Re: Andrew Hill

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Dance with Death ist der Titel, unter dem die dritte Session des Jahres erschien, aufgenommen am 11. Oktober 1968, wie immer im Studio von Rudy Van Gelder. Mit dabei: Charles Tolliver, Joe Farrell, Victor Sproles und Billy Higgins – und damit wieder eine völlig andere Band als auf allen bisherigen Hill-Sessions. Das Album erschien erstmals 1980, zählt aber fraglos zu den besten Hill-Sessions überhaupt. Das obive Cover ist jenes, das Patrick Roques im Geiste der alten Blue Note-Cover für die 2004er CD-Ausgabe gestaltet hatte (auf der CD in der Connoisseur Series findet sich ein zuvor unveröffentlichter Alternate Take des Titelstückes).

Die erste Ausgabe erfolgte im Rahmen der oben erwähnten zweiten Serie mit unveröffentlichten Sessions, die Cuscuna bei Blue Note produziert (die „LT-Serie“, „Blue Note Classic“ stand drauf, aber weil das öfter vorkam funktioniert die Identifikation über den Präfix der Katalognummern besser), das Cover sah damals so aus:

Charles Tolliver und Joe Farrell – das ist noch eine interessante Frontline, die sich irgendwo zwischen denen der früheren Sessions und denen von 1968 bewegt. Tolliver bringt einen bittersüssen, manchmal etwas stechenden Ton mit, Farrell neben Backenbärten und einer getönten Brille (hey, der Mann war weiss und es war 1968) ein muskulöses Tenor und ein beeindruckendes Sopran. Tolliver hatte für Blue Note schon mehrmals aufgenommen, hatte mit Musikern wie Bobby Hutcherson oder Jackie McLean gespielt, Farrell verdiente seine Sporen in den Big Band von Maynard Ferguson und später Thad Jones/Mel Lewis ab, wo er zum beeindruckenden Solisten wuchs, der 1968 auch zwei Blue Note-Alben mit Elvin Jones‘ Trio einspielte, „Puttin‘ It Together“ und „The Ultimate Elvin Jones“. Nicht zu vergessen auch die Live-Aufnahmen von 1965 mit Jaki Byard (zwei volle CDs aufgenommen im Lennie’s on the Turnpike mit George Tucker und Alan Dawson).


Charles Tolliver & Joe Farrell bei einer Probe für die Album-Session (Photo: Francis Wolff)

Wie Tolliver/Farrell, die beide zwischen den erdigeren Tönen von Morgan/Ervin und den experimentierfreudigeren von Shaw/Kenyatta/Rivers wechseln konnten, war auch die neue Rhythmusgruppe äusserst flexibel. Victor Sproles am Bass ist ein Tieftöner erster Güte, der in Chicago nicht nur mit Ira Sullivan oder Nicky Hill gespielt hatte sondern auch auf einigen frühen Sessions von Sun Ra zu hören ist. Er war auch Teil des Trios von Jodie Christian, mit dem Verve sein Album „Stan Meets Chet“ mit Getz und Baker in Chicago einspielte, war Mitte der Sechziger bei Art Blakey (als da auch John Gilmore und Frank Mitchell vorbeischauten) und ist schliesslich auf Lee Morgans oben erwähntem Blue Note-Album „The Rumproller“ mit von der Partie.

Billy Higgins braucht man nicht vorzustellen, der Mann hatte mit dem Ornette Coleman Quartet gespielt und wurde schon früh in den Sechzigern zum Hausdrummer von Blue Note, zu hören auf unzähligen Klassikern zwischen Bebop und Avantgarde. Allein die Liste der Leader, mit denen er für Blue Note aufnahm, liest sich eindrücklich: Donald Byrd, Dexter Gordon, Herbie Hancock, Bobby Hutcherson, Jackie McLean, Lee Morgan, Hank Mobley, Grant Green, Sonny Clark, Blue Mitchell, Horace Parlan, Jack Wilson, Don Wilkerson. Higgins und Sproles sind nach Workman/Muhammad und Carter/Waits das dritte beeindruckende Rhythmusgespann des Jahres.


