Re: Die „Zauberflöte ein Machwerk“? Anderes?

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otis
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Beiträge: 22,557

gypsy tail windJedenfalls bedingt ein solcher Austausch, wenn er wirklich in die Tiefe gehen soll, eine grosse Offenheit aller beteiligten. Weil neulich Kafkas Geburtstag war … in einer kleinen Leserunde, der ich in letzter Zeit viel zu oft fernbleibe, gab es mal jemand, der die „Strafkolonie“ als komplett entschlüsselbar hielt, wenn man nur die Bibel appliziere … mir geht es in einer solchen Situation so, dass ich mich entweder völlig abkapsele, weil die Diskussion in meinen Augen die Relevanzschwelle so weit unterbietet, dass ich lieber aus dem Fenster gucke oder mir einen widerlichen Brühkaffee aus dem Automaten hole … oder es wird irgendwann ein Punkt erreicht, bei dem ich mich zu sammeln versuche und den ganzen gelaberten Stuss Schritt für Schritt in schroffen und deutlichen Worten widerlege – letzteres bedingt wiederum, dass man sich in der betrefffenden Runde öffnen kann, was gerade wenn diese Runde durch Anwesenheit gewisser eher fremder Gestalten erweitert wird, nicht einfach fällt … es geht eben um das Lebendige, und so ist das doch mit der Musik auch. Es fällt eben leichter, in Floskeln zu bleiben, ein paar – echt oder vermeintlich – kluge Krümeln zu streuen, als sich zu öffnen und darüber zu reden, was einen in der zur Diskussion gestellten Musik im Innersten berührt (und worin man, darauf und auf sein Wissen bauend, die Essenz – um einen vielleicht besseren Begriff als das „an sich“ einzführen – des Werkes sieht).

Man könnte zu vielem vieles sagen, aber das Obige hat mich dann doch erstaunt und irgendwo auch verletzt : In eine Ecke gestellt zu werden mit jemandem, dessen Weltsicht Bibelformat zu haben scheint, und mir Offenheit abzusprechen, wo ich gerade diese doch hier vortrage.
Ich kann und will also nicht auf alles eingehen, manches oben geäußerte verstehe ich auch einfach inhaltlich nicht.

Aber der Reihe nach:
H.K. Metzger scheint sich mir damals kaum mehr Freunde gemacht zu haben als ich mir in diesem Thread. Das mag so oder so zu denken geben. Ich finde das Buch gerade nicht, es war damals Standardlektüre. Ich muss es hier nicht rekapitulieren, könnte es auch nicht, zumal es mir hier um die eigentlichen Aussagen dort gar nicht geht. Soweit ich die Rezeptionsgeschichte der Klassik in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. mitbekommen habe, war es eines der Bücher, die in der Breite Umdenkungsgprozesse unter westdeutschen Klassikhörern ausgelöst haben, neben Hildesheimers Mozart vielleicht. Inwieweit das heute alles Allgemeingut ist, vermag ich nicht zu sagen. Der Titel war also nur ein Aufhänger.

Wie aus dem Threadtitel und dem Eingangspost unschwer zu erlesen ist, geht es mir um Werke, mit denen man (ich, du, wer auch immer) als Hörer nicht zurechtkommt. Und um das Warum? Warum insistiert man dann darauf hören zu wollen, was mich im Innersten berührt? Bizarr.
Ja, verdammt, da gibt es Tausende von Posts, in denen ich solche Bekundungen hier losgeworden bin, im Klassikthread eher weniger, keine Frage. Was aber, wenn das daran liegt -und das gehört dann bzgl. Offenheit hierher- wenn ich zu großen Teilen meines Lebens finanziell nicht in der Lage war, mir x Versionen eines Stückes zuzulegen, und heute die Zeit fehlt, mir manches vergleichend anzuhören? Es mussten mir ein, zwei, drei reichen, bei besonders bevorzugten Stücken waren es auch mehr. Kann ich mich da in Diskussionen um Interpretationen einmischen? Und wer zig Versionen sein Eigen nennt, wird der noch über ein Werk „an sich“ diskutieren wollen? Und überhaupt, erinnern kann ich mich in diesem Thread an kaum mehr als ein paar Posts, die konkret die Musik und ihre Machart thematisierten. Dank also an Grünschnabels Erwiderung bzgl. LvB I und II. Ich werde es noch einmal versuchen.

