weiter östlich runter, reserviert dem arkestra den montag abend, an dem ansonsten die jazzclubs geschlossen haben. daraus wird ein regelmäßiger gig, der auch von philadelphia aus noch oft wahrgenommen wird, bis der laden 1972 schließt (bald nachdem lee morgen dort erschossen wurde). dazu später.
eine andere gelegenheit zur selbstinszenierung ergibt sich im mai. stollmans ESP-label erhält einen kleinen zuschuss des new york state council of the art für eine tour seiner new-thing-„stars“ durch 5 colleges im bundesstaat new york. stollman bringt ran blake, burton greene, patty waters, giuseppi logan und das arkestra auf den weg und nimmt alle auf: COLLEGE TOUR von patty waters ist ein interessantes produkt der tour (sie wird von greene, blake, logan und anderen – dave burrell, scoby stroman – begleitet), greenes trio-aufnahme ON TOUR ein weiteres; vom arkestra wird 1969 ein album namens NOTHING IS… veröffentlicht, mit insgesamt 7 stücken und einem tollen cover, auf dem ein porträt von ra von einer flamme überblendet wird. 39 minuten musik von einem auftritt in der st. lawrence university, potsdam am 18. mai. archivar michael d. anderson hat sich die rechte an den bändern gesichert und 2010 COLLEGE TOUR VOL 1 – THE COMPLETE NOTHING IS… herausgebracht, als doppel-cd mit 90 minuten bonusmaterial – das komplette erste set, dazu teile des zweiten und des soundchecks. (jetzt bloß nicht nach vol. 2 fragen, ist natürlich nie erschienen.)
„sun ra and his band from outer space will entertain you now“, wird als space chant angestimmt, gleich nach der vorstellung durch burton greene und einem cluster-solo von sun ra. die band aus dem weltraum besteht aus ra, ali hassan und teddy nance (tb), marshall allen (as, fl, picc, ob), john gilmore (ts, perc), pat patrick (bs, fl, perc), robert cummings (bcl, perc), james jacson (fl, log drums), ronnie boykins (b, tuba!), clifford jarvis und roger blank oder jimmy johnson (dm), außerdem ist carl nimrod dabei und spielt gong und das „sun horn“.
das programm beginnt eigenartig verhalten, mit freien einzelauftritten der bandmitglieder. aber spätestens ab der unter 2 minuten dauernden „sattelites are spinning“-nummer geht es ab. altes zeug aus dem chicago-repertoire ist zu hören, „velvet“, „space aura“ und „advice to medics“ (auf der original-lp weggelassen), neben jüngeren sachen, abstraktionen, sketche, melodien, kollektivimprovisationen, offensichtlich von ra durch zurufe angesteuert. wie sich erst auf dieser archiv-veröffentlichung herausstellt, spielt die band ein potpourri aus allem, was sie kann. in den aufgewärmten chicago-nummern gibt es viel klassischen solo-raum, der paritätisch aufgeteilt wird. in der zweiten hälfte des ersten sets kommt dann das klangfarbenschöne „exotic forrest“ mit marshall allen an der oboe, bevor es quasi ein medley aus space chants gibt (ganz toll: „theme of the stargazers“, eine völlig verloren-entrückte seufzernummer). es folgt der höhepunkt (und opener von NOTHING IS…), „shadow world“, mit freiem beginn, boppiger weiterentwicklung, einem unfassbar tollen gilmore-solo (quasi im trio mit jarvis und boykins, ra zieht sich nach einigen anfeuernd-störrischen blockakkorden zurück), ein 10-minütiges arkestra-drama im freien flug, dabei immer mehr intensität erzeugend, bis ra gilmores ermüdung aufgreift und ins thema zurückleitet. das ende des sets bilden kürzestschnipsel aus „imagination“ und zwei space chants, man trifft sich, nach zwischenaufenthalt auf dem jupiter, auf dem mars wieder. (großer applaus aus dem publikum.)
im zweiten set passiert alles viel organischer. lange, im schreitrhytmus angelegte versionen von den sich drehenden satelliten und den weltraumreisen lassen platz für tolle soli (immer wieder auch von den drummern), aber es bleibt der eindruck eines gesamt-tripps, der mehr und mehr die konzertsituation ausblendet und auf eine eigene umlaufbahn gerät. das arkestra ist plötzlich ganz bei sich. dräuende, anschwellende bläsersounds begleiten ein musical-klavier, eine basslinie macht sich selbstständig, drummer fallen – von allen anderen ignoriert – in einen swing, alle haben plötzlich den persilschein, sich gehen zu lassen, ohne dass die anderen eingreifen. das publikum wird unsichtbar. wenn der leader sich mal zu wort meldet, hat das eine selten so verspürte autorität, seine soli sind ein trip für sich. am ende, in „it is eternal“, hängt er kurz jarrettmäßig auf einem vamp fest, den boykins aufgreift, irgendwo, verhallt, eine sparsame percussion, alles hält den atem an, dann leiert das band. ein fast sinfonisch organisierter bläsersatz übernimmt irgendwann, geheimnisvolle sounds – dann plötzlich „state street“ mit knarzendem baritonostinato, wir sind plötzlich in new orleans und haben uns einer marching band angeschlossen, ein messerscharf verzahnter bläsersatz. ist das das ende des auftritts?
es gibt einen schnitt und eine angehängte zweite version vom „exotic forest“, da sind wir wieder im filmscore, gips-kulissen und mit schlechten, verführerischen, leichtbekleideten schauspielern. allens oboe deliriert, die drums machen ihr eigenes ding, ein indischer elefant fällt aufs klavier. glöckchen klingeln. soundcheck in hollywood. stromausfall. der schlangenbeschwörer nickt ein. die cobra nimmt reißaus. das publikum applaudiert im dunkeln. das band bricht ab.
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