Re: Die „Zauberflöte ein Machwerk“? Anderes?

#8907537  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 69,529

Es ist sehr viel gesagt worden, ich glaube nicht, dass ich eine kluge Antwort auf all die Dinge hinkriege, die mir unter den Nägeln brennen, aber ein wenig sticheln mag ich dennoch noch einmal :-)

grünschnabelDen Zusammenhang zu meiner Äußerung zuvor habe ich nicht klar gesehen. Mir ging es darum, dass die Empfindung von Banalität bezüglich des „Freude“-Themas aus dem vierten Satz kein Problem darstellt. Ich sehe den Austausch auf der Empfindungsebene als absolut offen an. Jeder soll bitte sagen, was ihn berührt und wie es ihn berührt. Wenn es dann aber um den Anspruch ginge, eine ästhetisch-qualitative Ebene anzusteuern, müssten intersubjektiv nachvollziehbare Kriterien bemüht werden.

Der Zusammenhang war kein zwingender – bloss meine Vermutung, dass mal wieder die Verwurstung des Werkes zu diesem Eindruck der Banalität beitragen könnte (das unterstelle ich Dir hiermit allerdings nicht).

grünschnabelJa, diese „Werk an sich“-Äußerung nehme ich sofort zurück, das führt in der Tat völlig in die Irre. Von daher findet Diskussion wirklich immer nur vor dem Hintergrund einer Konkretion (und sei dies auch nur die „Vorstellung“ eines Partiturlesers) des Notentextes statt.
Letztlich ging es mir (und otis?) dabei um Folgendes: Es ist ein Unterschied, ob ich mich primär auf den Interpretationsvergleich stürze („Bernsteins Tempo wird Beethovens Thema gerechter als Karajans.“) oder ob ich von einer (oder mehreren) bestimmten Interpretation aus abstrahiere (ich denke wie otis, dass das prinzipiell durchaus möglich ist), um die Komposition und ihre Beschaffenheit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken („Beethovens Thema bewegt sich fast ausschließlich im Fünftonbereich und weist von der Intervallfolge her wenig mehr als Sekundbewegungen sowie mit Blick auf die Rhythmik vor allem Abfolgen von Viertelnoten mit ein paar Punktierungen auf. Man könnte mit Blick auf die sehr einfache Gestalt somit auf den Gedanken kommen, ihm nicht mehr melodische Potenz zuzuschreiben als ‚Alle meine Entchen‘ und ‚Hänschen klein'“).

Das ist nun der Abschnitt, bei dem mir die Antwort schon gestern auf der Zunge lag, als ich Deinen Post erstmals erblickte (ich sass mit Smartphone auf dem Sofa, aber der Film war langweilig) … Ich kann natürlich aucch von einer Interpretation aus abstrahieren, logisch! Ich denke auch, dass wir das die ganze Zeit irgendwie tun, wenn wir Musik hören – wir setzen sie im Kopf in einen Kontext, verknüpfen sie mit Dingen, die wir kennen, stellen Vergleiche an etc., willentlich oder unwillentlich … da kommt dann das wieder ins Spiel, was ich oben Weltwissen nannte. Es gibt ja nichts, wohin wir uns wenden, worauf wir zugreifen könnten, als unser eigenes Wissen. Wenn wir abstrahieren und – für uns selbst, alleine mit dem individuellen Empfinden und Wissen – auf das Werk „an sich“ zusteuern wollen … zugreifen wäre ein unpassendes Wort, mehr als eine Bewegung dahin, zu einem bestimmten Punkt, ist ja nicht drin … wohin steuern (oder schlittern, treiben) wir dann? Was ist dieser Punkt anderes als eine wiederum auf dem eigenen (Un-) Wissen basierende Vorstellung des Werkes „an sich“? Anders gesagt: Wir greifen dann wohl auf *unsere* Vorstellung vom Werk „an sich“ zu – und die ist wiederum Subjektiv und geprägt von unserem Weltwissen, um bei dem Begriff zu bleiben.

Natürlich schliesst das einen intersubjektiven Austausch nicht aus – wenn wir unsere Eindrücke zu formulieren suchen und sie zur Diskussion stellen, führt das ja immer wieder auch dazu, dass wir unseren eigenen Horizont erweitern können, weil uns die Wahrnehmung anderer in der Runde hilft, unsere eigene zu verfeinern, sei es durch Ablehnung oder sei es durch Einbeziehen dieser anderen Wahrnehmungen in die eigene. Man kann sich allerdings auch ganz leicht einreden, etwas zu hören und klug wissend mit dem Kopf nicken, auch wenn man keine Ahnung hat und das vom Gegenüber geäusserte an der Musik selbst überhaupt nicht hören kann … das mag der credibility in der Runde dienen, ist aber nichts als Eitelkeit.