Völlig schleierhaft und von mir unverstanden ist die massive Ablehnung von Relativismus, was auch immer darunter verstanden wurde, wenn sie auf der anderen Seite von höchstgezogenem Naserümpfen flankiert wird, sobald jemand seine subjektiv begründete Abwendung von einem Werk hier vorträgt. Was ist denn weniger als Relativismus? Das Ganze dann noch als „Floskeln“ oder, „ein paar – echt oder vermeintlich – kluge Krümel“ diffamiert. Danke.

Niemand ist gezwungen in einem Raum zu bleiben, in dem er sich nicht wohl oder unverstanden fühlt, dessen Tür- oder Relevanzschwelle die eigene allzu weit unterbietet. Jeder mag sich seinen Brühkaffee machen, keiner muss hier mitlesen.

Zuguterletzt, vielleicht lässt sich dann etwas besser verstehen, worauf ich mit dem einen oder anderen Post hinauswollte:
Ich persönlich lehne es für mich ab, mich von irgendetwas überwältigen zu lassen. (Ich habe „überwältigen“ geschrieben, nicht „berühren, nicht „anrühren“ …), mir und meinen Gefühlen also Gewalt antun zu lassen, das Denken ausschalten zu lassen. Das lehne ich für mich persönlich ab (ist das jetzt deutlich genug, das kann jeder gern anders sehen oder der Musik zugestehen, der Politik aber nicht etc.), das ist für mich ein ästhetisches Ausschlusskriterium, was Musik, Kino, Lektüre, Politik usw. anbelangt. Ergo lehne ich auch Musik ab, bei der ich das Gefühl habe, dass sie sich mir in dieser Form nähert. Das mag man vorurteilsbeladen, engstirnig, was auch immer nennen, aber es darf (muss) in meinen Augen beim Rezipienten benenn- und begründbare Kritierien geben, die sich einem Kunstwerk entgegenstemmen, erst dann kann es seine Wirkung im Hörer, Leser… möglicherweise voll entfalten. Solche mögen allgemeinere Kriterien sein, politisch begründete, philosophisch orientierte, emotional motivierte, wohl bei jedem Menschen verschieden gelagert. Aber aus ihnen lassen sich ästhetische Anforderungen dann ableiten.
Und wenn ich zu den heiklen Werken nun einmal den 4. Satz der 9. (Les Preludes erst recht) zähle, sei es mir doch gestattet. Ist es Leichenschändung oder Gotteslästerung, wenn so etwas gesagt wird und, vielleicht ein wenig plakativ und provozierend, formuliert wird?
Ich mag die Zauberflöte im Übrigen, aber da kommt es tatsächlich auf die Aufführung (in meinen Ohren nicht auf die konservierte Interpretation) an, ob sie funktioniert. Bei Cosi und dem Giovanni ist es Wunder genug, dass sie da sind, wie auch immer man als Ausführender sich daran abarbeiten mag.

PS: Und zu allerletzt: Den Faust kennt man, Romeo und Julia, etc. Niemand käme auf den Gedanken, den geschriebenen Texten ihren Werk „an sich“-Charakter abzusprechen. Das ist nun mal der Faust, und nicht die Gründgens-Aufführung. Punkt, basta, aus. Wie man ihn auch immer auf die Bühne bringt.
Ach soo, in der Musik ist das alles anders, weil sich die meisten Menschen die Musik nicht vorstellen können anhand der Noten? Können sie nicht, keine Frage. Aber die Aufführung bleibt Behelf, das Werk an sich war vorher da und bleibt auch in der Laien-Aufführung noch vorhanden.

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