West Coast Jazz: Modern Jazz in San Francisco + Spotlight on Dave Brubeck

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    gypsy-tail-wind
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    Nach zwei Kapiteln über Los Angeles (Links ganz am Ende des Posts) blickt der dritte Teil nach San Francisco. In der Nachkriegszeit blühte in der Stadt eine Dixieland-Szene, der moderne Jazz schlug sich erst durch den allmählichen Erfolg der Unternehmungen Dave Brubecks eine Bahn. Sein Oktett, sein Trio und die ersten Aufnahmen im Quartett mit Paul Desmond setzten Massstäbe. Die beiden anderen grossen Namen des Modern Jazz der Stadt sind Cal Tjader und Vince Guaraldi.

    Ganz oben steht stellvertretend für einen Thread, den ich nicht schreiben kann, weil ich nichts darüber weiss (und den Zustand nicht grundlegend zu ändern gedenke – Freiwillige vor ;-) ) ein Cover einer der damals erfolgreichen Dixieland-Bands aus San Francisco. Die meisten ihrer Aufnahmen (das gilt auch für die Firehouse Five, deren Cover aber eher den Charme jener von Chet Baker& Mariachi Brass haben) erschienen damals aber bei Good Time Jazz, dem Sublabel von Contemporary aus Los Angeles.

    Das grosse Label – das später wirklich gross werden sollte, als sie Creedence Clearwater Revival unter Vertrag nahmen – aus San Francisco hiess Fantasy Records und experimentierte (durch eine irgendeine Verbandlung, zu der ich auf die Schnelle gerade nichts finden kann, steht vermutlich bei Ted Gioia in seinem sowieso äusserst empfehlenswerten Buch „West Coast Jazz“) auch gerne mit buntem Vinyl. Fantasy wurde später zu einem Konglomerat (u.a. durch den Kauf der Kataloge von Prestige, Riverside, Contemporary, Milestone, Pablo, aber auch zahlreicher kleinerer Label wie z.B. Debut von Mingus, das sogar ein Geschenk war) und durch die bis zum Verkauf nach dem Tod von Saul Zaentz immense Backlist (quasi der alte Suhrkamp-Verlag unter den Plattenlabeln).

    Cal Tjader (1925-1982) war der unwahrscheinlichste Kandidat am unwahrscheinlichsten Ort, doch es gelang ihm, an der Westküste eine genuine Mambo-Band zu gründen. Eine Band, die nach Anfängen, bei denen Xavier Cugat gar nicht weit entfernt war, rasch Fortschritte machte und den Latin Jazz massgeblich prägen sollte. Tjader hatte nach seiner Zeit in den Formationen von Dave Brubeck mit dem erfolgreichen Quintett des englischen Pianisten George Shearing gespielt, der seinerseits gerne auch Latin Percussion in der Band hatte – Armando Peraza, der Conguero von Shearing, stiess später auch zu Tjader und gehörte ein Jahrzehnt danach zu einer weiteren Band, die in Kalifornien mit einer Latin-Synthese für grosses Aufsehen sorgte: Santana. Auf Tour mit Shearing hörte Tjader an der Ostküste auch die Gruppen von Machito und Tito Puente und fasste seinen Entschluss. Zurück in San Francisco gründete er seine Band, in der bald Musiker wie Vince Guaraldi, der Gitarrist Eddie Duran oder Al McKibbon spielten. Dieser war einst Bassist in der Big Band von Dizzy Gillespie, einer der wichtigsten Bands für die Entwicklung des Latin Jazz.

    Der Pianist Vince Guaraldi (1928-1976) tourte in den Fünfzigern auch mit Woody Herman und leitete ein eigenes Trio mit Eddie Duran und dem Bassisten Dean Reilly. Doch erst in den frühen Sechzigern wurde er endgültig zum Bandleader. Mit „Cast Your Fate in the Wind“ landete er umgehend einen Hit, der ihn – als dritten aus der Jazzszene San Franciscos neben Brubeck und Tjader – einigermassen komfortabel durch die Dürreperiode führte, die der Jazz ab Mitte der Sechziger durchmachte.

    Ein weiterer ehemaliger Tjader-Sideman, der über alles verfügte, um sich durchzusetzen, war der Tenorsaxophonist Brew Moore (1924-1973). Er machte Mitte der Fünfzigerjahre zwei Alben für Fantasy Records, verschwand dann aber recht bald wieder von der Bildfläche und verbrachte schliesslich die grösste Zeit bis zu seinem frühen Tod in Europa.

    Auch aus San Francisco stammen der Saxophonist Jerome Richardson (1920-2002) und der Pianist Richard Wyands (*1928). Beide waren in den Fünfzigern ebenfalls mal in Tjaders Gruppe, gingen aber nach New York, wo sie ein paar gemeinsame Aufnahmen machten, bevor Wyands vor allem mit Kenny Burrell spielte, während Richardson als Multiinstrumentalist zum gefragten Session-Musiker wurde, der aber auch an Aufnahmen wie Charles Mingus‘ „Black Saint and the Sinner Lady“ mitwirkte (auch Wyands hat mit Mingus ein Album aufgenommen) und zu einem der Stützpfeiler der neuen Big Band wurde, die Thad Jones und Mel Lewis Mitte der Sechziger als Rehearsal Band gründeten.

    Bevor Paul Desmond mit Dave Brubecks Gruppe den ganz grossen Durchbruch schaffte, machte er in Kalifornien auch ein paar Aufnahmen unter eigenem Namen.

    Das oben abgebildete 10″-Album kam im Fold-Out-Cover und auf grünes, violettes oder rotes Vinyl gepresst – sowas gab’s soweit ich weiss wirklich nur bei Fantasy.

    In der damaligen Sendung erklang auch noch ein Stück der Sandole Brothers, ursprünglich auf der Fantasy-LP „Modern Music from Philadelphia“ erschienen. Es gab beim Label auch noch „Modern Music from Chicago“ (ein grossartiges Album von Red Rodney und Ira Sullivan) und „Modern Music from Indiana University“ mit dem Tenorsaxophonisten Jerry Coker (der mit Woody Herman und anderen Leuten aus dem Herman-Umfeld spielte, später auch bei Clare Fischer nochmal auftaucht). Das ist hier aber höchstens insofern on topic, als auch Fantasy Records dazugehört (was es ja längst tut, mit all den Bildchen).

    Die West Coast Jazz-Threads:

    Teil 1: Swing & Bebop – Jazz on Central Avenue (Los Angeles) in den Vierzigern
    Teil 2: Cool Innovations – Los Angeles und Hollywood in den Fünfzigern (ca. 1950-56)
    Teil 3: Modern Jazz in San Francisco + Spotlight on Dave Brubeck
    Teil 4: Black California: Hard Bop in den späten Fünfzigern, Horace Tapscott und die Avantgarde in den Sechzigern

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    gypsy-tail-wind
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    gypsy goes jazz 19 – Goin’ West: Modern Jazz in San Francisco

    1. Cal Tjader – Guarachi Guaro (1954)
    2. Cal Tjader – Happiness Is a Thing Called Joe (1958)
    3. Cal Tjader – Mambo Moderno (1954)
    4. Cal Tjader – Brew’s Blues (1955)
    5. Dave Brubeck Quartet – Audrey (1954)
    6. Brew Moore Quintet – Rose (1956)
    7. Sandole Brothers – Arabu (1955)
    8. Brew Moore – Fools Rush In (live) (1955)
    9. Vince Guaraldi Quartet – Calling Dr. Funk (1956)
    10. Ron Crotty Trio – The Night We Called It a Day (1956)
    11. Paul Desmond – Misty Window (1954)
    12. Vince Guaraldi Trio – Cast Your Fate in the Wind (1962)
    13. Vince Guaraldi Trio – Manhã de Carnaval (1962)
    14. Vince & Bola – The Days of Wine and Roses (1963)
    15. Jerome Richardson – Candied Sweets (1959)

    CAL TJADER
    1. Guarachi Guaro (Gillespie–Fuller)

    Cal Tjader (vib), Manuel Duran (p, claves), Carlos Duran (b), Bayardo Velarde (timb, cga), Edgard Rosales (cga, maracas)
    Marines Memorial Theater, San Francisco, California, 21. September 1954
    von: Tjader Plays Mambo (Fantasy; CD: Fantasy/OJCCD)

    Dass jemand an der West Coast genuine Latin Musik machen sollte, war damals ziemlich unwahrscheinlich – doch Cal Tjader (1925–1982) tat genau das, obgleich er mit seiner schwedisch-amerikanischen Herkunft und den Wurzeln in Missouri ein noch unwahrscheinlicherer Kandidat war. Seine Eltern traten beide in Vaudeville-Shows auf, Tjader hatte seinen ersten Kontakt mit dem Show Business als zehnjähriger Stepptänzer. 1927 war die Familie nach San Marco in Kalifornien gezogen, wo der Vater ein Tanzstudio eröffnete. Cal diente nach der High School in der Navy und studierte dann dank der G.I. Bill an der San Francisco State. Andere Studenten dort waren Paul Desmond (damals noch Breitenfeld) oder Ron Crotty. Tjader wechselte ans Mills College und wurde dort Teil einer eingeschworenen Avantgarde-Gruppe um Dave Brubeck – wir hörten in der letzten Sendungen Aufnahmen des Brubeck Oktetts und des Brubeck Trios mit Tjader am Schlagzeug bzw. an den Bongos.