Jedenfalls bedingt ein solcher Austausch, wenn er wirklich in die Tiefe gehen soll, eine grosse Offenheit aller beteiligten. Weil neulich Kafkas Geburtstag war … in einer kleinen Leserunde, der ich in letzter Zeit viel zu oft fernbleibe, gab es mal jemand, der die „Strafkolonie“ als komplett entschlüsselbar hielt, wenn man nur die Bibel appliziere … mir geht es in einer solchen Situation so, dass ich mich entweder völlig abkapsele, weil die Diskussion in meinen Augen die Relevanzschwelle so weit unterbietet, dass ich lieber aus dem Fenster gucke oder mir einen widerlichen Brühkaffee aus dem Automaten hole … oder es wird irgendwann ein Punkt erreicht, bei dem ich mich zu sammeln versuche und den ganzen gelaberten Stuss Schritt für Schritt in schroffen und deutlichen Worten widerlege – letzteres bedingt wiederum, dass man sich in der betrefffenden Runde öffnen kann, was gerade wenn diese Runde durch Anwesenheit gewisser eher fremder Gestalten erweitert wird, nicht einfach fällt … es geht eben um das Lebendige, und so ist das doch mit der Musik auch. Es fällt eben leichter, in Floskeln zu bleiben, ein paar – echt oder vermeintlich – kluge Krümeln zu streuen, als sich zu öffnen und darüber zu reden, was einen in der zur Diskussion gestellten Musik im Innersten berührt (und worin man, darauf und auf sein Wissen bauend, die Essenz – um einen vielleicht besseren Begriff als das „an sich“ einzführen – des Werkes sieht).

grünschnabelIch meine, dass man durchaus „die eine oder andere These“ begründet – also unter Anwendung bestimmter belastbarer Kriterien und damit über die Gefühlsbasis hinausgehend -aufstellen kann, ohne dass man gleich das ganze Hinterland eines Werkes durchdrungen haben muss. Dabei gehe ich allerdings von meiner persönlichen Vorstellung aus, dass der Austausch über Musik keine objektiv gültigen Urteile hervorbringen kann. Ich denke, es geht letztlich um lebendigen, reichhaltigen und einen möglichst breiten kulturellen Austausch und damit auch um Bestimmung von Identität.

Zustimmung, ja. Wir greifen halt jeweils auf das Wissen zurück, das uns zum betreffenden Zeitpunkt zur Verfügung steht, und darauf bauen wir Thesen. Wenn das Wissen aber so geartet ist, dass – um beim Beispiel von oben zu bleiben – wir Kafka nur christlich lesen können, dann werden die Thesen halt nicht sonderlich weit tragen. Aber selbst dann ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn man sie äussert. Mit heftiger Widerrede ist dann halt zu rechnen, aber das kann uns ja auch widerfahren, wenn wir nicht das Gefühl haben, uns auf Glatteis zu bewegen – c’est la vie.

grünschnabelSehr schön. Und da gibt es ganz notwendige und wünschenswerte Wechselwirkungen. Was ich gar nicht mag, ist ein ständiges Relativieren und Ausweichen („Na ja, ist ja alles nur Geschmackssache“). Das kann man natürlich machen, wenn man sich in seinem wohlig eingerichteten Bereich nicht über seinen eigenen Tellerrand hinaus bewegen möchte. Aber man schmort dann einfach nur dauerhaft im eigenen Saft.

Zustimmung einmal mehr! Das mit dem Kanon interessiert mich auch nicht, ich hangle mich halt vom einen zum anderen, aber ich denke, meine Klassik-Bibliothek enthält inzwischen Einiges, was nicht zum grossen Kanon gehört – allerdings kann ich das schwer beurteilen, weil ich wenig über die Kanon-Diskussionen der Klassik der letzten Jahrzehnte weiss.

Wichtiger aber ist der andere Punkt: Relativismus ist letztlich doch nichts anderes als die (vorweggenommene) Erklärung der Niederlage. Weil es sich das hier aufdrängt: darum kann es bei Interpretationsvergleichen auch nicht gehen, das wäre vergeudete Zeit. Eher geht es darum, die Qualitäten und Eigenheiten verschiedener Ansätze zu greifen und in Bezug zu stellen – zueinander und zu dem, was man für das Werk oder dessen Essenz hält. Wenn da am Ende nur der Eindruck eines relativierenden Lavrierens herausschaut, hat es sich ganz gewiss nicht gelohnt.

grünschnabelNein, das sind ganz außergewöhnliche Werke, deren Esprit noch immer überzeugen und faszinieren kann. Gäbe es wirklich eine größere Anzahl von Sinfonien aus der klassischen Epoche, welche Beethoven hier den Rang abliefen?