Billy Higgins (Photo: Francis Wolff)

Nat Hentoff greift in seinen Liner Notes weit aus, Hill war 1980 in den USA wohl nicht mehr sehr bekannt, seine letzten Veröffentlichungen datierten auf 1975, die anderen Aufnahmen waren für europäische oder japanische Label entstanden (das sollte bis Ende der Achtziger so bleiben, als Hill wieder zwei Alben für Blue Note aufnahm).

Nat HentoffWhen I first became aware of Andew Hill in the early 1960’s, what initially struck me was that, from note one, he had PRESENCE. The presencde of a true original. Also, there was this extraordinary clarity – his lines, his rhythms, the way he could make a combo cohere, no matter how complex the music, into a kind of incandescent lucidity.

And there was the clarity inside Andrew Hill’s head. He would analyze what was happening in jazz with a depth of musical as well as historical perspective that kept reminding me how much woodshedding I had to to. As when he pointed out, in the mid-’60s, how far back the avant-garde players of the time had started from. „Listen,“ Andrew Hill said, „to what is called ‚avant-garde‘ and you can hear African kinds of rhythms. You can hear field cries. You can hear the basic roots of jazz.“

He himself had been playing, as well as hearing, the basic history for a long time. In a recent CADENCE interview, Hill noted: „When I was six years old, I used to be able to play stride piano and Boogie Woogie extremely well.“

But Hill came into the consciousness of jazz listeners as a post-modern player. And so he also was. And is. Yet, unlike some of the dauntless explorers then, Hill was always accessible, even to listeners quite new to the music. Part of this was due to his clarity; part to his delight in contrasts (he never imprisoned himself in any one bag for too long); and part was due to a lyricism that, however intense, always sang.

(die Hervorhebungen sind im Original kursiv, aber hier wird ja leider jeder Zitatblock komplett kursiv gesetzt – falls jemand das Cadence-Interview zur Verfügung stellen kann …)

Der letzte Abschnitt gefällt mir sehr gut: Klarheit, Kontraste, Sanglichkeit. Ich musste die letzten Tage beim Wiederhören von Hills 1967/68er Sessions öfter an Ellington denken, über den man Ähnliches sagen kann – beide haben sie auch ihre eigene Klangwelt geschaffen, mit hohem Wiedererkennungswert.

Hill brachte sechs Stücke mit, die sich in typischer Blue Note-Manier zwischen fünfeinhalb und siebeneinhalb Minuten bewegen (es gibt da ja eine Art Schema: entweder 2 x 8-10 Minuten + 3 x 6 Minuten oder 6 x 5-7 Minuten). Den Auftakt macht „Yellow Violet“, ein wie so oft in unüblichen Takt-Gruppen komponiertes Stück mit eingängigem Thema über einem absteigenden Half-Time Bass-Motiv, das Tolliver und Farrell am Sopran im Unisono präsentieren. Tolliver setzt dann nahtlos zum ersten Solo an, bläst entspannter als Morgan oder Shaw aber nicht weniger effektiv. Hill übernimmt mit einem dichten Solo, das an seine durchdachte Begleitung während des Themas erinnert, Sproles spielt dahinter immer wieder die absteigenden Linien, die schon das Thema durchzogen, während Higgins einen ziemlich trommellastigen Beat beiträgt. Es folgt Farrell, weiterhin am Sopran. Mit wundervollem Ton und fliessenden Linien kostet er die Changes von Hills Stück aus und nahtlos geht es zurück ins Thema

„Partitions“ heisst die zweite Nummer, in der ein hektisches Thema im 4/4-Takt – Trompete und Tenor in Unisono – von einer langsameren 3/4-Passage unterbrochen wird – diese Struktur wird auch während der Soli aufrechterhalten. Hill ist der erste Solist und greift in die vollen mit rasenden Läufen und dichten Akkorden. Es folgt Tolliver, zuversichtlich und doch melancholisch, dann Farrell, zupackend und mit ein paar Coltrane-Anklängen und schliesslich Higgins, teils von Hill begleitet.

