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Anonym
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nail75Jeder Musiker, der für ein Label Musik veröffentlicht, muss Leute bezahlen, die Produktion, Herstellung und Vertrieb organisieren.
Richtig. Ich glaube aber, dass es jenseits dieser allgemeinen Feststellung interessant sein kann, die jeweiligen Produktionsbesonderheiten in den Blick zu nehmen. Ich bilde mal zwei Idealtypen (im Wissen, dass die in dieser Reinform vielleicht selten oder nie vorkommen – aber so lässt sich die Spannweite der Möglichkeiten und Mischformen besser ermessen):
(1) Ein Musiker folgt seiner Ausdrucksvision, findet seinen Stil, schreibt seine Songs, entwickelt also nach rein ästhetischen Prinzipien seine Handschrift und findet dann in Verkaufs- und Vertriebsfragen kompetente Leute, die ihm dabei helfen, diese Musik unter die Leute zu bringen. Das ist das Modell des „freien Künstlers“, wie es beim Autorenkino oder Picasso oder Dylan wirkt (ja, wie gesagt, ich weiß, ich schmirgle gerade ein paar Kanten weg). Pointiert gesagt: Ein Künstler macht Kunst, dabei hilft die Firma, indem sie Infastruktur und kompetente Aufnahmehandwerker zur Verfügung stellt, ansonsten aber in den eigentlichen Kreativprozess eher nicht eingreift; und danach sorgt eine Firma für die Verbreitung dieser mehr oder weniger in künstlerischer Autonomie entstandenen Musik. Motto: Ich male hier genialisch was auf die Leinwand – und du, Galerist, redest mir da bitte gar nicht rein, sondern besorgst mir jetzt einfach einen Käufer..
(2) Eine Firma setzt sich zum Ziel, Hits zu produzieren, castet talentierte Musiker, bringt sie mit kompetenten Beratern, Lehrern, Begleitmusikern, Produzenten zusammen, gestattet den künstlerisch Beteiligten gewisse Freiräume, unterzieht sie aber auch einer straffen Qualitätskontrolle, lässt dies passieren, sagt bei jenem, da müsst ihr nochmal nacharbeiten. Die „künstlerische Freiheit“ muss sich hier teilweise einem Apparat unterordnen, die „Kommerzabteilung“ ist der Musikherstellung nicht zeitlich nachgeordnet, sondern greift in den Entstehungsprozess des musikalischen Erzeugnisses mit ein, prägt ihn mit.
Motown folgte in weiten Phasen dem Modell 2. Was dazu führte, dass Künstler mit einer gewachsenen hausinternen Machtposition damit irgendwann nicht mehr zufrieden waren und es schafften, den Akzent weg von Modell 2 hin zu Modell 1 zu verschieben. Beispiele: Marvin Gaye und Stevie Wonder (wobei sie sich interessanterweise keinem anderen Label anschlossen, sondern diese größere Freiheit innerhalb des Motown-Betriebs durchsetzten).
Ich mache überhaupt kein Hehl daraus, dass mir Position (1) prinzipiell sympathischer ist. Ich würde sogar vermuten, dass Position (2) in vielen Fällen potenziell kunstfeindlich ist. Das krasse Beispiel ist das Prinzip TV-Castingshow, das perverse Züge trägt. Und genau deshalb finde ich Motown „faszinierend“ und auch „provozierend“, weil da trotz oder vielleicht sogar wegen der Anwendung des Prinzips (2) etwas herauskam, das in der historischen Nachbetrachtung musikalisch gehaltvoll und oft genug künstlerisch innovativ war.
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