Die Frage finde ich sehr berechtigt. Ich kenne die Symhonien von Johann Christian Bach noch nicht, habe sie aber seit einiger Zeit bei JPC im Körbchen … die Unterschiede zwischen Haydn, Mozart und Beethoven scheinen mir ziemlich deutlich (ohne dass ich sie derzeit in Worte packen könnte, das ist alles noch zu neu und mit den Symphonien Haydns und Mozarts habe ich mich längst nicht so auseinandergesetzt wie gerade mit denen von Beethoven). Aber die Frage soll man ruhig stellen, klar.

grünschnabelAlle. Ein authentischer, unverstellter Austausch über diese Dinge ist m.E. grundsätzlich immer gut und bereichernd. Tschaikowskys Kompositionsstrukturen sind nicht sonderlich sublim und wirken darüber hinaus zu sentimental / rührselig (hm, das habe ich jetzt unabhängig von irgendwelchen Interpretationen gesagt…). Rachmaninow ist die 1b-Version von Liszt. Strauss ist stilistisch rückständig und dennoch großartig, weil „Salome“ ein absolut überzeugender Gesamtentwurf inkl. einer in sich vollendeten Tonsprache ist. Debussys Frühwerke können sich nicht mit den Spätwerken messen. Und so weiter.

Auf jeden Fall soll man alles hinterfragen dürfen, ja! Aber auch da sollte man darauf acht geben, dass man weiss, vor welchem Hintergrund man es tut – sonst lauert nämlich erneut die Relativismusfalle. Strauss war wohl ein ziemlich übler dick, aber was soll’s … wenn Lucia Popp die „4 letzten Lieder“ singt, bin ich glücklich. (Und die „Salomé“ war die erste Oper, die ich nicht irgendwie reingedrückt kriegte oder so, sondern gezielt in den Laden spazierte, um mir eine Aufnahme zu holen – Karajan mit Baltsa. Inzwischen kam noch Caballé hinzu, mochte ich aber noch nicht hören, kann ich mir irgendwie nicht so recht vorstellen.)

nail75Das ist aber ein höchst subjektives Empfinden, das man kaum auf alle Hörer verallgemeinen kann. Außerdem rührt das Unwohlsein ja aus dem Bewusstsein späterer Verwendung bzw. späteren Missbrauchs. Das hat pinch ja auch schon geschrieben.

Ja, den Punkt habe ich auch schon mehrmals gemacht – betrifft ja nicht nur die Nazis. Die Umöglichkeit, hinter vorhandenes Wissen zu treten halt … man muss sich dem Stellen und schauen, was daraus wird, vergessen geht nicht – und das ist auch gut so.

nail75Ich denke bei den Nazis ist die Antwort relativ einfach. Sie verwendeten eben vor allem Werke, die einen primitiven Aspekt enthielten, der sich propagandistisch ausschlachten ließ. Alles Komplizierte, Widersprüchliche etc. ließen sie weg, übrig blieb nur ein Gedanke, der im eigentlichen Werk vielleicht gar keine große Rolle spielte oder nur einen Aspekt unter vielen darstellte. Es ist ja typisch für die Nazis, dass sie die gesamte Welt, die gesamte Geschichte, Gesellschaft und Politik mit einem banalen, aggressiven, menschenverachtenden und in jeder Hinsicht primitiven völkisch-rassistischen Denkschema überziehen.

Ich trete zuversichtlichen Schrittes in die slippery slope … ohne Schuldzuweisungen machen zu wollen oder mit dem Zeigefinger in der Luft zu wedeln: Diese Aspekte sind dem Werk inhärent, sie liegen zur allgemeinen Betrachtung da – und der Komponist hat sich dafür entschieden, sie so in sein Werk zu lassen. Natürlich heisst das nicht, dass er irgend etwas vorweg genommen haben muss (ein „kann“ würde ich aber ebensowenig ausschliessen wollen), es mag auch Gründe geben, musikalischer oder aussermusikalischer Natur, politische, ideologische, private – und das alles sollte man bei einer seriösen Interpretation unter die Lupe nehmen. Aber die Tatsache, dass manches Werk eine Aneignung – sei sie intendiert oder nicht – durch irgendwelche Gruppierungen oder Ideologien leichter ermöglicht als andere Werke, die bleibt – und daran trägt der Schöpfer des Werkes keine kleine Verantwortung. Sind nicht oft die faszinierendsten Werke genau diejenigen (Kafka drängt sich mir hier schon wieder auf), die sich der allzu einfachen Usurpation versperren? Oder eben die, die ein doppeltes und dreifaches Spiel mit Codes und Ebenen treiben … Così fan tutte ein frivoles Komödchen? Die Zauberflöte ein Machwerk? Pah!

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #165: Johnny Dyani (1945–1986) - 9.9., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba