Die Zauberflöte ein "Machwerk“?

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  • #8907519  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

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    Interessant, latho, wusste ich nicht. Nein, der kann wirklich nicht viel dafür, außer dass auch May einem absoluten Menschenideal nachhing.
    Hamsun trieb wohl eher der Hass auf die „Engländer“ gepaart mit seiner Liebe zur Scholle. Aber AH und KH blieben sich bei ihrem Treffen bemerkenswert fremd, wenn ich mich recht erinnere.

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      #8907521  | PERMALINK

      Anonym
      Inaktiv

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      otisIch will keine Musik hören, deren erstes Ziel es zu sein scheint, meinen Verstand auszuschalten und mich zu vereinnahmen.

      Mir wird auch unangenehm, wenn ich die Preludes höre, aber dieses Gefühl entspringt doch eher jenem Bewusststein, dass man dadurch erlangt hat, indem man bestimmte Kontexte zu dieser oder jener Musik herzustellen in der Lage ist, weil man sofort die entsprechenden Bilder vor dem geistigen Auge hat.
      Wären die Preludes im Dritten Reich niemals auch nur irgendwie verwendet worden und man könnte sie also heute unbedarft hören, ich würde sie nicht unbedingt mit Vereinnahmung oder Ausschaltung des Verstandes in Verbindung bringen. Vielleicht sind sie ein wenig überladen und pompös, aber alles in allem ist das doch durchaus auch hochemotionale und sinnliche Musik.

      --

      #8907523  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
      Moderator
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      Registriert seit: 25.01.2010

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      Damit sind wir wieder bei der Frage, die ich zu Beginn stellte … inwiefern prägt unser – nicht weglassbares – Wissen um Rezeption, Wirkung, Missbrauch eines Werkes dessen Wahrnehmung.

      --

      "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #150: Neuheiten 2023/24 – 12.3., 22:00; #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
      #8907525  | PERMALINK

      otis
      Moderator

      Registriert seit: 08.07.2002

      Beiträge: 22,557

      pinch
      Wären die Preludes im Dritten Reich niemals auch nur irgendwie verwendet worden und man könnte sie heute unbedarft hören, ich würde sie nicht unbedingt mit Vereinnahmung oder Ausschaltung des Verstandes in Verbindung bringen. Vielleicht sind sie ein wenig überladen und pompös, aber alles in allem ist das doch durchaus auch hochemotionale und sinnliche Musik.

      Letzteres macht sie ja wirkungsvoll und Ersteres möchte ich in Frage stellen. Man kann nicht jahrzehntelang Musik gehört haben und unschuldig einer Musik wie den Preludes lauschen ohne zu spüren, dass ihr etwas Verabsolutierendes, um nicht zu sagen Faschistoides, innewohnt. Man möge es nicht falsch verstehen, die Preludes sind per se und von Liszt wohl absolut unpolitisch gemeint, aber jeder Huldigungszeremonie in Politik, Sport, etc. würden sie perfekt zu Gesicht stehen.

      --

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      #8907527  | PERMALINK

      Anonym
      Inaktiv

      Registriert seit: 01.01.1970

      Beiträge: 0

      otisMan kann nicht jahrzehntelang Musik gehört haben und unschuldig einer Musik wie den Preludes lauschen ohne zu spüren, dass ihr etwas Verabsolutierendes, um nicht zu sagen Faschistoides, innewohnt.

      Ich weiss nicht, so einfach darf man es sich dann auch nicht machen. Würdest du bspw. der „Leningrader“-Symphonie von Schostakowitsch (den ich für den bedeutendsten Symphoniker des gesamten 20. Jahrhunderts halte) tendenziöse oder verabsolutierende Facetten unterstellen, nur weil er sich darin u.a. bestimmter dramaturgischer Mittel bedient? Oder wie stets mit Bruckner? Da könnte man ja ähnlich verfahren und dessen symphonisches Werk samt und sonders in die faschistoide Kiste packen. Ich finde, gerade da gehört ein gesundes Maß an Differenzierung dazu, sonst wird man Opfer seiner eigenen Vorurteilsbeladenheit.

      --

      #8907529  | PERMALINK

      otis
      Moderator

      Registriert seit: 08.07.2002

      Beiträge: 22,557

      Keine Frage, die Gefahr mag bestehen, weswegen Differenzierung notwendig ist. Bruckner ist religiös motiviert, mir zuwider, aber seine Musik lässt mir dennoch Raum. Ich kann Distanz behalten. Ich bin kein Fan, aber ich kann sie goutieren. Ähnliches gilt für die 2. von Mahler, die ja hier gut passen würde, sie ist nun wirklich vereinnahmend bis zur Auferstehung. Mahlers Musiksprache ist jedoch eine spielerische, sich selbst in Frage stellende. Die 2. wirkt wie ein Experiment auf mich. Ein überaus gelungenes.
      Die Leningrader kenne ich zu wenig, muss sie mal wieder hören.

      --

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      #8907531  | PERMALINK

      latho
      No pretty face

      Registriert seit: 04.05.2003

      Beiträge: 36,824

      otisInteressant, latho, wusste ich nicht. Nein, der kann wirklich nicht viel dafür, außer dass auch May einem absoluten Menschenideal nachhing.
      […]

      Ist aus Hamanns „Hitlers Wien“ – interessant: Hitler empfand May auch wegen seiner Erfindungsgabe als Vorbild – „daß es nicht notwendig sei, die Wüste zu kennen, um die Truppen auf dem afrikanischen Schauplatz zu dirigieren“ (nach Speer).
      Vielleicht als Hinweis zur Diskussion – es muss vielleicht nicht nur das Werk sein, dass Künstler beispielsweise für die Nazis interessant macht, es kann auch der Künstler selber sein: Wagner und seine Entourage (v.a. Chamberlain) kommen da schnell wieder in den Sinn.