    In den frühen Fünfzigern zog Tjader mit George Shearings erfolgreichem Quintett durch die Lande. Er kam auch an die Ostküste, wo er der Musik von Machito oder Tito Puente begegnete. Das führte zur entscheidenden Wende. 1954 gründete er seine erste Mambo-Band, deren sechsmonatiger Gig im Macumba Club in San Francisco zum Erfolg wurde. Die ersten Aufnahmen sind nur wenig ernsthafter als Xavier Cugat, aber die Band machte rasch Fortschritte. Unter den authentischeren frühen Stücken ist das Cover eines Klassikers aus dem Buch von Dizzy Gillespies Big Band, „Guarachi Guaro“ (es ist vermutlich Chano Pozos Stück, aber offiziell läuft es unter den Namen von Gillespie und Gil Fuller, seinem damaligen Arrangeur).


    CAL TJADER
    2. Happiness Is a Thing Called Joe (Arlen–Harburg)

    José „Chombo“ Silva (ts), Cal Tjader (vib), Vince Guaraldi (p), Al McKibbon (b), Mongo Santamaria (cga), Willie Bobo (timb, d)
    live, Blackhawk, San Francisco, California, ca. 1957/58
    von: Cal Tjader Goes Latin (Fantasy; CD-Twofer: Black Orchid, Fantasy)

    Tjader landete zwar in diesen Jahren noch keinen Hit wie das spätere „Soul Sauce“, doch brachte er bei Fantasy ohne Unterlass neue Aufnahmen heraus und machte sich so einen immer besseren Namen. Die Band wurde mehrmals umgestellt, in den späten Fünfzigern leitete er seine womöglich beste Combo: Guaraldi, McKibbon (der auch in der erwähnten Big Band von Gillespie dabei gewesen war), Santamaria und Bobo waren allesamt erstklassige Musiker, die in Jazz und Latin gleichermassen glänzen konnten. „Chombo“ stammte aus Kuba. Er nannte gemäss Dick Hadlocks Liner Notes als Vorbilder Al Cohn, Stan Getz und Zoot Sims, doch wie Hadlock richtig feststellt erinnert sein grosser Ton eher an die Coleman Hawkins/Ben Webster-Schule. „Joe“ wurde für Ethel Waters im Film „Cabin in the Sky“ (1943) geschrieben. „Chombo“ spielt ein grossartiges Solo, das Stück gehört ihm ganz. Die Aufnahme entstand 1958 live im ersten Club der Stadt, dem Blackhawk.

    CAL TJADER
    3. Mambo Moderno (Richard Wyands)

    Jerome Richardson (fl), Richard Wyands (p), Al McKibbon (b), Cal Tjader (timb), Armando Peraza (cga, bgo)
    San Francisco, California, 6. März 1954
    von: Ritmo Caliente (Fantasy; CD-Twofer: Los Ritmos Calientes, Fantasy)

    Schon 1954 leitete Tjader kurze Zeit eine hervorragende Band. Al McKibbon war schon damals dabei, ebenso Jerome Richardson (1920–2000) an der Flöte und der Pianist Richard Wyands (*1928). Beide zogen sie bald nach New York, weil die Perspektiven an der Westküste nicht gut genug waren, doch hier hören wir sie in einem Stück der Tjader-Band, mit dem Leader an den Timbales, unterstützt von Armando Perazas Congas. Peraza (1924–2014) war Tjader schon in der Band von George Shearing begegnet und spielte später auch mit Santana.



    CAL TJADER
    4. Brew’s Blues (Brew Moore)

    Brew Moore (ts), Cal Tajder (vib), Sonny Clark (p), Eugene Wright (b), Bobby White (d)
    Little Theater, Berkeley, California, 6. Juni 1955
    von: Tjader Plays Tjazz (Fantasy; CD: Fantasy/OJCCD)

    Cal Tjader war vor allem als Leader seiner Mambo-Band bekannt, als er in den 1955er Polls von down beat die „New Star“-Kategorie der Vibraphonisten gewann. Tjader war jedoch immer zu gleichen Teilen am Jazz wie an der Latin-Musik interessiert. Um seine jazzige Seite hervorzuheben, wurde „Tjader Plays Tjazz“ zusammengestellt, mit Aufnahmen der Band von 1954 (mit dem Gitarristen Eddie Duran, den wir später noch hören) sowie der neuen Gruppe von 1955 mit Brew Moore und Sonny Clark, der in den frühen/mittleren Fünfzigern längere Zeit an der Westküste verbrachte und da auch bei einigen schönen Aufnahmen mitwirkte.

    Diese Gruppe, mit dem künftigen Brubeck Quartet-Bassisten Eugene Wright und Drummer Bobby White, hören wir in „Brew’s Blues“, einer einfachen Riff-Nummer mit Moore in der Tradition von Lester Young in Basies Band. Moore und danach Tjader und Clark spielen gute Soli, dann folgen Wechsel mit der Rhythmusgruppe und Wright zitiert in Gershwins „Fascinatin’ Rhythm“.

    Zu Tjaders Vibraphonspiel muss noch angemerkt werden, dass er auf einem Instrument, das zu übermässiger Virtuosität einlädt, stets ökonomisch spielt, auf die Linie aus ist, seine Phrasen atmen lässt wie ein Bläser. Für einen Musiker, der als Schlagzeuger begann, ist das noch bemerkenswerter. Er wirkte, so Ted Gioia, auf einem Instrument, das für Extrovertierte geschaffen wurde, fast immer introvertiert. Ähnlich zurückhaltend war auch seine Selbsteinschätzung, Tjader stets sein eigener strengster Kritiker. 1982 starb Tjader während einer Tour in Manila an einer Herzattacke.

    DAVE BRUBECK QUARTET
    5. Audrey (Dave Brubeck–Paul Desmond)

    Paul Desmond (as), Dave Brubeck (p), Bob Bates (b), Joe Dodge (d)
    New York City, 12. Oktober 1954
    von: Brubeck Time (Columbia)

    Nachdem die letzte Sendung ganz Dave Brubeck gehört hatte, ist das Brubeck Quartett hier noch einmal zu hören – mit einem Stück, das so bezaubernd ist wie seine Widmungsträgerin, die unsterbliche Audrey Hepburn. Das Stück ist ein einfacher Blues in Moll, Wright spielt effektive Two-Beat-Linien unter Brubecks Intro und wechselt dann bei Desmonds Einstieg in einen swingenden 4/4-Takt, unterstützt von Morellos Besen. Die Show gehört ganz Desmond, der eins seiner zauberhaftesten Soli spielt, sich von einem Einfall zum nächsten treiben lässt, mit guten – und angemessen zurückhaltenden – Einwürfen Brubecks. Ganz besonders zauberhaft ist der Moment ab 1:58 bis 2:06 – Desmond zieht den Einfall dann noch eine Runde weiter. Brubeck leitet mit weichen Akkorden über zu einem abschliessenden Statement Desmonds, ein frühes Beispiel seiner tollen Fähigkeit, den Blues in seine ganz eigene Spielweise einzubetten.