Die erste Häflte endet mit „Fish ’n Rice“ – und wenn es um Soul Food geht, ist der Groove natürlich entsprechend. Sproles spielt eng verzahnt mit Hills repetitiven Akkorden ein kurzes Bass-Motiv, das mit einem gehaltenen Ton auf 1 endet. Higgins klopft einen leichten Beat derweil die Bläser das Thema präsentieren. Hinter Farrells Solo (wieder am Tenor) fällt Sproles in ein neues Lick, die Bluesform wird wie in „The Sidewinder“ oder in Stücken von Herbie Hancock durchgängig strukturiert, es gibt (beinah) Breaks der Rhythmusgruppe und sich wiederholende Einsätze von Piano und Drums. Das ist anders als man es bei Hancock oder Morgan machen würde, eine Spur verschrobener aber auch abwechslungsreicher, nicht für den Dancefloor oder die Jukebox aber doch davon inspiriert. Tolliver klingt in seinem Solo anfangs ein wenig nach Lee Morgan, dann emanzipiert er sich, kehrt aber immer wieder zu Techniken zurück, die Morgan in einem solchen Stück perfekt eingesetzt hätte. Sproles ändert dahinter seine Begleitung wieder, alles wird flüssiger, der Bass weniger präsent, doch kaum übernimmt Hill wummert er wieder, umspielt ein Lick, das nie wirklich erklingt, fällt dann in eine Art Orgelpunkt während Higgins immer zickiger wird – das Solo von Hill steht weniger im Zentrum als das Zusammenspiel der ganzen Rhythmusgruppe. Und das wiederum ist kein soli(psi)stisches Interplay sondern ein gemeinsames Grooven. Das Thema wird wiederholt, danach über mächtigen Bass gerifft und ausgeblendet.

Die zweite Seite öffnet mit dem Titelstück. Tolliver und Farrell präsentieren das Thema wieder im (oktavierten) Unisono, Sproles legt einen Pedalpunkt, Higgins spielt eine Art Boogaloo, Hill setzt einzelne Töne eher denn richtige Akkorde. Hier gelingt die schon auf dem ganzen Album zu hörende Verknüpfung von Groove und freieren Elementen noch schöner als zuvor. Das Thema hat etwas Klagendes, setzt sich schnell im Ohr fest. Farrell spielt das erste Solo – auch hier wieder am Tenor, mit klagendem Ton und leicht orientalisch angehauchten Linien. Er hakt sich an einem kleinen Zwei-Ton-Motiv fest, fällt dann wieder in fliessende Linien, mit eingestreuten Trillern und Arpeggi, dann wieder einzeln abgesetzte Töne, während Higgins den Ball aufgreift und Sproles zwischendurch in eine Art Boogie-Bass fällt. Tolliver ist für diese Art Groove (Jackie McLean, „On the Nile“!) der perfekte Solist, seine beissende Melancholie kommt perfekt zur Geltung, doch leider soliert er hier viel zu kurz. Es folgt Hill, der hier wohl seine Version von „Song for My Father“ abliefert, ein „enges“ Solo, ein Motiv aus ein paar Tönen, in das er sich verbeisst, bevor es sich schienbar von selbst auflöst, während Higgins und Sproles im Hintergrund immer aktiver werden, aber nie überborden. Hill kommt zur nächsten Idee, zur dritten, während Sproles wieder in ein simples Lick fällt, aus dem er ausbricht, um das Thema wieder anzukündigen. Die Stimmung des Stückes ist es, die mich hier an „Song for My Father“ denken lässt.

In „Love Nocturne“ – dem letzten Stück der ersten Session von 1968 – wird diese melancholische Grundstimmung weitergeführt. Sproles spielt natürlich viel weniger als Workman in der frühen Version, trägt das Stück aber mit seinem riesigen Ton. Hill greift für ein langes Solo behutsam und sparsam in die Tasten, es entwickelt sich eine Art Stop-and-Go, kommentiert von Billy Higgins. Dann steigt Farrell ein (Mitchell war in der frühen Version ja solistisch gar nicht zu hören), gefolgt von Tolliver, und beide tragen phantastische Soli bei – und wie Hill und Sproles hier alles aufbrechen lassen und Higgins seine Begleitung permanent variiert ist schlicht grossartig. Ich sagte ja oben schon: das Stück stünde jeder Hill-Session gut an, und hier haben wir eine erstklassige Session vor uns; jene wohl, mt der Hills zweitbeste Phase bei Blue Note (nach den Anfängen von 1963-65) eingeläutet wird.