      --

      If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
      #8907533  | PERMALINK

      gruenschnabel

      Registriert seit: 19.01.2013

      Beiträge: 6,126

      gypsy tail windSollte ich in meinem notorischen Überschwang manchmal so rüberkommen, so ist das keinesfalls unkritisch zu denken. Aber ich bin nicht gewillt meinen Enthusiasmus prophylaktisch zu drosseln, wenn er denn da ist, ist er echt.

      Völlig klar. Auch von meiner Seite aus warst du keinesfalls im Speziellen gemeint. Ich erlebe dich als äußerst wachen, kritischen und begeisterungsfähigen Hörer.

      gypsy tail wind
      Es gab ja gerade im Hör-Thread einen kleinen Exkurs über die Rezeptions- bzw. Wirkungsgeschichte von Beethovens Neunter. Das Werk und seine Verwurstung in Audi-Werbungen und Nürnberger-Reden auseinanderzuhalten, halte ich jedenfalls für ein Unterfangen, das zumindest versucht werden muss, wenn man eine solche Dikussion ernsthaft führen will.

      Den Zusammenhang zu meiner Äußerung zuvor habe ich nicht klar gesehen. Mir ging es darum, dass die Empfindung von Banalität bezüglich des „Freude“-Themas aus dem vierten Satz kein Problem darstellt. Ich sehe den Austausch auf der Empfindungsebene als absolut offen an. Jeder soll bitte sagen, was ihn berührt und wie es ihn berührt. Wenn es dann aber um den Anspruch ginge, eine ästhetisch-qualitative Ebene anzusteuern, müssten intersubjektiv nachvollziehbare Kriterien bemüht werden.

      gypsy tail wind
      Das mit dem Werk „an sich“ halte ich für eine Phantom-Idee – gerade wenn man nicht willens ist, die Partitur zur Hand zu nehmen. Das Werk „an sich“ ist ein Text auf Papier, der klingt nur in der Vorstellung. Jede Umsetzung des Textes bedingt Entscheidungen. Und nein: die Anweisungen, die der Text gibt, sind oft nicht eindeutig, man kann nun wirklich nicht behaupten, die Entscheidungen seien alle bereits getroffen und man brauche sie nur buchstabengetreu umzusetzen. Das hielte ich für eine so verkürzte Sichtweise, dass die Diskussion über das ganze Thema hinfällig würde. Und genau darum ist doch der Interpretationsvergleich oft ein sehr probates und spannendes Mittel, sich einem Werk zu nähern. Weil z.B. Claviersonaten Mozarts in den Händen Glenn Goulds ein völlig anderes Werk „an sich“ im Hintergrund vermuten lassen können, wenn man sie z.B. mit Claudio Arrau vergleicht. Man hat dann Ansatzpunkte für eine Diskussion, müsste natürlich auch tiefer bohren, Goulds Aussagen zu Mozart beiziehen, warum er ihn so gespielt hat etc. – und natürlich auch die Noten, allenfalls Handschriften etc. Es ist nicht so, dass ich das alles machen könnte … ich kann Notenlesen, klar, ich verfolge auch sehr gerne manchmal die Noten zu einem Werk, das ich höre – aber eine Kritik der Umsetzung einer gewissen Einspielung kann ich auf einer solchen Basis kaum wagen.

      Ja, diese „Werk an sich“-Äußerung nehme ich sofort zurück, das führt in der Tat völlig in die Irre. Von daher findet Diskussion wirklich immer nur vor dem Hintergrund einer Konkretion (und sei dies auch nur die „Vorstellung“ eines Partiturlesers) des Notentextes statt.
      Letztlich ging es mir (und otis?) dabei um Folgendes: Es ist ein Unterschied, ob ich mich primär auf den Interpretationsvergleich stürze („Bernsteins Tempo wird Beethovens Thema gerechter als Karajans.“) oder ob ich von einer (oder mehreren) bestimmten Interpretation aus abstrahiere (ich denke wie otis, dass das prinzipiell durchaus möglich ist), um die Komposition und ihre Beschaffenheit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken („Beethovens Thema bewegt sich fast ausschließlich im Fünftonbereich und weist von der Intervallfolge her wenig mehr als Sekundbewegungen sowie mit Blick auf die Rhythmik vor allem Abfolgen von Viertelnoten mit ein paar Punktierungen auf. Man könnte mit Blick auf die sehr einfache Gestalt somit auf den Gedanken kommen, ihm nicht mehr melodische Potenz zuzuschreiben als ‚Alle meine Entchen‘ und ‚Hänschen klein'“).

      gypsy tail wind
      Ja, aber dazu muss man sich eben, wie ich schon sagte, mit dem Werk, mit seiner Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte auseinandersetzen, das Werk im Kontext anderer Werke verorten etc. Ich habe das immer wieder im Bereich der Literatur getan, fühle mich da auch einigermassen sattelfest, bzw. in der Lage, solche Arbeit zu leisten. Was die Musik betrifft sieht das allerdings anders aus, selbst beim Jazz sind mir meine Grenzen ziemlich klar bewusst (sie sind allerdings ein gutes Stück weniger eng als in der Klassik), zumal wenn es um musiktheoretische, technische Details geht. Da bleibt dann eben oft doch nur der Griff zu Aussagen, die Ge- oder Missfallen ausdrücken, Gefühle zu fassen versuchen und daraus den einen oder anderen Schluss zu ziehen oder eher: die eine oder andere These aufzustellen, die vielleicht eine Vorstellung davon geben kann, *warum* man auf Gefühlsbasis zu einem Urteil gelangt.