    BREW MOORE QUINTET
    6. Rose (John Marabuto)

    Dickie Mills (t), Brew Moore (ts), John Marabuto (p), Max Hartstein (b), Gus Gustofson (d)
    Marines Memorial Hall, San Francisco, CA, 15. Januar/22. Februar 1956
    von: The Brew Moore Quintet (Fantasy; CD: Fantasy/OJCCD)

    Brew Moore wurde 1924 in Indianola, Mississippi geboren. 1954 kam er nach San Francisco und liess sich da für eine längere Zeit nieder („Have no tux, will not travel!“). Bei Fantasy konnte er zwei Alben unter eigenem Namen veröffentlichen. Vom ersten hören wir heute zwei Kostproben. „For Rose“ stammt aus der Feder des Bay Area-Pianisten John Marabuto, der ebenso wie all die anderen Sidemen völlig unbekannt ist (er hatte u.a. mit Cal Tjader und Nick Esposito gespielt und war von Beruf Klavierstimmer). Hartstein gehörte zu den Musikern, die es von Indiana an die Westküste zog, Gustofson war ein Marine, aus San Francisco, der 1956 mit Woody Hermans „Third Herd“ loszog und davor auch mit Georgie Auld, Gerald Wilson und dem Lokalmatador Vernon Alley gespielt hatte.

    Trompeter Dickie Mills zog 1956 nach Paris, wie Gustofson hatte er an der San Francisco State gelernt. Sein Vorbild war Charlie Parker, über Brew Moore sagte er, dieser sei „the most relaxed and honest musician I have ever worked with“. Entspannt geht es auch auf dem Album zu und her, Moore spielt mit einem leicht verhangenen Ton, Lester Young mit Schleier, gewissermassen (Moore sagte angeblich einmal „Anybody who doesn’t play like Lester Young is wrong“). Wenn die Stimmung hier insgesamt entspannt ist, dann ist Moore geradezu tiefenentspannt, vermutlich hat er geschlafen, währenddem er solche Soli blies. Moore zog sich 1959 von der Szene zurück – er war ein schwerer Trinker, daher auch sein Übername. Mit Ausnahme der Jahre 1967 bis 1970 war er danach in Kopenhagen daheim, wo er 1973 verstarb. In den USA entstanden nach den beiden Fantasy-Alben keine Aufnahmen mehr.


    SANDOLE BROTHERS
    7. Arabu (Adolph Sandole)

    prob. Art Farmer (t), Sonny Russo (tb), Teo Macero (ts), Adolph Sandole (bari), Al del Governatore (p), Milt Hinton (b), Clem De Rosa (d)
    New York, Juli 1955
    von: Modern Music from Philadelphia by the Brothers Sandole (Fantasy; CD: The Sandole Brothers, Fantasy)

    Dieses Stück, diese Band in einer Sendung zu San Francisco zu präsentieren ist etwas an den Haaren herbeigezogen, doch da eine Boston-Sendung kaum zustande kommen dürfte und da Fantasy eine kleine Reihe mit „Modern Music from …“ produzierte, möge dieses schönen Stück stellvertretend dafür hier gespielt sein. Es stammt aus der Feder von Adolph Sandole (1922–1959), dessen Bruder, Gitarrist Dennis (né Dionigi Sandoli, 1913–2000), hier ausssetzt.

    „Arabu“ präsentiert den Gast Teo Macero mit einem tollen Solo am Tenorsaxophon – man kann wohl mehr als einen oberflächlichen Tristano-Einfluss heraushören, Macero spielt eigentlich nicht einmal cool … aber dann überschlägt sich sein Ton plötzlich und gewinnt – über dem begleitenden Ensemble – auch an Kontur und Kraft. Macero sollte sich später vor allem als Produzent einen Namen machen, war damals aber auch noch regelmässig als Musiker anzutreffen, etwa mit Charles Mingus oder Teddy Charles.

    Von den Sandoles hörte die Jazzwelt leider nicht mehr viel nach diesem Album, auch vom Pianisten Al del Governatore, den Barry Ulanov in seinen Liner Notes als „brillanten Musiker“ beschreibt, nicht. Doch die Kompositionen Adolphe und Dennis Sandole haben ihre ganz eigene Note und „Arabu“ zählt für mich zu den schönsten.

    BREW MOORE
    8. Fools Rush In (Where Angels Fear to Tread) (Mercer–Bloom)

    Brew Moore (ts), Eddie Duran (g), Vince Guaraldi (p), Dean Reilly (b), Bobby White (d)
    live, University of California, Berkeley, California, August 1955
    von: The Brew Moore Quintet (Fantasy; CD: Fantasy/OJCCD)

    Brew Moore zum dritten und letzten – und was für ein tolles Solo! Die Band war bei diesem Live-Auftritt eine andere, Eddie Duran (davor auch bei Cal Tjader) ist an der Gitarre im Hintergrund kaum zu hören, die Show gehört ganz Brew Moore. Und der spielt ein Solo, das seine besten Qualitäten zum Vorschein bringt: Soul, Swing und eine seltene Gabe für Melodien.

    Die korrigierten Angaben zur Besetzung, die Fantasy verschweigt (es gibt einzig einen Hinweis in Ralph J. Gleasons Liner Notes, das Stück sei „cut at a concert at the University of California“, das reicht aber nicht einmal, um die Stadt zu bestimmen) stammen übrigens von hier:
    http://www.organissimo.org/forum/index.php?/topic/32734-brew-moore/&do=findComment&comment=624782

    VINCE GUARALDI QUARTET
    9. Calling Dr. Funk (Vince Guaraldi)

    Jerry Dodgion (as), Vince Guaraldi (p), Eugene Wright (b), John Markham (d)
    San Francisco, CA, ca. 1956
    von: Modern Music from San Francisco (Fantasy, 1956; CD: The Jazz Scene: San Francisco, Fantasy)

    Die nächsten zwei Stücke stammen von der „Modern Music from …“-Scheibe, die Fantasy seiner Heimatstadt San Francisco gewidmet hat. Diese erste katapultiert uns in Hard Bop-Territorium, wenigstens was die Atmosphäre (weniger den Beat von Swing-Drummer John Markham) der funky Bluesnummer betrifft – der Titel verrät bereits, worum es geht.

    Jerry Dodgion (*1932) ist hier die grosse Überraschung, ein Saxophonist, den man eher als dezenten Flötisten hinter Sinatra (Markham war auch dabei, es gibt eine Live-Aufnahme aus Australien, 1959) oder als Big Band-Section-Musiker kennt. Hier spielt er ein erdenschweres, bluesgetränktes und dennoch sehr elegantes Altsax. Er stammt aus Richmond in Kalifornien, vom gegenübliegenden Ende der Bay. Gemäss Gleasons Liner Notes ist Charlie Parker sein Lieblingsmusiker, auch er hatte mit Vernon Alley und Gerald Wilson gespielt, mit diesem auch Aufnahmen gemacht. Auch mit Benny Carter spielte er, und man kann das seinem Ton möglicherweise anhören, er ist neben Moore oder Desmond zwar merklich moderner, aber im Ton merkt man auch bei ihm Spuren des älteren Jazz. Der zweite Solist ist Sonny Clark, schon recht gut erkennbar mit seinem reduzierten Spiel, seiner typischen Phrasierung, den leichten Dissonanzen, den Punktierungen der linken Hand – einer der besten und eigenwilligsten Pianisten des Hard Bop, was sich vor allem auf der in schneller Folge entstehenden Blue Note-Alben zeigen sollte, die nach seiner Rückkehr nach New York im Jahr darauf entstanden.

    RON CROTTY TRIO
    10. The Night We Called It a Day (Dennis–Adair)

    Eddie Duran (g), Vince Guaraldi (celesta), Ron Crotty (b)
    San Francisco, CA, ca. 1956
    von: Modern Music from San Francisco (Fantasy, 1956; CD: The Jazz Scene: San Francisco)

    Die Wahl dieses Stückes ist kein Zufall, denn auch der Komponist Matt Dennis (1914–2002) stammt aus Nordkalifornien (geboren wurde er in Seattle, Washington). Zu seinen bekanntesten Songs zählen „Angel Eyes“, „Everything Happens to Me“, „Will You Still Be Mine“ und „The Night We Called It a Day“ (Frank Sinatra nahm ihn als ersten Song unter eigenem Namen auf, Bob Dylan sang ihn dieses Jahr in Lettermans zweitletzter „Late Show“).

