Re: Jazz zwischen Kunst und Kommerz

#9118473  | PERMALINK

bullschuetz

Registriert seit: 16.12.2008

Beiträge: 2,112

soulpopeBin mir aber sicher, daß der Motown Experte bullschuetz hier mehr Erleuchtung bringen kann….

Na, da haben wir den Salat … So schnell wird man zum „Experten“. Aber gut, ich will mich nicht drücken (und nehme Korrekturen / Belehrungen dankbar auf).

Bei Wonder spielte sicher eine wichtige Rolle, dass seine Bindung an Motown sehr emotional war. Er kam ja als Kind zu der Firma, wurde quasi zu einer Art Maskottchen für die Musiker, hing im Studio rum, das, wie man liest, fast so was wie ein Spielzimmer für ihn war, trommelte hier auf den Bongos, klimperte da auf dem Klavier, durfte am Joint ziehen, lernte viel über Musik und das Leben, genoss in der Clique der viel älteren Musiker eine Art education sentimentale, bekam wohl auch ordentlich Frauengeschichten der Musiker mit, spielte ihnen Streiche und nichts wurde ihm übel genommen – und dazu wurde er systematisch gefördert und aufgebaut, bekam in Clarence Paul einen Mentor zur Seite. Man wird wohl vermuten dürfen, dass Motown für Wonder, der ja als „Little Stevie Wonder“ anfing, ein lupenreiner Kinderstar, schon auch sowas wie eine Familie war (er lernte hier ja sogar seine Frau kennen, Syreeta Wright war bei Motown Sekretärin). Da gibt es schon viele Gründe, weshalb er sich später nicht abwandte, sondern nur freischwamm. Um in der Familienmetapher zu bleiben: Wenn Du erwachsen wirst, brichst du ja in der Regel auch nicht den Kontakt zu den Eltern ab, sondern verklickerst ihnen bloß, dass sie dir nicht mehr überall reinreden dürfen.

Als Wonder volljährig wurde, also 21, lief sein Vertrag mit Motown aus – und er bekam jetzt Zugriff auf die Tantiemen, die für ihn beiseitegelegt worden waren. Sprich: Auf einen Schlag war seine Machtposition deutlich gestärkt. Er nutzte das, um einen neuen, deutlich verbesserten Vertrag mit Motown auszuhandeln, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch in künstlerischer (volle Freiheit). Wonder (bzw. er und seine Berater – das kann ich nicht näher spezifizieren) muss da wohl auch ein recht tougher Verhandlungspartner und Pokerspieler gewesen sein, der Motown durchaus hinhielt. Solange die Hängepartie währte, begann Wonder bereits, mit den neuerdings wegen seiner Volljährigkeit verfügbaren Geldern ein eigenes Tonstudio einzurichten und ein eigenes Label namens Black Bull Music zu gründen, wodurch er die Rechte an eigenen Songs behalten konnte und sich aus der fürsorglichen Umarmung von Motown löste. Der neue Vertrag muss ein wahres Papiermonstrum gewesen sein, ohne Vergleichsmaßstab in der Motown-Historie bis dato.

Und Marvin Gaye? Vermutlich komplizierter, aber in Teilen ähnlich – naja, eigentlich kenne ich mich da vor allem nicht sonderlich aus. Von einer starken emotionalen Bindung ist aber auch auszugehen, Gaye war ja sogar mit Berry Gordys Schwester verheiratet. Und auch wenn gut dokumentiert ist, mit welcher Entschlossenheit Gaye um What’s Goin On kämpfen musste (Trennungsdrohungen etc, das volle Programm) – vermutlich darf man einfach nicht unterstellen, dass Motown bloß gängelnd, kreativitätshemmend, ausbeuterisch war. Der Laden bot eben auch immense Möglichkeiten, das war das reinste Kreativbienenvolk.

Buchtipp: Nelson George, Where Did Our Love Go? The Rise and Fall of the Motown Sound

--