      Ich meine, dass man durchaus „die eine oder andere These“ begründet – also unter Anwendung bestimmter belastbarer Kriterien und damit über die Gefühlsbasis hinausgehend -aufstellen kann, ohne dass man gleich das ganze Hinterland eines Werkes durchdrungen haben muss. Dabei gehe ich allerdings von meiner persönlichen Vorstellung aus, dass der Austausch über Musik keine objektiv gültigen Urteile hervorbringen kann. Ich denke, es geht letztlich um lebendigen, reichhaltigen und einen möglichst breiten kulturellen Austausch und damit auch um Bestimmung von Identität.

      otis
      Und es geht ja nicht nur um kritische Abwertung von Musik, nein, auch um Aufwertung.

      Sehr schön. Und da gibt es ganz notwendige und wünschenswerte Wechselwirkungen. Was ich gar nicht mag, ist ein ständiges Relativieren und Ausweichen („Na ja, ist ja alles nur Geschmackssache“). Das kann man natürlich machen, wenn man sich in seinem wohlig eingerichteten Bereich nicht über seinen eigenen Tellerrand hinaus bewegen möchte. Aber man schmort dann einfach nur dauerhaft im eigenen Saft.

      otis
      Das gehört zur Rezeptionsgeschichte, sie ist aber nur die eine Seite der Medaille, die ich meine. Bachs musikästhetischer Ansatz unterscheidet sich elementar von jener Beethovens, Mozarts von jener Wagners usw. Es geht also auch um diese Ansätze, die sicher zeitbedingt sind, die aber auch über ihre Zeit hinausweisen, sonst würde man die Musik doch wohl nicht mehr hören. (Oder wird sie nur deshalb gehortet und gehört, weil sie kanonisiert ist? Ein Eindruck, den man manchmal nicht ganz von der Hand weisen kann.)

      Ich denke, dass sich in diesem Thread alle einig waren, dass eine unkritische Haltung zum Kanon hier im Forum kaum eine Rolle spielt. Gleichwohl fällt mir natürlich auf, dass ich lediglich dann einsteige, wenn es um den Kanon geht… („Wohltemperiertes Klavier“, Beethoven-Sinfonien…) Scheiße, das sollte mir zu denken geben.

      otis
      Was den 4. Satz der Neunten anbelangt, so höre ich nach den eher düsteren drei Eingangssätzen eine Banalisierung der bis dahin spürbaren Problematik, aufgelöst in eine Melodie, die so primitiv ist, so inständig wiederholt bzw. vorbereitet, aufbereitet und dem Hörer in die Ohren gedrückt wird, dass er sich unwillkürlich fragen muss, woher plötzlich dieser Umschwung, warum diese Einfachheit? Dass LvB das handwerklich mit allen Tricks komponiert hat, stelle ich dabei gar nicht in Frage. Aber ist da nicht Mahlers 2. die wesentlich stimmigere Erlösungssinfonie, auch wenn man mit Religion nichts am Hut hat?

      Ich finde die Melodie zwar einfach, aber nicht primitiv. Eher schlicht und schön. Die Eingängigkeit der Melodie hat m.E. große Vorteile, damit das Ganze überzeugend funktioniert. Gerade das Stichwort „Brüder“ (bitte hier keine PC-Schelte) schreit doch nach dem Vereinigenden.
      Bei Mahler II muss ich auch sagen, dass mich der Schlusssatz aller Skepsis gegenüber dem Religiösen zum Trotz noch mehr packt – andererseits ist er aber eben auch nicht so populär. Der die Allgemeinheit verbindende „Impetus“ findet sich eher bei Beethoven, und das passt sehr schön zur Gesamtkonzeption der Sinfonie.

      otis
      Haben die 1. oder 2. denn nicht nur deshalb überlebt, weil sie vom Titanen sind?

      Nein, das sind ganz außergewöhnliche Werke, deren Esprit noch immer überzeugen und faszinieren kann. Gäbe es wirklich eine größere Anzahl von Sinfonien aus der klassischen Epoche, welche Beethoven hier den Rang abliefen?

      otis
      Doch es geht nicht nur um Beethoven. Was ist mit Werken von Tschaikowsky, Rachmaninow, Schumann, Sibelius, Strauss, Holst, Händel, Elgar, Vaughn, Ravel, Debussy, Puccini, etc… (wahllos herausgegriffen)?
      Oder anders: Welche allgemein goutierten, kanonisierten Werke darf/sollte man ruhig stärker hinterfragen?

      Alle. Ein authentischer, unverstellter Austausch über diese Dinge ist m.E. grundsätzlich immer gut und bereichernd. Tschaikowskys Kompositionsstrukturen sind nicht sonderlich sublim und wirken darüber hinaus zu sentimental / rührselig (hm, das habe ich jetzt unabhängig von irgendwelchen Interpretationen gesagt…). Rachmaninow ist die 1b-Version von Liszt. Strauss ist stilistisch rückständig und dennoch großartig, weil „Salome“ ein absolut überzeugender Gesamtentwurf inkl. einer in sich vollendeten Tonsprache ist. Debussys Frühwerke können sich nicht mit den Spätwerken messen. Und so weiter.