    Ron Crotty ist hier der nominelle Leader, 1929 in San Francisco geboren spielte er mit Dave Brubecks frühen Gruppen, aber auch mit Brew Moore, earl Hines und anderen. Er verstarb diesen Frühling:
    http://www.artsjournal.com/rifftides/2015/05/ron-crotty-bassist-1929-2015.html
    Das Stück hat durch die Celesta von Vince Guaraldi einen etwas eigenartigen Klang, aber hier geht es in erster Linie um die feine Gitarre von Eddie Duran (*1925), der Mitte der Fünfziger mit seinen beiden Brüdern Carlos (p) und Manuel (b) zu Cal Tjaders Combo stiess, nachdem sein Kinheitsfreund Guaraldi ihn mit Tjader bekannt gemacht hatte.

    PAUL DESMOND
    11. Misty Window (Dave Van Kriedt)

    Dick Collins (t), Paul Desmond (as), Dave Van Kriedt (ts), Bob Bates (b), Joe Dodge (d)
    Radio Recorders, Hollywood, CA, Oktober 1954
    von: Desmond (Fantasy; CD-Twofer: The Paul Desmond Quintet/Quartet; Fantasy)

    Paul Desmond nahm im Laufe seiner langen Jahre bei Brubeck nur selten als Leader auf, hatte mit seinem Boss den Deal, dass er dies zudem stets ohne Klavier tun würde. Hier wirken ein paar alte Oktett-Kollegen und auch Kollegen aus dem Brubeck Quartett mit. Dave Van Kriedt hat das Stück geschrieben und wohl auch arrangiert. Dick Collins kriegte für die Aufnahme eine Nacht frei, er spielte damals mit Woody Hermans Big Band. Sein Solo hier ist viel zu kurz, doch sein brillanter Ton, der ihn doch nie zum virtuosen Überspieler werden lässt, kommt schön zur Geltung. Van Kriedts Tenor ist von derselben Machart wie jenes von Brew Moore, aber ihm fehlt der rhythmische Impetus. Eine kleine Miniatur von Desmonds Debut als Leader, das auch ein paar seltsame Stücke mit Vocals enthielt.

    VINCE GUARALDI TRIO
    12. Cast Your Fate in the Wind (Guaraldi)
    13. Manhã de Carnaval (Jobim–Bonfa)

    Vince Guaraldi (p), Monty Budwig (b), Colin Bailey (d)

    Station KQED, San Francisco, CA, Februar 1962
    von: Cast Your Fate in the Wind: Jazz Impressions of Black Orpheus (Fantasy; CD: Fantasy/OJCCD)

    Vince Guaraldi hatte seinen big break bei Cal Tjader. Beide verbanden sie lyrische Melodien mit packenden Rhythmen. Guaraldi (1928–1976) stammte aus San Francisco, seine grössten Erfolge feierte er wohl durch seine Kompositionen für die Animationsfilme der „Peanuts“. Auch er gehörte zur San Francisco State-Szene. Guaraldi diente im Korea-Krieg als Koch. Danach spielte er in den Fünfzigern immer wieder mit Cal Tjader, leitete zwischendurch aber auch ein eigenes Trio mit Eddie Duran (g) und Dean Reilly (b), tourte mit Woody Hermans Big Band, arbeitete in Combos von Sonny Criss, nahm mit Frank Rosolino oder Conte Candoli auf.

    Doch Guaraldi war ein Leader, verliess 1959 Tjader, kehrte kurz zu Herman zurück, gehörte kurze Zeit zu Howard Rumseys Lighthouse All Stars und machte sich schliesslich selbständig. Ein weiser Entscheid, denn mit „Cast Your Fate in the Wind“ landete er umgehend einen grossen Hit und seine Karriere blühte während der Sechziger, als die meisten Jazzmusiker ums Überleben zu kämpfen hatten.

    Guaraldis Erfolg hing mit einem Film zusammen, der 1959 in Cannes für Aufsehen sorgte, „Orfeu Negro“, Marcel Camus’ bezaubernde Adaption des Orpheus-Mythos, verlegt in das gegenwärtige Rio de Janeiro während des Karnevals. Die Musik steuerten Luiz Bonfa, Antonio Carlos Jobim und João Gilberto bei, das zugrundeliegende Stück stammte von Vinicius de Moraes – und so ist der Film in musikalischer Hinsicht eine Art Bossa Nova avant la lettre. Wir hören als zweites Stück von Guaraldis Trio aus dem Filmsoundtrack Bonfas „Manhã de Carnaval“, das rasch zum Klassiker wurde.  

    VINCE GUARALDI & BOLA SETE
    14. The Days of Wine and Roses (Henry Mancini)

    Vince Guaraldi (p), Bola Sete (g), Fred Marshall (b), Jerry Granelli (d)
    San Francisco, 1963
    von: Vince Guaraldi/Bola Sete and Friends (Fantasy; CD-Twofer: Vince & Bola, Fantasy 2000)

    In Bola Sete fand Guaraldi einen musikalischen Partner, der so gut passte wie früher Cal Tjader. Sete, 1923 in Rio als Djalma de Andrade geboren, war – wie seine Kollegen Laurindo Almeida und Luiz Bonfa – schon vor dem Erfolg der Bossa Nova aktiv und transzendierte diese musikalisch zugleich. Alle drei spielten schon in den Vierzigern sehr „moderne“ Musik, formten einen neuen Gitarrenstil, der sich von der traditionellen Samba-Spielweise abhob. Sete suchte früh Kontakt mit anderen Stilen und Musikern, ging in den Fünfzigern auf Tournee in Lateinamerika und Spanien und bald auch in die USA. 1962 traf er auf Dizzy Gillespie, der ihn schon im Rahmen einer vom State Department gesponserten Tour in Brasilien gehört hatte. Gillespie führe Sete in Jazzkreise ein, überzeugte Jimmy Lyons, den Gründer des Monterey Jazz Festivals, Sete als Solisten wie auch als Gast mit Gillespies Band zu buchen – und das wurde der Abend in Setes Karriere.

    Sete begann darauf, für Fantasy als Leader und auch gemeinsam mit Guaraldi Alben aufzunehmen – dieser hatte den Monterey-Auftritt erlebt und war sofort zum Fan geworden. Die beiden waren äusserst erfolgreich, sie traten von 1963 bis 1966 zusammen auf, es entstanden drei LPs. Am Vortag vor der Session zum ersten, aus dem wir eine Kostprobe hören, spielten sie zum ersten Mal zusammen – „and nothing came out the way we rehearsed it! It was beautiful“, so Guaraldi in seinen Liner Notes. Die Chemie zwischen den beiden war von Anfang an perfekt. Doch mit der Zeit zeigte sich, dass Guaraldi und Sete verschiedene Vorstellungen hatten, zudem kam Guaraldi nicht damit klar, dass der geborene Showman Sete meist mehr Applaus einheimste.



    JEROME RICHARDSON
    15. Candied Sweets (Richard Wyands)

    Jerome Richardson (ts), Richard Wyands (p), George Tucker (b), Charlie Persip (d)
    Van Gelder Studio, Englewood Cliffs, New Jersey, 21. Oktober 1959
    von: Roamin’ with Richardson (Prestige/New Jazz; CD: OJCCD/Fantasy)

    Den Abschluss macht heute eine Aufnahme, die in Rudy Van Gelders Studio in New Jersey entstanden ist – doch die beiden zentralen Figuren sind Jerome Richardson und Richard Wyands, die beiden Musiker aus San Francicso, die wir zu Beginn der Sendung mit Cal Tjader gehört hatten. Mit Wyands Stück „Candied Sweets“, einem Abstecher nach Bluesville, schliesst Richardsons zweites Prestige-Album und wohl das beste der wenigen Leader-Alben, die er machen konnte.

    Nach dem eingängigen Thema, das über einen Two-Beat von Tucker/Persip präsentiert wird, spielt Wyands ein langes Solo, im Gestus nicht weit von Sonny Clark entfernt, aber weicher, fliessender gespielt. Richardson, der sich einen Namen als Multi-Instrumentalist machen sollte (er spielte hauptsächlich Flöte sowie Sopran-, Tenor- und Baritonsaxophon, wirkte später u.a. als tragender Pfeiler der Big Band von Thad Jones und Mel Lewis) folgt mit einem tollen Solo am Tenorsaxophon, zupackend phrasiert, mit grossem Ton – und einem hübschen Zitat von „Bei Mir Bistu Shein“.

