Antwort auf: 2016: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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gypsy-tail-wind
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Unerhört! 2016 – GZ Riesbach, Zürich – 23.11.

Dieses Jahr liegt ein extensiver Unerhört-Besuch leider nicht drin (und das Programm verlangt ihn auch nicht so sehr wie letztes Jahr), aber zwei Abende und damit zwei Tenorsaxophonisten lasse ich mir nicht entgehen.

Gestern spielte das Trio Ellery Eskelin-Christian Weber-Michael Griener. Die drei hatten sich vor ein paar Jahren kennengelernt, 2011 in Willisau gespielt (es gibt Auszüge auf Youtube), später in New York ausführlicher zusammen gespielt, die gemeinsame Liebe zu alten Standards entdeckt … und das heisst in diesem Fall wirklich alt, „Moten Swing“ ist das neueste Stück des Programms, das gerade bei Intakt erschienen ist (die CD wurde Anfang 2016 eingespielt, ist auf 2017 datiert, war gestern aber bereits käuflich zu erwerben: „Sensations of Tone“, Intakt 276, 2017) und gestern gespielt wurde. Auch Stücke von Jelly Roll Morton oder Fats Waller standen auf dem Programm, sie wurden im Wechsel gespielt mit freien Stücken, die wohl teils ein wenig zurechtgelegt waren, in eine bestimmte Richtung gehen sollten.

Jedenfalls war das ein eindrückliches Set, sehr zurückhaltend und völlig unprätentiös gespielt. Zudem rein akustisch, was ja heute leider eine seltene Kunst ist. Weber hat am Kontrabass einen Ton, der tragend und voluminös genug ist, Griener spielt ein Drum-Kit mit kleiner Bass-Drum (sehr dünn, nur so 25 cm zwischen den Fellen) und zwei Snares (statt eines oder zweier Toms auf der Bass-Drum war da noch eine Snare, ich war mir nicht sicher, ob daneben nicht sogar noch eine dritte oder doch noch ein flaches Tom war). Grieners Spiel ist enorm transparent, das hebt Eskelin auch in seinen Liner Notes im Booklet der neuen CD hervor. Eskelin war wahnsinnig eindrücklich, spielte sowohl in den freien Stücke wie in den Standards wunderbare Soli mit grossem Sinn für die weiten Bögen, die Gesamtarchitektur, voller kleiner Verfärbungen, Mikrotönen, alternativen Griffen und sowas, aber auch hart swingend und zugleich total entspannt. Das Zusammenspiel des Trios war klasse, das war alles mit einer Nonchalance und auch mit grosser Bescheidenheit gespielt, leise und unaufgeregt, aber gleichzeitig mit höchster Dichte, grosse Konzentration bei lockerer Gelöstheit.

Danach folgte ein zweites Set mit Hans-Peter Pfammatter & Big Band der Hochschule Luzern-Musik. Nach dem bezaubernden Trio hatte ich etwas Bedenken, überhaupt dortzubleiben, doch das hat sich durchaus gelohnt. Die jungen Musikerinnen und Musiker spielten mit Engagement und manche mit beträchtlichem Können, die in kurzer Zeit einstudierten Arrangements von Pfammatter hatten es in sich, es gab auch keinen konventionell swingenden Big Band Jazz, eher eine Mischung irgendwo zwischen Sun Ra, Zappa, Don Ellis, Steve Reich, zwischen Jazz, Grooves und Space Funk. An letzterem hatte Leader Pfammatter keinen geringen Anteil, er sass mit dem Rücken zum Publikum an einem alten Analog-Synthesizer, der immer wieder in den Klang der Big Band (mit prominenter Gitarre, Kontrabass, Drums, Upright-Piano sowie den üblichen 4-4-5-Bläsern) und dirigierte die Band. Der Syntzesizer kam sowohl solistisch als auch im Rahmen der Arrangements zum Einsatz, das ganze Set war abwechslungsreich, von Freiem, eher Klamaukigen bis hin zu raffiniert geschichteten und funky groovenden Sound-Collagen.

Heute Abend gehe ich noch zu Booklet, dem Trio um Tobias Delius, davor spielt Peter K. Frey ein Solo-Set am Kontrabass. Den Rest des Festivals lasse ich dann sausen, von Aruán Ortiz habe ich gestern am Intakt-Stand die CD gekauft (es waren natürlich alle da gestern, die ganze Intakt-Crew, Irène Schweizer und diverse weitere Musiker aus der lokalen Szene – Eskelin spielt selten in der Gegend und auch ich werde bei der nächsten Gelegenheit nicht fehlen wollen), Niescier/Weber brauche ich nicht nochmal zu hören, Zeit habe ich an sich leider gerade eh keine …

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