      --

      #8907535  | PERMALINK

      nail75

      Registriert seit: 16.10.2006

      Beiträge: 44,672

      otisDas hatte ich gar nicht gelesen. Langsam. Liszt ist kein Nazi gewesen, natürlich nicht. Die Ästhetik der Preludes aber ist eine sich selbst verabsolutierende, eine Apotheose an die musikalische Macht und Vereinnahmung. Insofern passte sie 100 Jahre später perfekt. Von dieser Ästhetik habe ich gesprochen, sie behagt mir nicht, sie macht mich klein, da gruselt’s mich. Ich will keine Musik hören, deren erstes Ziel es zu sein scheint, meinen Verstand auszuschalten und mich zu vereinnahmen.

      Das ist aber ein höchst subjektives Empfinden, das man kaum auf alle Hörer verallgemeinen kann. Außerdem rührt das Unwohlsein ja aus dem Bewusstsein späterer Verwendung bzw. späteren Missbrauchs. Das hat pinch ja auch schon geschrieben.

      gypsy tail wind@nail: das Thema ist ja gewissermassen eine Variation über eine Diskussion, die wir in der Jazz-Ecke schon einmal hatten – einfach ging es da um Coltrane und nicht um Antisemitismus … na ja, Kleinigkeiten ;-)

      Ich bin mir jedenfalls nicht ganz so sicher, dass sich die Sache immer so klar verhält, wie Du es schilderst. Grundsätzlich gebe ich Dir recht: Gegen postumen Missbrauch ist keiner gefeit. Aber die Frage brennt mir in manchen dieser Fälle eben doch auf der Zunge: Warum suchten sich die Nazis gerade die Werke aus, die sie sich eben ausgesucht haben? Klar, bei Nietzsche gibt es mannigfaltige Erklärungen (geisteskranke angeheiratete Nachfahren und deren Machwerk), aber es gibt eben auch mal die Situation, in der solche offensichtlichen Herkunftslinien fehlen und die Frage brennt: Warum dieses Werk? Was steckt da drin, das genau dieses Publikum in einem Masse anspricht, dass es das Werk vereinnahmt und für seine Zwecke einspannt oder missbraucht? Sowas muss natürlich sehr vorsichtig und im Einzelfall betrachtet werden – und vielleicht bleibt am Ende dann doch nur eine Polemik übrig und keine wirklich stichhaltigen Argumente … vielleicht aber auch nicht.

      Ich denke bei den Nazis ist die Antwort relativ einfach. Sie verwendeten eben vor allem Werke, die einen primitiven Aspekt enthielten, der sich propagandistisch ausschlachten ließ. Alles Komplizierte, Widersprüchliche etc. ließen sie weg, übrig blieb nur ein Gedanke, der im eigentlichen Werk vielleicht gar keine große Rolle spielte oder nur einen Aspekt unter vielen darstellte. Es ist ja typisch für die Nazis, dass sie die gesamte Welt, die gesamte Geschichte, Gesellschaft und Politik mit einem banalen, aggressiven, menschenverachtenden und in jeder Hinsicht primitiven völkisch-rassistischen Denkschema überziehen.

      --

      Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
      #8907537  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
      Moderator
      Biomasse

      Registriert seit: 25.01.2010

      Beiträge: 66,855

      Es ist sehr viel gesagt worden, ich glaube nicht, dass ich eine kluge Antwort auf all die Dinge hinkriege, die mir unter den Nägeln brennen, aber ein wenig sticheln mag ich dennoch noch einmal :-)

      grünschnabelDen Zusammenhang zu meiner Äußerung zuvor habe ich nicht klar gesehen. Mir ging es darum, dass die Empfindung von Banalität bezüglich des „Freude“-Themas aus dem vierten Satz kein Problem darstellt. Ich sehe den Austausch auf der Empfindungsebene als absolut offen an. Jeder soll bitte sagen, was ihn berührt und wie es ihn berührt. Wenn es dann aber um den Anspruch ginge, eine ästhetisch-qualitative Ebene anzusteuern, müssten intersubjektiv nachvollziehbare Kriterien bemüht werden.

      Der Zusammenhang war kein zwingender – bloss meine Vermutung, dass mal wieder die Verwurstung des Werkes zu diesem Eindruck der Banalität beitragen könnte (das unterstelle ich Dir hiermit allerdings nicht).

      grünschnabelJa, diese „Werk an sich“-Äußerung nehme ich sofort zurück, das führt in der Tat völlig in die Irre. Von daher findet Diskussion wirklich immer nur vor dem Hintergrund einer Konkretion (und sei dies auch nur die „Vorstellung“ eines Partiturlesers) des Notentextes statt.
      Letztlich ging es mir (und otis?) dabei um Folgendes: Es ist ein Unterschied, ob ich mich primär auf den Interpretationsvergleich stürze („Bernsteins Tempo wird Beethovens Thema gerechter als Karajans.“) oder ob ich von einer (oder mehreren) bestimmten Interpretation aus abstrahiere (ich denke wie otis, dass das prinzipiell durchaus möglich ist), um die Komposition und ihre Beschaffenheit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken („Beethovens Thema bewegt sich fast ausschließlich im Fünftonbereich und weist von der Intervallfolge her wenig mehr als Sekundbewegungen sowie mit Blick auf die Rhythmik vor allem Abfolgen von Viertelnoten mit ein paar Punktierungen auf. Man könnte mit Blick auf die sehr einfache Gestalt somit auf den Gedanken kommen, ihm nicht mehr melodische Potenz zuzuschreiben als ‚Alle meine Entchen‘ und ‚Hänschen klein'“).

