Re: Die „Zauberflöte ein Machwerk“? Anderes?

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gruenschnabel

Registriert seit: 19.01.2013

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gypsy tail windSollte ich in meinem notorischen Überschwang manchmal so rüberkommen, so ist das keinesfalls unkritisch zu denken. Aber ich bin nicht gewillt meinen Enthusiasmus prophylaktisch zu drosseln, wenn er denn da ist, ist er echt.

Völlig klar. Auch von meiner Seite aus warst du keinesfalls im Speziellen gemeint. Ich erlebe dich als äußerst wachen, kritischen und begeisterungsfähigen Hörer.

gypsy tail wind
Es gab ja gerade im Hör-Thread einen kleinen Exkurs über die Rezeptions- bzw. Wirkungsgeschichte von Beethovens Neunter. Das Werk und seine Verwurstung in Audi-Werbungen und Nürnberger-Reden auseinanderzuhalten, halte ich jedenfalls für ein Unterfangen, das zumindest versucht werden muss, wenn man eine solche Dikussion ernsthaft führen will.

Den Zusammenhang zu meiner Äußerung zuvor habe ich nicht klar gesehen. Mir ging es darum, dass die Empfindung von Banalität bezüglich des „Freude“-Themas aus dem vierten Satz kein Problem darstellt. Ich sehe den Austausch auf der Empfindungsebene als absolut offen an. Jeder soll bitte sagen, was ihn berührt und wie es ihn berührt. Wenn es dann aber um den Anspruch ginge, eine ästhetisch-qualitative Ebene anzusteuern, müssten intersubjektiv nachvollziehbare Kriterien bemüht werden.

gypsy tail wind
Das mit dem Werk „an sich“ halte ich für eine Phantom-Idee – gerade wenn man nicht willens ist, die Partitur zur Hand zu nehmen. Das Werk „an sich“ ist ein Text auf Papier, der klingt nur in der Vorstellung. Jede Umsetzung des Textes bedingt Entscheidungen. Und nein: die Anweisungen, die der Text gibt, sind oft nicht eindeutig, man kann nun wirklich nicht behaupten, die Entscheidungen seien alle bereits getroffen und man brauche sie nur buchstabengetreu umzusetzen. Das hielte ich für eine so verkürzte Sichtweise, dass die Diskussion über das ganze Thema hinfällig würde. Und genau darum ist doch der Interpretationsvergleich oft ein sehr probates und spannendes Mittel, sich einem Werk zu nähern. Weil z.B. Claviersonaten Mozarts in den Händen Glenn Goulds ein völlig anderes Werk „an sich“ im Hintergrund vermuten lassen können, wenn man sie z.B. mit Claudio Arrau vergleicht. Man hat dann Ansatzpunkte für eine Diskussion, müsste natürlich auch tiefer bohren, Goulds Aussagen zu Mozart beiziehen, warum er ihn so gespielt hat etc. – und natürlich auch die Noten, allenfalls Handschriften etc. Es ist nicht so, dass ich das alles machen könnte … ich kann Notenlesen, klar, ich verfolge auch sehr gerne manchmal die Noten zu einem Werk, das ich höre – aber eine Kritik der Umsetzung einer gewissen Einspielung kann ich auf einer solchen Basis kaum wagen.

Ja, diese „Werk an sich“-Äußerung nehme ich sofort zurück, das führt in der Tat völlig in die Irre. Von daher findet Diskussion wirklich immer nur vor dem Hintergrund einer Konkretion (und sei dies auch nur die „Vorstellung“ eines Partiturlesers) des Notentextes statt.
Letztlich ging es mir (und otis?) dabei um Folgendes: Es ist ein Unterschied, ob ich mich primär auf den Interpretationsvergleich stürze („Bernsteins Tempo wird Beethovens Thema gerechter als Karajans.“) oder ob ich von einer (oder mehreren) bestimmten Interpretation aus abstrahiere (ich denke wie otis, dass das prinzipiell durchaus möglich ist), um die Komposition und ihre Beschaffenheit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken („Beethovens Thema bewegt sich fast ausschließlich im Fünftonbereich und weist von der Intervallfolge her wenig mehr als Sekundbewegungen sowie mit Blick auf die Rhythmik vor allem Abfolgen von Viertelnoten mit ein paar Punktierungen auf. Man könnte mit Blick auf die sehr einfache Gestalt somit auf den Gedanken kommen, ihm nicht mehr melodische Potenz zuzuschreiben als ‚Alle meine Entchen‘ und ‚Hänschen klein'“).

gypsy tail wind
Ja, aber dazu muss man sich eben, wie ich schon sagte, mit dem Werk, mit seiner Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte auseinandersetzen, das Werk im Kontext anderer Werke verorten etc. Ich habe das immer wieder im Bereich der Literatur getan, fühle mich da auch einigermassen sattelfest, bzw. in der Lage, solche Arbeit zu leisten. Was die Musik betrifft sieht das allerdings anders aus, selbst beim Jazz sind mir meine Grenzen ziemlich klar bewusst (sie sind allerdings ein gutes Stück weniger eng als in der Klassik), zumal wenn es um musiktheoretische, technische Details geht. Da bleibt dann eben oft doch nur der Griff zu Aussagen, die Ge- oder Missfallen ausdrücken, Gefühle zu fassen versuchen und daraus den einen oder anderen Schluss zu ziehen oder eher: die eine oder andere These aufzustellen, die vielleicht eine Vorstellung davon geben kann, *warum* man auf Gefühlsbasis zu einem Urteil gelangt.