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    Spotlight on Dave Brubeck

    Es gibt bereits einen Brubeck-Thread, aber ich stelle das auch hier rein, weil’s im Zusammenhang mit den Texten direkt drüber entstand (die Brubeck-Sendung lief davor, was ein paar verkehrte Bezüge in den Texter erklären mag).

    Schon lange ist es unter Jazzfans, noch mehr unter Kritikern und auch Musikern, hip, Brubeck in die Pfanne zu hauen. Die Argumente überbieten sich gegenseitig an Absurdität. Ted Gioia bündelt sie in seinem Buch „West Coast Jazz“ (S. 66f.):

    Frequently cited criticism of Brubeck in the 1950s emphasized the facts – all of them difficult to dispute – that (1) his group earned more money than the Modern Jazz Quartet; (2) his picture was put on the cover of Time magazine; (3) Duke Ellington’s picture was not put on the cover of Time magazine; (4) the Brubeck quartet did not sound like Gerry Mulligan’s.

    Dazu kam der Vorwurf, die Musik würde nicht swingen, nicht so sehr wie jene von früheren Jazz-Gruppen. Was bei solchen absurden Vorwürfen untergeht sind natürlich die Verdienste der Band und ihres Leaders. Brubeck kopierte eben gerade nicht, was Mulligan tat, was Basie oder das Modern Jazz Quartet machten. Seine Musik ist in rhythmischer und struktureller Hinsicht neu und völlig eigenständig. Man mag Gioia folgen, wenn er meint, in der Hinsicht sei Brubeck einem seiner Zeitgenossen nicht unähnlich: Thelonious Monk. Auch bei diesem war die Jazzkritik eher daran interessiert, zu beschreiben, was seine Musik nicht ist. Wie Monk beschritt Brubeck einen Weg abseits des Hauptstromes des Jazzpianos, der von Bud Powell und seinen Nachfolgern ausgeformt wurde. Monk wie Brubeck spielten sperrige Rhythmen und „schräge“ Akkorde, beide brachten sie die orchestralen Fähigkeiten ihres Instruments zum Vorschein. Beide waren sie an komplexeren rhythmischen Strukturen interessiert als die meisten ihrer Zeitgenossen. Und beide hoben die perkussive Seite des Klaviers hervor, arbeiteten mit Synkopen, rhythmischen Verschiebungen und Akzentuierugen, Brubeck überdies mit Stücken in ungraden Metren – doch beiden warf man vor, nicht zu swingen. Beide spielten oft Soli, die durchdacht, ausgeklügelt, ja beinahe komponiert wirken. Während Monks Ruhm kontinuierlich wuchs und heute unbestritten ist, widerfuhr Brubeck nichts Vergleichbares. Doch beim Publikum feierte er grosse Erfolge, obgleich er sich nie verbog – weitherum bekannt und ebenso weitherum missverstanden.

    In Nordkalifornien gaben bis dahin Dixielandgruppen wie jene von Turk Murphy oder Lu Watters den Ton an. Brubeck suchte sich Lehrer wie Darius Milhaud und war schon bald daran, die wenigen „modernen“ Jazzmusiker links zu überholen. Geboren in Concord, Kalifornien, wuchs Brubeck als Sohn einer ausgebildeten Konzertpianistin und eines Ranchers (vermutlich indianischen Ursprunges) im abgelegenen Kaff Ione auf. Seine Mutter brachte ihm das Klavierspiel bei. Mit dem Notenlesen wollte es lange Zeit nicht recht klappen, doch er brachte schon bald eigene Klänge hervor. In der Abgeschiedenheit kriegte Brubeck musikalisch nichts mit, er wollte sein Leben auf der Ranch verbringen, besuchte dann aber doch das College of the Pacific, mit der Absicht, Veterinärnedizin zu studieren. Bald zog es das Landei wieder zur Musik und er wechselte das Studiengebiet, obwohl sein Problem mit dem Notenlesen ihn beinah scheitern liess.

    Brubeck führte auf dem Campus bald das Leben eines Bohémiens, lief im Zoot Suit herum, spielte mit seiner Ethnizität, seinen indianischen und polnischen Wurzeln, überhaupt schuf er sich ein Image, das die Andersartigkeit hervorhob. Dave Van Kriedt, ein Mitstudent und späterer Mitmusiker meinte, er hätte den Eindruck gemacht, „like he still lived with the tribe“ (Gioia, West Coast Jazz, S. 72). Mit der Jazz-Piano-Tradition war Brubeck vermutlich nicht sehr vertraut, die Familie besass in Ione lange Zeit nicht einmal ein Radio, die Gegend war viel zu abgelegen als dass Bands auf Durchreise Halt gemacht hätten. Alle Einflüsse – sowohl Milhaud, bei dem er nach dem Wechsel ans Mills College lernte, wie auch Ellington, Tatum, Kenton, Nat Cole, Erroll Garner, George Shearing oder Lennie Tristano, die Brubeck später als Vorbilder nannte – hinterliessen nur oberflächliche Spuren im Spiel des jungen Pianisten. Dieser traut auf, wo immer er konnte: bei Lions Club-Treffen, Cowboy-Parties oder Hillbilly-Tanzanlässen – und er kannte unzählige Songs aus diesem Umfeld. Als Sonny Rollins später in Kalifornien sein Album „Way Out West“ mit einigen Cowboy-Songs einspielte, meinte Brubeck: „I felt he was invading my territory“ (Gioia, West Coast Jazz, S. 73).

    Als Soldat nahm Brubeck in Pattons dritter Armee an der Ardennenoffensive teil (sein Name taucht in Studs Terkels „The Good War“ auf), kehrte 1946 zurück nach Kalifornien zurück, um seine Studien mit Milhaud fortzusetzen. Es bildete sich eine kleine Gruppe von Jazzmusikern, die das von Milhaud gelernte in ihrer Musik anwenden wollte. Neben Brubeck und Van Kriedt gehörten auch der Trompeter Dick Collins, der Klarinettist Bill Smith, der Gitarrist Jack Weeks und ein gewisser Paul Breitenfeld dazu, der Altsaxophon spielte. So bildete sich das Dave Brubeck Octet, das Ende der Vierzigerjahre für Fantasy erste Aufnahmen machen konnte.

    Breitenfeld, später unter dem Namen Paul Desmond bekannt, wurde zu Brubecks wichtigstem Mitmusiker der nächsten zwei Jahrzehnte. In vielerlei Hinsicht war er das Gegenteil von diesem: In San Francisco geboren, in Kalifornien und New York aufgewachsen, ein „city sophisticate“ mit wenig Interesse an den akademischen Studien bei Milhaud, vielmehr darauf aus, seinen Retro-Stil am Altsaxophon zu perfektionieren, für den ein Benny Carter viel wichtiger war als Charlie Parker. Brubeck wurde bald zum Familienmenschen, Desmond pflegte sein Jungesellendasein, Brubeck war in der Öffentlichkeit ernsthaft, Desmond stets für einen Scherz, eine sarkastische Einlassungen zu haben. Desmond verbrachte allerdings eine sehr schwierige, traurige Kindheit, war über Jahre von seiner vermutlich schwer kranken Mutter getrennt. Er war, so scheint es, zeitlebens von einer grossen Einsamkeit umgeben.

    Das Oktett nahm einige Stücke auf, die in ihrer Verbindung von Jazz und Klassik sehr viel frischer klingen als das meiste, was der spätere „Third Stream“ hervorgebracht hat. Van Kriedt, Smith oder Brubeck arrangierten eigene Stücke und Standards. Manche Aufnahme eröffnet verblüffende Parallelen zur etwa zeitgleichen „Birth of the Cool“-Band von Miles Davis – doch Brubecks Experimente blieben ohne Nachhall. Als es sich als schwierig erwies, mit dem Oktett Auftrittsmöglichkeiten zu finden, enstand das Dave Brubeck Trio mit Ron Crotty am Bass und Cal Tjader am Schlagzeug (über ihn mehr in der nächsten Sendung). Doch Brubecks Start blieb holprig und sein künftiger Sideman Paul Desmond erschwerte ihn unnötig, als er ihm zuerst die Band ausspannte (mit anderem Pianisten natürlich) und dann auch noch verhinderte, dass Brubeck einen Gig „erben“ konnte, auf den er dringend angewiesen war. Später stellte Desmond dann seinen ehemaligen Bandleader als Sideman an, natürlich mit tieferem Lohn, wählte dann wieder einen anderen Pianisten … Brubeck hockte derweil mit Frau und zwei Kindern in einem fensterlosen Eisenschuppen und versuchte, über die Runden zu kommen.