      Das ist nun der Abschnitt, bei dem mir die Antwort schon gestern auf der Zunge lag, als ich Deinen Post erstmals erblickte (ich sass mit Smartphone auf dem Sofa, aber der Film war langweilig) … Ich kann natürlich aucch von einer Interpretation aus abstrahieren, logisch! Ich denke auch, dass wir das die ganze Zeit irgendwie tun, wenn wir Musik hören – wir setzen sie im Kopf in einen Kontext, verknüpfen sie mit Dingen, die wir kennen, stellen Vergleiche an etc., willentlich oder unwillentlich … da kommt dann das wieder ins Spiel, was ich oben Weltwissen nannte. Es gibt ja nichts, wohin wir uns wenden, worauf wir zugreifen könnten, als unser eigenes Wissen. Wenn wir abstrahieren und – für uns selbst, alleine mit dem individuellen Empfinden und Wissen – auf das Werk „an sich“ zusteuern wollen … zugreifen wäre ein unpassendes Wort, mehr als eine Bewegung dahin, zu einem bestimmten Punkt, ist ja nicht drin … wohin steuern (oder schlittern, treiben) wir dann? Was ist dieser Punkt anderes als eine wiederum auf dem eigenen (Un-) Wissen basierende Vorstellung des Werkes „an sich“? Anders gesagt: Wir greifen dann wohl auf *unsere* Vorstellung vom Werk „an sich“ zu – und die ist wiederum Subjektiv und geprägt von unserem Weltwissen, um bei dem Begriff zu bleiben.

      Natürlich schliesst das einen intersubjektiven Austausch nicht aus – wenn wir unsere Eindrücke zu formulieren suchen und sie zur Diskussion stellen, führt das ja immer wieder auch dazu, dass wir unseren eigenen Horizont erweitern können, weil uns die Wahrnehmung anderer in der Runde hilft, unsere eigene zu verfeinern, sei es durch Ablehnung oder sei es durch Einbeziehen dieser anderen Wahrnehmungen in die eigene. Man kann sich allerdings auch ganz leicht einreden, etwas zu hören und klug wissend mit dem Kopf nicken, auch wenn man keine Ahnung hat und das vom Gegenüber geäusserte an der Musik selbst überhaupt nicht hören kann … das mag der credibility in der Runde dienen, ist aber nichts als Eitelkeit.

      Jedenfalls bedingt ein solcher Austausch, wenn er wirklich in die Tiefe gehen soll, eine grosse Offenheit aller beteiligten. Weil neulich Kafkas Geburtstag war … in einer kleinen Leserunde, der ich in letzter Zeit viel zu oft fernbleibe, gab es mal jemand, der die „Strafkolonie“ als komplett entschlüsselbar hielt, wenn man nur die Bibel appliziere … mir geht es in einer solchen Situation so, dass ich mich entweder völlig abkapsele, weil die Diskussion in meinen Augen die Relevanzschwelle so weit unterbietet, dass ich lieber aus dem Fenster gucke oder mir einen widerlichen Brühkaffee aus dem Automaten hole … oder es wird irgendwann ein Punkt erreicht, bei dem ich mich zu sammeln versuche und den ganzen gelaberten Stuss Schritt für Schritt in schroffen und deutlichen Worten widerlege – letzteres bedingt wiederum, dass man sich in der betrefffenden Runde öffnen kann, was gerade wenn diese Runde durch Anwesenheit gewisser eher fremder Gestalten erweitert wird, nicht einfach fällt … es geht eben um das Lebendige, und so ist das doch mit der Musik auch. Es fällt eben leichter, in Floskeln zu bleiben, ein paar – echt oder vermeintlich – kluge Krümeln zu streuen, als sich zu öffnen und darüber zu reden, was einen in der zur Diskussion gestellten Musik im Innersten berührt (und worin man, darauf und auf sein Wissen bauend, die Essenz – um einen vielleicht besseren Begriff als das „an sich“ einzführen – des Werkes sieht).

      grünschnabelIch meine, dass man durchaus „die eine oder andere These“ begründet – also unter Anwendung bestimmter belastbarer Kriterien und damit über die Gefühlsbasis hinausgehend -aufstellen kann, ohne dass man gleich das ganze Hinterland eines Werkes durchdrungen haben muss. Dabei gehe ich allerdings von meiner persönlichen Vorstellung aus, dass der Austausch über Musik keine objektiv gültigen Urteile hervorbringen kann. Ich denke, es geht letztlich um lebendigen, reichhaltigen und einen möglichst breiten kulturellen Austausch und damit auch um Bestimmung von Identität.

      Zustimmung, ja. Wir greifen halt jeweils auf das Wissen zurück, das uns zum betreffenden Zeitpunkt zur Verfügung steht, und darauf bauen wir Thesen. Wenn das Wissen aber so geartet ist, dass – um beim Beispiel von oben zu bleiben – wir Kafka nur christlich lesen können, dann werden die Thesen halt nicht sonderlich weit tragen. Aber selbst dann ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn man sie äussert. Mit heftiger Widerrede ist dann halt zu rechnen, aber das kann uns ja auch widerfahren, wenn wir nicht das Gefühl haben, uns auf Glatteis zu bewegen – c’est la vie.

      grünschnabelSehr schön. Und da gibt es ganz notwendige und wünschenswerte Wechselwirkungen. Was ich gar nicht mag, ist ein ständiges Relativieren und Ausweichen („Na ja, ist ja alles nur Geschmackssache“). Das kann man natürlich machen, wenn man sich in seinem wohlig eingerichteten Bereich nicht über seinen eigenen Tellerrand hinaus bewegen möchte. Aber man schmort dann einfach nur dauerhaft im eigenen Saft.

