Re: Die „Zauberflöte ein Machwerk“? Anderes?

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nicht_vom_forum

Registriert seit: 18.01.2009

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otis
PS: Und zu allerletzt: Den Faust kennt man, Romeo und Julia, etc. Niemand käme auf den Gedanken, den geschriebenen Texten ihren Werk „an sich“-Charakter abzusprechen. Das ist nun mal der Faust, und nicht die Gründgens-Aufführung. Punkt, basta, aus. Wie man ihn auch immer auf die Bühne bringt.
Ach soo, in der Musik ist das alles anders, weil sich die meisten Menschen die Musik nicht vorstellen können anhand der Noten? Können sie nicht, keine Frage. Aber die Aufführung bleibt Behelf, das Werk an sich war vorher da und bleibt auch in der Laien-Aufführung noch vorhanden.

Das sollte man meiner Meinung nach etwas differenzieren. Werke aus literarischen Gattungen wie Roman oder Lyrik sind m. E. noch am Ehesten „Werk an sich“ (abgesehen von Aspekten wie sprachlichem und historischen Kontext). Hier liegt fast alles in der Kontrolle des Autors, der sich dessen auch bewusst ist. In der Musik würde ich das am ehesten mit Uraufführungen oder mit Tonträgern, die unter Leitung des Komponisten entstanden sind, vergleichen. Bei Dramen oder Drehbüchern sehe ich das schon anders. Hier gibt es zwar eine Art „Werk an sich“ als Kern, aber die Entscheidungen bei der Aufführung, die von Regisseuren, Schauspielern, etc. getroffen werden, stehen fast gleichwertig neben dem eigentlichen Text. Wichtig ist mir dabei der Aspekt, dass dem Autor diese Tatsache schon beim Schreiben bekannt ist und er weiß, dass er sein „Werk an sich“ aus seiner Kontrolle entlassen muss (und das umso mehr, je erfolgreicher das Stück wird) und wesentliche Aspekte der meisten späteren Aufführungen von anderen bestimmt werden. Um die Gesamtwirkung eines Werkes zu beurteilen, ist es daher m. E. in der Literatur wie in der Musik durchaus sinnvoll, über das „Werk an sich“ hinauszugehen und verschiedene Interpretationen bei der Rezeption zu berücksichtigen. Nicht (nur) wegen der eventuell mangelhaften Fähigkeit des Publikums, Noten zu lesen oder der Unschärfe und den fehlenden Informationen in Standard-Notenschrift, sondern weil die Problematik der Fremd-Interpretation allen Werken vor Erfindung des Tonträgers inhärent ist. Eine Beschränkung auf Text oder Partitur lässt deswegen meiner Meinung nach immer Wesentliches außen vor, wenn man eine Werk als Gesamt-Kunstwerk beurteilen will.

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