    Um 1950 begann sich Brubecks Ausblick aufzuhellen. Langsam machte die Kunde über den jungen, talentieren Pianisten die Runde, der in Oakland auftrat, der Stadt, über die Gertrude Stein kalauerte: „there is no there there“. Für das kleine Dixieland-Label Coronet führte das Trio noch Ende 1949 eine erste Plattensitzung durch, ab 1950 nahm Brubeck regelmässig für das Label Fantasy Records auf. Es ging nun rasch bergauf, das Trio spielte im Radio und trat bald im renommiertesten Club der Stadt auf, dem Blackhawk.

    Bei einem Gig in Hawaii kam es jedoch 1951 zu einem beinah tödlichen Schwimmunfall. Brubeck lag monatelang im Spital, die Prognose lautete, dass er möglicherweise nie mehr würde gehen können, vom Klavierspiel gar nicht zu reden. Doch er erholte sich wider Erwarten rasch. Allerdings musste er das Klavierspiel neu erlernen – und es wurde ihm klar, dass er eine zweite Stimme neben sich auf der Bühne brauchte, um ihm etwas von der Last abzunehmen, die ihn sonst während der Rehabilitation erdrücken würde. Paul Desmond, inzwischen in New York, hatte schon längst vom Erfolg des Trios gehört und unterliess monatelang keinen Versuch, wieder in die Gunst Brubecks zu gelangen. Nach dem Unfall willigte dieser schliesslich ein. Damit war das famose Dave Brubeck Quartet geboren, das bis 1967 mit Desmond und zunächst wechselnden Rhythmusgruppen Bestand haben sollte.

    Die Sendung stellt vor allem diese ersten Jahre Brubecks vor – das Oktett, das Trio, die ersten Aufnahmen des Quartetts mit Desmond -, kommt aber nicht ganz darum herum, dem späteren Quartett, das ab Mitte der Fünfzigerjahre beim renommierten Label Columbia Records unter Vertrag stand, etwas Zeit zu widmen. Neben ein paar Hits sind es aber vor allem die frühen Aufnahmen für Fantasy, in den Jahren 1951-1954 entstanden, die so manchen vergessenen Diamanten enthalten. Die Zusammenarbeit mit Desmond erklomm manchmal unvorstellbare Höhen, mutete nahezu telepathisch an. Solche Momente sind in der insgesamt gewiss feiner abgestimmteren späten Besetzung – mit Eugene Wright (der die Band zur „integrierten“ machte und zugleich der erste Nicht-Kalifornier an Bord war) und Joe Morello – nicht mehr so oft zu finden wie in den ersten Jahren der Existenz des Quartetts.

    1. Dave Brubeck Octet – Fugue on Bop Themes (ca. 1950)
    2. Dave Brubeck Octet – What Is This Thing Called Love (ca. 1950)
    3. Dave Brubeck Octet – How High the Moon (ca. 1948)
    4. Dave Brubeck Octet – Playland-at-the-Beach (ca. 1948)
    5. Dave Brubeck Trio – Blue Moon (1950)
    6. Dave Brubeck Trio – Laura (1950)
    7. Dave Brubeck Trio – You Stepped Out of a Dream (1950)
    8. Brubeck & Desmond – Over the Rainbow (1952)
    9. Brubeck & Desmond – You Go to My Head (1952)
    10. Dave Brubeck Quartet – How High the Moon (1953)
    11. Dave Brubeck Quartet Featuring Paul Desmond – My Heart Stood Still (ca. 1953)
    12. Brubeck & Desmond – Stardust (1954)
    13. Dave Brubeck Quartet – Blue Rondo à la Turk (1955)
    14. Dave Brubeck Quartet – Take Five (1967)

    DAVE BRUBECK OCTET
    1. Fugue on Bop Themes (Dave Van Kriedt)
    2. What Is This Thing Called Love (Cole Porter) (arr. Bill Smith)
    3. How High the Moon (Hamilton–Lewis)
    4. Playland-at-the-Beach (Dave Brubeck)

    Dick Collins (t), William O. Smith (cl), Paul Desmond (as), David Van Kriedt (ts), Bob Collins (bari), Dave Brubeck (p), Jack Weeks (b), Cal Tjader (d)
    NBC audition, San Francisco, CA, vermutlich 1948 (How High the Moon, Playland) bzw. 1950 (What Is This Thing, Fugue)
    von: Dave Brubeck Octet (Fantasy)

    Zum Auftakt hören wir das Oktett, das Dave Brubeck mit Studienkollegen gründete – die Hälfte von ihnen studierte bei Darius Milhaud (1892–1974), dem französischen Komponisten, Mitglied von Les Six, dessen jüdische Familie beim Einmarsch der Deutschen in Frankreich fliehen musste.

    Im Oktett fanden kompositorische Ideen aus den Studien bei Milhaud mit Jazz zusammen. In den Fünfzigerjahren sollten solche Experimente unter dem Etikett „Third Stream“ grössere Verbreitung erfahren (auch Musiker wie Miles Davis, Charles Mingus, J. J. Johnson oder George Russell sollten bei Third Stream-Aufnahmen mitwirken). Doch Brubecks frühe Aufnahmen – die Kompositionen und Arrangements stammten neben Brubeck vor allem von Bill Smith (der auch später immer mal wieder mit Brubeck arbeiten sollte) und Dave Van Kriedt (der mit Brubeck und Desmond auf dem späteren Album „Reunion“ zu hören ist).

    1946, als die Gruppe entstand, gab es praktisch kein Vorbilder für ihre Musik – vielleicht Raymond Scott oder Alec Wilder. Die Musik der Studenten formte sich aus dem Drang, eine Stimme zu finden, dazu wurden klassische Techniken wie der Kontrapunkt verwendet. Eines der besten „klassischen“ Stücke ist Dave Van Kriedts Fugue on Bop Themes, mit dem die Sendung öffnet.


    Das Brubeck-Oktett bei einer Probe 1947: Jack Weeks (b), Cal Tjader (d), Dick Collins (t), Bob Collins (tb), Brubeck, Paul Desmond (as), David Van Kriedt (ts) (Quelle)

    Es folgt Bill Smiths Arrangement des Standards What Is This Thing Called Love. Hier finden Elemente von Klassik, Jazz und Pop zusammen – und schaffen eine sehr eigenwillige Atmosphäre. Die melodische Qualität des Songs (Pop) trifft auf eine attraktive harmonische Palette (Klassik), rhythmisch läuft darunter aber Jazz. Das ganze ergibt eine Art Hybrid von ziemlich grossem Charme.

    How High the Moon entstand als Gemeinschaftswerk. Es bietet in knapp sieben Minuten einen lehrreichen und äusserst lustvollen Gang durch die Jazzgeschichte bis in die damalige Gegenwart. Eine „novelty“, gewiss, aber wie unverdorben und direkt in ihrer Imitation von Dixieland, von Benny Goodman, Boogie Woogie etc. Leonard Bernstein versuchte sich später mit Miles Davis und dem Song „Sweet Sue“ an einem ähnlichen Unterfangen, doch Brubecks Truppe ist da weit überlegen in ihrer unbedarften Spontanität.


    Dave Brubeck mit Darius Milhaud

    Den Abschluss dieses eröffnenden Segments mach eine Miniatur aus Brubecks Feder, Playland-at-the-Beach, seine wohl beste „klassische“ Komposition aus dieser Zeit, die gemäss seinen Worten eine „short musical description of a San Francisco scene“ biete. Trotz der Kürze bietet das Stück einen flüssigen Gang durch verschiedene Stimmungen.