Ich meine, dass man durchaus „die eine oder andere These“ begründet – also unter Anwendung bestimmter belastbarer Kriterien und damit über die Gefühlsbasis hinausgehend -aufstellen kann, ohne dass man gleich das ganze Hinterland eines Werkes durchdrungen haben muss. Dabei gehe ich allerdings von meiner persönlichen Vorstellung aus, dass der Austausch über Musik keine objektiv gültigen Urteile hervorbringen kann. Ich denke, es geht letztlich um lebendigen, reichhaltigen und einen möglichst breiten kulturellen Austausch und damit auch um Bestimmung von Identität.

otis
Und es geht ja nicht nur um kritische Abwertung von Musik, nein, auch um Aufwertung.

Sehr schön. Und da gibt es ganz notwendige und wünschenswerte Wechselwirkungen. Was ich gar nicht mag, ist ein ständiges Relativieren und Ausweichen („Na ja, ist ja alles nur Geschmackssache“). Das kann man natürlich machen, wenn man sich in seinem wohlig eingerichteten Bereich nicht über seinen eigenen Tellerrand hinaus bewegen möchte. Aber man schmort dann einfach nur dauerhaft im eigenen Saft.

otis
Das gehört zur Rezeptionsgeschichte, sie ist aber nur die eine Seite der Medaille, die ich meine. Bachs musikästhetischer Ansatz unterscheidet sich elementar von jener Beethovens, Mozarts von jener Wagners usw. Es geht also auch um diese Ansätze, die sicher zeitbedingt sind, die aber auch über ihre Zeit hinausweisen, sonst würde man die Musik doch wohl nicht mehr hören. (Oder wird sie nur deshalb gehortet und gehört, weil sie kanonisiert ist? Ein Eindruck, den man manchmal nicht ganz von der Hand weisen kann.)

Ich denke, dass sich in diesem Thread alle einig waren, dass eine unkritische Haltung zum Kanon hier im Forum kaum eine Rolle spielt. Gleichwohl fällt mir natürlich auf, dass ich lediglich dann einsteige, wenn es um den Kanon geht… („Wohltemperiertes Klavier“, Beethoven-Sinfonien…) Scheiße, das sollte mir zu denken geben.

otis
Was den 4. Satz der Neunten anbelangt, so höre ich nach den eher düsteren drei Eingangssätzen eine Banalisierung der bis dahin spürbaren Problematik, aufgelöst in eine Melodie, die so primitiv ist, so inständig wiederholt bzw. vorbereitet, aufbereitet und dem Hörer in die Ohren gedrückt wird, dass er sich unwillkürlich fragen muss, woher plötzlich dieser Umschwung, warum diese Einfachheit? Dass LvB das handwerklich mit allen Tricks komponiert hat, stelle ich dabei gar nicht in Frage. Aber ist da nicht Mahlers 2. die wesentlich stimmigere Erlösungssinfonie, auch wenn man mit Religion nichts am Hut hat?

Ich finde die Melodie zwar einfach, aber nicht primitiv. Eher schlicht und schön. Die Eingängigkeit der Melodie hat m.E. große Vorteile, damit das Ganze überzeugend funktioniert. Gerade das Stichwort „Brüder“ (bitte hier keine PC-Schelte) schreit doch nach dem Vereinigenden.
Bei Mahler II muss ich auch sagen, dass mich der Schlusssatz aller Skepsis gegenüber dem Religiösen zum Trotz noch mehr packt – andererseits ist er aber eben auch nicht so populär. Der die Allgemeinheit verbindende „Impetus“ findet sich eher bei Beethoven, und das passt sehr schön zur Gesamtkonzeption der Sinfonie.

otis
Haben die 1. oder 2. denn nicht nur deshalb überlebt, weil sie vom Titanen sind?

Nein, das sind ganz außergewöhnliche Werke, deren Esprit noch immer überzeugen und faszinieren kann. Gäbe es wirklich eine größere Anzahl von Sinfonien aus der klassischen Epoche, welche Beethoven hier den Rang abliefen?

otis
Doch es geht nicht nur um Beethoven. Was ist mit Werken von Tschaikowsky, Rachmaninow, Schumann, Sibelius, Strauss, Holst, Händel, Elgar, Vaughn, Ravel, Debussy, Puccini, etc… (wahllos herausgegriffen)?
Oder anders: Welche allgemein goutierten, kanonisierten Werke darf/sollte man ruhig stärker hinterfragen?

Alle. Ein authentischer, unverstellter Austausch über diese Dinge ist m.E. grundsätzlich immer gut und bereichernd. Tschaikowskys Kompositionsstrukturen sind nicht sonderlich sublim und wirken darüber hinaus zu sentimental / rührselig (hm, das habe ich jetzt unabhängig von irgendwelchen Interpretationen gesagt…). Rachmaninow ist die 1b-Version von Liszt. Strauss ist stilistisch rückständig und dennoch großartig, weil „Salome“ ein absolut überzeugender Gesamtentwurf inkl. einer in sich vollendeten Tonsprache ist. Debussys Frühwerke können sich nicht mit den Spätwerken messen. Und so weiter.

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