      Zustimmung einmal mehr! Das mit dem Kanon interessiert mich auch nicht, ich hangle mich halt vom einen zum anderen, aber ich denke, meine Klassik-Bibliothek enthält inzwischen Einiges, was nicht zum grossen Kanon gehört – allerdings kann ich das schwer beurteilen, weil ich wenig über die Kanon-Diskussionen der Klassik der letzten Jahrzehnte weiss.

      Wichtiger aber ist der andere Punkt: Relativismus ist letztlich doch nichts anderes als die (vorweggenommene) Erklärung der Niederlage. Weil es sich das hier aufdrängt: darum kann es bei Interpretationsvergleichen auch nicht gehen, das wäre vergeudete Zeit. Eher geht es darum, die Qualitäten und Eigenheiten verschiedener Ansätze zu greifen und in Bezug zu stellen – zueinander und zu dem, was man für das Werk oder dessen Essenz hält. Wenn da am Ende nur der Eindruck eines relativierenden Lavrierens herausschaut, hat es sich ganz gewiss nicht gelohnt.

      grünschnabelNein, das sind ganz außergewöhnliche Werke, deren Esprit noch immer überzeugen und faszinieren kann. Gäbe es wirklich eine größere Anzahl von Sinfonien aus der klassischen Epoche, welche Beethoven hier den Rang abliefen?

      Die Frage finde ich sehr berechtigt. Ich kenne die Symhonien von Johann Christian Bach noch nicht, habe sie aber seit einiger Zeit bei JPC im Körbchen … die Unterschiede zwischen Haydn, Mozart und Beethoven scheinen mir ziemlich deutlich (ohne dass ich sie derzeit in Worte packen könnte, das ist alles noch zu neu und mit den Symphonien Haydns und Mozarts habe ich mich längst nicht so auseinandergesetzt wie gerade mit denen von Beethoven). Aber die Frage soll man ruhig stellen, klar.

      grünschnabelAlle. Ein authentischer, unverstellter Austausch über diese Dinge ist m.E. grundsätzlich immer gut und bereichernd. Tschaikowskys Kompositionsstrukturen sind nicht sonderlich sublim und wirken darüber hinaus zu sentimental / rührselig (hm, das habe ich jetzt unabhängig von irgendwelchen Interpretationen gesagt…). Rachmaninow ist die 1b-Version von Liszt. Strauss ist stilistisch rückständig und dennoch großartig, weil „Salome“ ein absolut überzeugender Gesamtentwurf inkl. einer in sich vollendeten Tonsprache ist. Debussys Frühwerke können sich nicht mit den Spätwerken messen. Und so weiter.

      Auf jeden Fall soll man alles hinterfragen dürfen, ja! Aber auch da sollte man darauf acht geben, dass man weiss, vor welchem Hintergrund man es tut – sonst lauert nämlich erneut die Relativismusfalle. Strauss war wohl ein ziemlich übler dick, aber was soll’s … wenn Lucia Popp die „4 letzten Lieder“ singt, bin ich glücklich. (Und die „Salomé“ war die erste Oper, die ich nicht irgendwie reingedrückt kriegte oder so, sondern gezielt in den Laden spazierte, um mir eine Aufnahme zu holen – Karajan mit Baltsa. Inzwischen kam noch Caballé hinzu, mochte ich aber noch nicht hören, kann ich mir irgendwie nicht so recht vorstellen.)

      nail75Das ist aber ein höchst subjektives Empfinden, das man kaum auf alle Hörer verallgemeinen kann. Außerdem rührt das Unwohlsein ja aus dem Bewusstsein späterer Verwendung bzw. späteren Missbrauchs. Das hat pinch ja auch schon geschrieben.

      Ja, den Punkt habe ich auch schon mehrmals gemacht – betrifft ja nicht nur die Nazis. Die Umöglichkeit, hinter vorhandenes Wissen zu treten halt … man muss sich dem Stellen und schauen, was daraus wird, vergessen geht nicht – und das ist auch gut so.

      nail75Ich denke bei den Nazis ist die Antwort relativ einfach. Sie verwendeten eben vor allem Werke, die einen primitiven Aspekt enthielten, der sich propagandistisch ausschlachten ließ. Alles Komplizierte, Widersprüchliche etc. ließen sie weg, übrig blieb nur ein Gedanke, der im eigentlichen Werk vielleicht gar keine große Rolle spielte oder nur einen Aspekt unter vielen darstellte. Es ist ja typisch für die Nazis, dass sie die gesamte Welt, die gesamte Geschichte, Gesellschaft und Politik mit einem banalen, aggressiven, menschenverachtenden und in jeder Hinsicht primitiven völkisch-rassistischen Denkschema überziehen.