    DAVE BRUBECK TRIO
    5. Blue Moon (Rodgers–Hart)
    6. Laura (Raksin–Mercer)
    7. You Stepped Out of a Dream (Brown–Kahn)

    Dave Brubeck (p), Ron Crotty (b), Cal Tjader (d, bgo)
    San Francisco, California, März 1949 (Blue Moon, Laura), Januar 1950 (You Stepped Out of a Dream)
    von: The Dave Brubeck Trio/Distinctive Rhythm Instrumentals (Fantasy 10″-LP; CD: Fantasy)

    Es erwies sich schwierig, mit dem Oktett Auftrittsmöglichkeiten zu finden. Dennoch hatte die Band vier Jahre bestand. Obwohl die Gruppe in künstlerischer Hinsicht einiges zu bieten hatte, bleibt sie eine Fussnote in Brubecks Frühwerk, ein Vorläufer zu späteren musikalischen Schriten.

    Der nächste war die Formation des Dave Brubeck Trios mit der Rhythmusgruppe des Oktettes, in der Ron Crotty am Bass auf Jack Weeks gefolgt war. Die angestrebte Ästhetik unterschied sich nicht grundlegend von jener des Oktetts: ambitionierte Arragements, „;Miniatur-Konzerte“ mit verschiedenen Teilen, mit dramaturgischem Aufbau, mit Klimax und Entspannung.

    Blue Moon war damals ein beliebter Popsong – Brubeck macht aus ihm einen seltsamen Hybrid zwischen Tin Pan Alley und progressiver klassischer Musik – und damit wird aus dieser Aufnahme ein Vorbote von kommenden Entwicklungen. Das Stück stammt wie die beissende Interpretation von Laura – die Block-Akkorde und Dissonanzen, die „harte“ Rhythmik lässt an Bartók denken – von der allerersten Plattensitzung des Trios für das Dixieland-Label Coronet, das wenig später von der Bildfläche verschwand, worauf Fantasy die Aufnahmen erwarb.


    Das Dave Brubeck Trio mit Ron Crotty (b) und Cal Tjader (d) im Jahr 1950 (Quelle)

    Das Label Fantasy wurde von den Weiss-Brüdern gegründet – mit der Absicht, Profit zu machen, was für ein Jazzlabel schon damals ein reichlich seltsamer Einfall war. Benannt wurde das Label nach einem damals populären Science-Fiction-Magazin. Die Weiss-Brüder verkauften später an eine Investorengruppe unter Saul Zaentz, allerdings hatten sie bereits die Gruppe von der Berkeley High unter Vertrag genommen, die bei Fantasy für den grossen Reibach sorgen sollte. Damals hiess die Band noch The Blue Velvets, die Weissens nannte sie in The Golliwogs um, berühmt wurde sie dann als Creedence Clearwater Revival.

    Brubecks Musik war für den frühen Erfolg von Fantasy zentral, doch die Geschäftbeziehung war von einem – vorsätzlichen? – Missverständnis überschattet: Brubeck wurde im Glauben gelassen, dass er Teilhaber des Labels sei, doch als das Label prosperierte und Gewinn abwarf, machten die Weissens (die übrigens, ein leidiges Kapitel, keine schwarzen Musiker aufnahmen) ihm klar, dass das nicht der Fall sei, ihm gehörte nicht die Hälfte des Labels sondern bloss die Hälfte seiner Aufnahmen. Dass es zum Bruch kam – Brubeck wechselte 1954 zum Majorlabel Columbia Records – ist daher wenig überraschend. Doch zum Glück entstanden für Fantasy noch eine Reihe weiterer toller Aufnahmen.

    You Stepped Out of a Dream stammt von der zweiten Trio-Session und ist in mehrerer Hinsicht interessant: Brubeck stellt das Thema mit seiner eigenen Re-Harmonisierung vor, Cal Tjader spielt Bongos, im Solo wechselt Brubeck zwischen 4/4- und 6/8-Takt hin und her – eine später weit verbreitete Angewohnheit, die z.B. McCoy Tyner mit John Coltranes Quartett oft anwendete.


    BRUBECK AND DESMOND
    8. Over the Rainbow (Arlen–Harburg)
    9. You Go to My Head (Gillespie–Coots)

    Paul Desmond (as), Dave Brubeck (p), Ron Crotty (b) Lloyd Davis (d)
    live, Storyville, Boston, Massachusetts, Oktober 1952
    von: Brubeck and Desmond (Fantasy; CD: „Dave Brubeck/Paul Desmond“, Fantasy)

    Fantasy nahm Brubeck immer wieder auf – manchmal ohne dass er sich dessen bewusst war, oft live und dies in erstaunlich guter Qualität. Nach einem nahezu tödlichen Schwimmunfall Anfang 1951 war es klar, dass Brubeck – noch in der Rehabilitationsphase – die Last nicht mehr allein stemmen konnte, das Trio also nicht mehr das geeignete Format war. Sein ehemaliger Kollege Paul Desmond, inzwischen in New York, hatte ihm in der Zwischenzeit übel mitgespielt, bemühte sich aber, seitdem er vom Erfolg des Brubeck Trios Wind bekommen hatte, hartnäckig darum, Mitglied der Gruppe zu werden. Der Unfall Brubecks gab den Ausschlag und Desmond kehrte zurück. Im Sommer 1951 begannen die Auftritte des neuen Dave Brubeck Quartet, das mit ein paar Wechseln in der Rhythmusgruppe bis 1967 Bestand haben sollte.

    Rhythmisch pflegte die Gruppe in dieser frühen Phase eher einen leicht swingenden Kansas City-Stil als dass sie vom Bebop geprägt war – ganz im Gegensatz zu Brubecks progressiven Anwandlungen, seinem Flirt mit der Avantgarde. Basie und Jay McShann waren nun wichtiger als Bartók oder Milhaud, wichtiger auch als Charlie Parker und Dizzy Gillespie. Auch Paul Desmonds Stil am Altsaxophon schien wie aus der Zeit gefallen, ein alter Meister wie Benny Carter war viel bedeutender als Charlie Parker. Aber auch die klassische Schulung merkte man seinem Spiel zeitlebens an.

    Over the Rainbow ist eine Perle in Brubecks frühem Werk. Brubeck öffnet fast ohne Verweis auf Harold Arlens Song, präsentiert neue Harmonien, eine neue Melodie, wechselt allmählich in eine Block-Akkord-Spielweise über, spielt immer relaxter, während er rhythmisch komplexere Figuren aufbaut. Plötzlich taucht im Bassregister eine Gegenmelodie auf, unter wellenförmigen Akkorden im hohen Register. Und dann, völlig unerwartet, steigt Desmond ein und präsentiert nun doch noch die Melodie von Arlen – doch auch er verändert sie freimütig, nur ganz wenig aber äusserst prägnant. Und so endet das Stück dann auch, ohne in die angestammte Dur-Tonart zurückzuweckseln.


    Brubeck und Desmond im Storyville, 1954

    Fast noch besser ist You Go to My Head vom selben Auftritt im berühmten Storyville in Boston. Brubeck und Desmond sollten diese Höhen später noch ab und zu erreichen, aber übertroffen haben sie sie wohl nie. Ihre Interaktion ist von einer nahezu telepathischen Sicherheit. Desmond lässt sich von der Melodie leiten, sein Solo erreicht eine Stringenz, die ihn all seine Coolness vergessen lässt, er spielt mit dem Herz auf der Zunge – und kommt dennoch um eine ganze Reihe von Zitaten nicht herum, doch diese werden völlig organisch in sein Solo eingebaut. Im Anschluss an so ein Solo selbst solieren zu müssen ist eine riesige Herausforderung, doch Brubeck zeigt sich der Aufgabe gewachsen, beginnt introspektiv, kehrt zur Melodie des Songs zurück und lässt sein Solo langsam an Intensität gewinnen. Als er eine tolle akkordische Idee wiederholt, hört man im Hintergrund Desmond: „Yeah!“ – No further questions, your honour.