Den Abschluss macht dann „Black Sabbath“ (Ozzy und seine geezers haben die Band im selben Jahr 1968 gegründet, dass es da noch andere Referenzen gibt, muss man wohl nur dem Publikum ausserhalb der Jazz-Ecke verkünden), ein schnelles Stück mit einer Zickzack-Linie über einen zickigen Beat, mit dem Higgins öffnet und der zeitweise zusammen mit Sproles‘ Bass fast zu einem Shuffle wird. Tolliver spielt das erste Solo, zitiert eine Passage aus einem Solo Coltranes in „A Love Supreme“ und hakt sich an kleinen Motiven fest, die er dann auslotet und schliesslich nahtlos zum nächsten Motiv findet. Farrell übernimmt, lässt sich von der Coltrane-Referenz anstecken, auch wenn Higgins für eine ganz andere Atmosphäre sorgt, sein Beat ist hier eigentlich die permanente Unterbrechung des Flows, für den Sproles besorgt ist, während Hill nur punktiert ohne rhythmisch zu werden. Das tut er dann in seinem anschliessenden Solo, das aber kurz und auf den Punkt ist. Es folgt Higgins, der hier ja eigentlich permanent soliert, ohne die anderen je in den Schatten zu stellen. Hill begleitet das Schlagzeugsolo, dann wird das Thema reperiert und es gibt einen dieser Hill-typischen abrupten Schlüsse.

Die CD endet dann mit einem etwas längeren Alternate Take des Titeltracks, der eine Überraschung bereithält: das erste Solo gehört nämlich Victor Sproles am Bass, der sich zwar wenig vom Lick wegbewegt aber ein sehr effektives Statement zum besten gibt. Farrell steigt dann mit einem Motiv ein, das fast wie eine Sprechstimme anmutet und aus dem er allmählich sein tolles Statement formt. Tolliver greift seinerseits das Motiv auf, mit dem Farrell schliesst und bläst ebenfalls ein weiteres faszinierendes Solo. Hills Solo klingt dann ganz anders als im Master Take, da auch Sproles anders spielt hinter ihm werden hier bei mir keine so klaren Erinnerungen an Horace Silvers Musik wach. Ich finde diesen Alternate Take insgesamt wohl noch eine Spur toller als den Master. Und wenn ich diesen jetzt nochmal höre (zum sechsten oder siebten Mal heute), finde ich es sehr schade, dass Sproles zwar noch kurz rifft, aber Farrell gleich einsetzt … und auch nicht mit dem tollen Einfall, den er im Alternate Take (Take 10, der Master ist Take 14 – die Zählung ist dabei wie oft bei Blue Note/RVG fortlaufend, das Stück davor ist Take 8 d.h. allzu viele Takes gab es da nicht, ob Breakdowns und False Starts auch so exakt gezählt wurden wie bei Columbia oder Verve weiss ich nicht, das einzige Mal wo es zwischen zwei Master Takes einen grösseren Sprung gibt ist zwischen Take 14, eben „Dance with Death“ und Take 22, „Fish ’n Rice“). Im Master Take holt dafür Sproles sein Solo im Klaviersolo nach – vielleicht ist das ja sogar als Dialog gedacht, als Ersatz für das gestrichene Bass-Solo? Hill hält sich jedenfalls auffällig zurück im Vergleich zum Alternate Take.

In Japan erschien das Album bei King in der „Unissued Masters“ (GXK-Präfix, das war die Fortsetzung – mit Alben aus der LT-Serie – der GXF-Reihe, in der 1979 fast zwei Dutzend LPs mit unveröffentlichten Aufnahmen erschienen war) ein Jahr nach der US-Veröffentlichung mit noch einem anderen Cover:

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