      Ich trete zuversichtlichen Schrittes in die slippery slope … ohne Schuldzuweisungen machen zu wollen oder mit dem Zeigefinger in der Luft zu wedeln: Diese Aspekte sind dem Werk inhärent, sie liegen zur allgemeinen Betrachtung da – und der Komponist hat sich dafür entschieden, sie so in sein Werk zu lassen. Natürlich heisst das nicht, dass er irgend etwas vorweg genommen haben muss (ein „kann“ würde ich aber ebensowenig ausschliessen wollen), es mag auch Gründe geben, musikalischer oder aussermusikalischer Natur, politische, ideologische, private – und das alles sollte man bei einer seriösen Interpretation unter die Lupe nehmen. Aber die Tatsache, dass manches Werk eine Aneignung – sei sie intendiert oder nicht – durch irgendwelche Gruppierungen oder Ideologien leichter ermöglicht als andere Werke, die bleibt – und daran trägt der Schöpfer des Werkes keine kleine Verantwortung. Sind nicht oft die faszinierendsten Werke genau diejenigen (Kafka drängt sich mir hier schon wieder auf), die sich der allzu einfachen Usurpation versperren? Oder eben die, die ein doppeltes und dreifaches Spiel mit Codes und Ebenen treiben … Così fan tutte ein frivoles Komödchen? Die Zauberflöte ein Machwerk? Pah!

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      #8907539  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Und noch etwas, weil ich gestern im Fono Forum geblättert habe (gelesen habe ich erst das Interview mit der verehrten Elina Duni) … die Sätze, die man in den CD-Rezensionen angehäuft kriegt, sind erschreckend und fügen sich recht gut in die Diskussion darüber ein, wie man über Musik denn sprechen oder schreiben kann oder soll. Bei mir klingelt da jedenfalls fortwährend, der Platitüden- und Hohle-Phrasen-Alarm.

      Zwei Beispiele:

      Beethoven: Symphonie Nr. 9 (Michael Tison Thomas; SFS/MW)

      Aber ein langsames Tempo hat durchaus seine Berechtigung, wenn man den Satz so erfüllt und im besten Sinne romantisch, weil erhebend, musiziert wie Tilson Thomas.

      „romantisch, weil erhebend“? und das auch gleich noch „im besten Sinne“? Dann habe ich jetzt wohl den Schnellkurs Romantik auch begrifffen, danke. Es geht übrigens im Zitat um das Adagio und überhaupt um die Länge der Einspielung.

      R. Strauss: Lieder (Christiane Oelze, Eric Schneider; Solo Musica/Naxos)

      Erotische Untertöne, wie sie etwa einer Lucia Popp zur Verfügung standen, sind der Stimme freilich fremd; da mag man bei „Cäcilie“ etwas vermissen.

      So so …

      --

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      #8907541  | PERMALINK

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      #8907543  | PERMALINK

      Anonym
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      Wenn ich so lese … es gab da eine Formel, dass man nach kurzer Zeit zu Hitler kommt …? Das ist unvermeidlich und ich mag gypsy und pinch und grünschnabel, auch nail, danken für ihre Worte, Fragen und Feststellungen. Auch Loriot.

      Aber ich habe Lust, zurückzugehen auf die Anfangsworte:

      otisEnde der Siebziger schockte H.-K. Metzger mit dem Buchtitel „Ist die Zauberflöte ein Machwerk?“ die Klassikgemeinde. Seitdem scheint sich nicht viel geändert zu haben im Rezeptionsverhalten. Die klassischen Werke sind sakrosankt per se. Immer scheint es nur (auch hier im Forum) um den Vergleich von Einspielungen zu gehen, aber nicht um das Werk an sich. Ich würde mir einmal eine Diskussion um die Kompositionen selbst und ihre Ästhetik wünschen.
      Wie spricht mir doch z.B. Louis Spohr aus der Seele, der Beethovens 9. ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellte und dem späten LvB ein Defizit „an ästhetischer Bildung und an Schönheitssinn“ attestierte. Man muss nicht seiner Meinung sein, aber eine solche Diskussion fehlt mir in Bezug auf die Klassik.
      Meyerbeer war zu seiner Zeit ein Superstar, heute rümpft man die Nase (zu Recht!). Liszt ist heikel, Wagner ohnehin. Aber vieles gilt als kanonisiert. Nicht etwa betrifft es wie im Pop-Bereich einzelne Platten, „Werke“, sondern gleich das Gesamtwerk gilt als mehr oder weniger unkritisierbar. Das stört mich.

      Als erstes hätte ich mir Aufhellung über den Metzger-Artikel gewünscht. Warum ist die Zauberflöte möglicherweise ein Machwerk (bei der Gelegenheit könnte man gleich diskutieren, wann ein Machwerk ins Leben finde)? Was wird angestupst, um zu einer Antwort zu gelangen?

      Was das Unkritisierbare angeht: Wenn ich hier schon dabei bin, lese ich natürlich auch gerne in Musikecken, die ich vielleicht nicht oft verstehe, das mag sein. Aber da geht es selten über das Dogmatische hinaus, Kurzrepliken im Gehäus dessen, was offen ist. So sollte es in der Klassik, um die andere Musik mal so abzukürzen, nicht zugehen.

      Ohne das Geschwurbel. Dass klassische Werke sakrosankt seien. Sie setzen sich einem Angriff, einer Verurteilung sogar gewaltiger aus als ein Popsong, mal hier, mal da (manchmal allerdings unterscheidet sich das nicht). Dass jemals ein Gesamtwerk eines Musikers unkritisierbar sei, habe ich nicht mitbekommen. Ich lese da eine seltsame Aversion gegenüber einer Musik, die für Dich „noch außerdem“ da und wichtig ist.