    DAVE BRUBECK QUARTET
    10. How High the Moon (Hamilton–Lewis)

    Paul Desmond (as), Dave Brubeck (p), Ron Crotty (b), Lloyd Davis (d)
    live, Finney Chapel, Oberlin College, Oberlin, Ohio, 2. März 1953
    von: Jazz at Oberlin (Fantasy; CD: Fantasy/OJCCD))

    Desmond mochte schnelle Tempi nie besonders. Doch an diesem Konzert vom März 1953 klingt er wie ausgewechselt: er speit maschinengewehrsalvenschnelle Phrasen wie ein in der Wolle gefärbter Bebopper! Auch das Publikum scheint überrascht, der Applaus ist riesig. Die Band wechselt gleich zu Beginn von Desmonds Solo in double time und dieser lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er greift in die vollen, präsentiert eine ganze Reihe von schlau angebrachten Zitaten, spielt mit sich selbst Call-and-Response, dabei verschiedene Register des Saxophons nutzend, stellenweise gelingt es ihm beinah, im Alleingang kontrapunktische Effekte zu erzeugen.

    DAVE BRUBEK
    11. My Heart Stood Still (Rodgers–Hart)

    Dave Brubeck (p)
    Bill Bates‘ home studio, Los Angeles, ohne Datum (Oktober 1953?)
    von: Dave Brubeck Quartet Featuring Paul Desmond (Fantasy; CD: „Dave Brubeck/Paul Desmond“, Fantasy/OJCCD)

    Von einer Heimaufnahme stammt diese bezaubernde Version von „My Heart Stood Still“, Rodgers und Harts Song aus dem Jahr 1927. Wer Bill Bates ist, weiss ich nicht, mit den Bassisten-Brüdern Bob und Norm (die beide mit Brubeck spielten) scheint er nichts zu tun zu haben. In den Liner Notes zu Paul Desmonds Album „Desmond“ (Fantasy 3-21 – wir hören daraus in der nächsten Sendung eine Kostprobe), bei dem die „Bill Bates Singers“ mitwirken, schreibt Desmond in seinen Liner Notes: „bill bates lives in l.a. with 2 ampexes (ampice?), a wife, several cats and a stuffed owl […]“.


    DAVE BRUBECK QUARTET
    12. Stardust (Hoagy Carmichael)

    Paul Desmond (as), Dave Brubeck (p), Wyatt „Bull“ Ruther (b), Joe Dodge (d)
    live, Berkeley, 1. März 1954
    von: Dave Brubeck Quartet (Fantasy; CD: „The Dave Brubeck Quartet Featuring Paul Desmond: Stardust“, Fantasy/OJCCD)

    Im Rahmen einer Vorlesung an der Uni in Berkeley wurde diese Version von „Stardust“ aufgenommen. Brubeck spielt ein Upright-Piano, Drummer hatte sein Kit direkt an der Wand aufgestellt, Studenten liefen in und aus der Halle … doch das Quartett lässt sich nicht stören und die Aufnahmequalität ist den Umständen entsprechend erneut sehr gut. Desmond kümmert sich nicht gross um das Thema sondern steigt gleich mit einer Improvisation ein, die sich nicht auf eine klare Tonart festmachen lässt. Brubeck nimmt auch hier die Herausforderung an und spielt seinerseits ein hervorragendes Solo, dabei die Stimmung aufgreifend, die Desmond geprägt hat. Dieser kehrt danach noch einmal zurück – und spielt Linien, die in ihrem Wagemut auch Desmonds Zeitgenossen Lee Konitz gut gestanden wären.

    Am 8. November 1954 fand sich Brubeck auf dem Cover des Time Magazine wieder:

    DAVE BRUBECK QUARTET
    13. Blue Rondo à la Turk (Dave Brubeck)

    Paul Desmond (as), Dave Brubeck (p), Eugene Wright (b), Joe Morello (d)
    New York City, 18. August 1959
    von: Time Out (Columbia)

    Wir machen einen Sprung, mitten in die Columbia-Jahre hinein – und zu einer von Brubecks bekanntesten Nummern. Das Stück erschien auf Brubecks Bestseller-Album „Time Out“, das im selben Jahr wie „Kind of Blue“ erschien und dieses in Sachen Verkaufszahlen übertraf. Coltrane brachte in diesem Jahr sein „Giants Steps“ heraus, Charles Mingus Alben wie „Blues & Roots“ und „Mingus Ah Um“, Ornette Coleman schüttelte die Jazzszene mit „Tomorrow Is the Question“, „The Change of the Century“ und „The Shape of Jazz to Come“ mächtig durch, während Sonny Rollins auf der Williamsburg Bridge gesichtet wurde, sein Tenorsaxophon in der Hand.

    „Blue Rondo à la Turk“ wurde zum Opener von Brubecks erfolgreichstem Album, „Time Out“. Das Thema ist im 9/8-Takt komponiert, gruppiert in drei Zweier- und einer Dreiergruppe (2-2-2-3). Doch nicht nur die „time signatures“ hatten sich geändert: Brubecks Quartett hatte schon vor ein paar Jahren am Blues Gefallen gefunden. Und mit dem Einstieg von Desmonds Solos – in je zwei alternierenden 4/4 und 9/8-Takten, wobei der Viertel drei Achteln entspricht – wird das Stück zur überragenden Demonstration von Brubeck und Desmonds Kunst, den Blues jenseits aller Klischees zu spielen. Brubeck steigt mit Linien ein, doch schon bald sind wieder seine Block-Akkorde zu hören. Ganz hervorragend funktioniert dabei das Zusammenspiel mit Eugene Wright und Joe Morello, der exzellenten und langlebigen Rhythmusgruppe des Quartetts, die bis zum letzten Konzert Bestand haben sollte.

    DAVE BRUBECK QUARTET
    14. Take Five (Paul Desmond)

    Paul Desmond (as), Dave Brubeck (p), Eugene Wright (b), Joe Morello (d)
    live, Pittsburgh, Pennsylvania, 26. Dezember 1967
    von: Their Last Time Out – The Unreleased Concert, December 26, 1967 (2CD, Sony, 2011)

    „Take Five“ nahm seinen Anfang auch auf „Time Out“, eine einfache Vamp-Nummer, skizziert von Paul Desmond als Feature für den Drummer Joe Morello. Das Stück erschien als Single und wurde zum Radio-Überraschungshit des Jahres und zum ersten Million-Seller des Jazz, der ersten Jazz-Single in den Billboard Hot 100-Charts. Der „Take Five“-Rhythmus – ein walzerhafter Dreier gefolgt von einem Kicker in zwei mit Betonung auf Schlag vier – verbreitete sich schnell, tauchte im Thema der TV-Serie „Mission Impossible“ auf ebenso wie in Jethro Tulls „Living in the Past“ oder Nick Drakes „River Man“.

    Brubeck hatte, so erinnerte er sich später, mit den Sessions für „Time Out“ gleich drei ungeschriebene Columbia-Gesetze gebrochen: 1. enthielt das Album ausschliesslich Originals und keine Standards; 2. waren die Stücke mit ihren ungraden, manchmal wechselden Metren kaum tanzbar, und 3. hatte das Label davor noch nie ein Gemälde für das Cover eines Jazz-Albums verwendet. Columbia wollte das Album zunächst also gar nicht herausbringen.

    Teo Macero legte ein gutes Wort für Brubecks Platte ein, ebenso Goddard Lieberson, der Präsident von Columbia. Wie Macero und Brubeck hatte auch er Komposition studiert und fand grossen Gefallen an der ungewöhnlichen Musik. Es war sogar seine Idee, „Take Five“ und „Blue Rondo à la Turk“ als Single zu veröffentlichen.

    Die Version von „Take Five“, die wir hier hören, wurde als Zugabe beim allerletzten Auftritt des längst klassischen Brubeck Quartetts gespielt, am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1967. In dieser Version spielt Morello allerdings kein Solo, er hatte direkt davor ein langes Solo gespielt. Doch die Gruppe macht das durch ihre energetische Performance mehr denn wett. Desmond rifft mit viel Verve und scheint noch hier die Möglichkeiten zu erkunden, die das Stück bietet. Brubeck lässt das Ostinato zwischendurch fallen, das er auf der Originaleinspielung fast sklavisch durchgehalten hatte. In seinem Solo wird erneut die Klasse des Tandems Wright/Morello spürbar, das ihn zugleich weich bettet und anspornt. Mit einer magischen Performance endete diese grossartige Combo. Brubeck, der die Band auflöste, weil er sich zurückziehen wollte, war zwar wenige Monate später wieder zurück, aber Desmond gehörte nicht mehr zur neuen Gruppe, stiess jedoch hie und da als Gast noch dazu.

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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