      Und weil das jetzt alles so ausgeufert ist, auch dies:

      Ich mag Beethoven nicht sonderlich, dennoch hat auch er in meinen Ohren großartige Sachen geschrieben, daneben aber Fragwürdiges. Die Neunte z.B. mag ich überhaupt nicht. Ich liebe Mozart, doch auch er hat nicht nur Großartigstes verfasst.
      Ich würde mir also wünschen, dass man hier einmal eine Diskussion um die Werke an sich und ihre spezifische Ästhetik führt und nicht immer nur Einspielungsvergleiche anstellt.

      Fast möchte ich diese Sätze nicht übersetzen. Ein Foyergespräch. „Er ist ja ganz nett, aber …“ Ich hätte mir von Dir auch gewünscht, dass Du einmal etwas zu Mozarts Oper sagst, über Stichworte hinaus. Ich glaube einfach nicht, dass eine „spezifische Ästhetik“ so einfach genannt werden kann, ohne buchstabiert zu werden, – womit ich ganz leicht und luftig zu meiner Verteidigung des Subjektiven zurückkehre – die mit Beliebigkeit gar nichts zu tun hat. – Und was hat Metzger zur Zauberflöte gesagt?

      Der Hitler-Liszt-Nietzsche-Wagner-Schnörkel: Man weiß nie, wer wem vorausgeht, Anachronismen stellen sich ein zu jeder Zeit.

      Ich glaube, ich hatte es schon einmal versucht im Forum, mit geringem Erfolg.

      Wo, wann war das, in den Anfängen dieser Klassikabteilung sah es übel aus, soweit ich weiß, sodass auch ich bitte, die ersten Posts im Beethoven-Thread zu löschen.

      --

      #8907545  | PERMALINK

      gruenschnabel

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      gypsy tail windUnd noch etwas, weil ich gestern im Fono Forum geblättert habe (gelesen habe ich erst das Interview mit der verehrten Elina Duni) … die Sätze, die man in den CD-Rezensionen angehäuft kriegt, sind erschreckend und fügen sich recht gut in die Diskussion darüber ein, wie man über Musik denn sprechen oder schreiben kann oder soll. Bei mir klingelt da jedenfalls fortwährend, der Platitüden- und Hohle-Phrasen-Alarm.

      Zwei Beispiele:

      Beethoven: Symphonie Nr. 9 (Michael Tison Thomas; SFS/MW)

      „romantisch, weil erhebend“? und das auch gleich noch „im besten Sinne“? Dann habe ich jetzt wohl den Schnellkurs Romantik auch begrifffen, danke. Es geht übrigens im Zitat um das Adagio und überhaupt um die Länge der Einspielung.

      R. Strauss: Lieder (Christiane Oelze, Eric Schneider; Solo Musica/Naxos)

      So so …

      Hm, das ist ziemlich ernüchternd. Passenderweise werde ich mir heute Abend auf 3Sat die „Romantische“ von Bruckner reinziehen. Mal hören, wie erhebend die dann gerät. Aber: Es dirigiert Thomas Hengelbrock. Und bei ihm habe ich die durch Erfahrung berechtigte Hoffnung, dass die Gleichung „romantisch = erhebend“ eben nicht aufgehen und in ihrer verfälschenden Banalität überhaupt keine Rolle spielen wird. Überhaupt ist Hengelbrock jemand, der den „Kanon“ aufbrechen will. Sein Antrittskonzert z.B. beim NDR-Sinfonieorchester durchbrach seinerzeit eine doch schon recht eingefahrene Programmgestaltung vehement. Er selbst wühlt wohl ständig nach „neuen Stücken“ – auch aus früheren Epochen. Heute sieht das Programm auf den ersten Blick mit Bruckner IV und Schumann-Klavierkonzert (mit Hélène Grimaud) sehr „herkömmlich“ aus. Aber: Es wird die Erstfassung der Sinfonie gegeben. Und die unterscheidet sich wohl beträchtlich von der gängigen. Auf diese „Erweiterung“ des Blickwinkels freue ich mich schon.

      --

      #8907547  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
      Moderator
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      Nun, ich muss fairerweise auch sagen, dass ich ein paar recht gute Rezensionen las, etwa eine ganzseitige über die neue Leon Fleisher-Box; da werden auch persönliche Empfindungen und Beobachtungen über die Musik wiedergegeben, teils vom Autor, teils wird zitiert, aber das wird stets in die richtige Perspektive gesetzt, nicht als Fakt im Indikativ geschildert.

      Natürlich sind solche Texte immer eine Meinungsäusserung, aber für mein Empfinden gibt es dabei gewisse Grenzen – und die Behauptung, Popp hätte über erotische Schattierungen verfügt, die Oelze abgehen, die ist in einem Ausmass vom individuellen Hören und vom Hörer selbst abhängig, dass ich einen solchen Satz als Positionsbestimmung des Autors (ich habe die Namen der beiden Rezensenten übrigens bewusst weggelassen, ich will hier wirklich niemanden schmähen, weiss ja selbst, wie schwierig es sein kann, Gedanken über Musik und beim Hören empfundene Dinge in Worte zu setzen) gerne gelten lassen kann, aber damit das so rüberkommt und nicht als (vermeintlicher) Fakt, müsste ein sprachliches Signal ausgesandt werden. (Und nein, Mangel an Raum weil es sich um eine kurze Rezension handelt, lasse ich nicht gelten, dann streicht man den Satz halt und findet eine andere Lösung, den Sachverhalt – oder eher das Hörempfinden – auszudrücken.)

      --

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