Re: Andrew Hill

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Lee Morgan & Frank Mitchell 1968 (Photo: Francis Wolff)

Auch im folgenden Jahr entstanden drei Sessions für Blue Note, die erste vom 19. April 1968 blieb von einem Stück abgesehen (diese erste Version von „Soul Special“ erschien auf dem CD-Sampler „Rare Grooves“) bis 2000 unveröffentlicht. Woody Shaw war erneut mit dabei, die anderen Musiker nahmen alle zum ersten – und im Fall von Frank Mitchell, Jimmy Ponder und Idris Muhammad auch zum einzigen – Mal mit Hill auf. Reggie Workman holte sich in den 90ern für ein Album beim Label Postcards Hill als Pianisten. Dass die Musiker keine gemeinsame Studio-Erfahrung hatten (was wenigstens für Ponder/Muhammad natürlich nicht der Fall ist, aber das musikalische Umfeld, in dem sie aufeinander trafen, war meist ein ganz anderes) sollte sich jedoch nicht als Problem erweisen.

Frank Mitchell ist ein Musiker mit semi-legendärem Status, man weiss wenig über ihn, neben Alben mit Art Blakey („Buttercorn Lady“ vor allem, auf dem auch der junge Keith Jarrett zu hören ist, aber Mitchell ist auch auf „Hold On, I’m Coming“ dabei) gibt es Blue Note-Aufnahmen mit Lee Morgan: „The Sixth Sense“ entstand Ende 1967 im Sextett mit Jackie McLean, das CD-Reissue enthielt drei kürzere Tracks von einer Morgan-Session ein knappes Jahr später im Quintett mit Mitchell. Das Photo oben stammt wohl von den Sessions bzw. den Proben (Wolff war als Knipser wohl bei den Proben lieber gesehen als wenn die Aufnahmemaschinen liefen), es passt aber, das Morgan auf der nächsten Session auch auftaucht, gut hierher.

Mehr zu Frank Mitchell:
http://www.organissimo.org/forum/index.php?/topic/33696-frank-mitchell-whats-the-story/


Jimmy Ponder

Die anderen musikalischen Gefilde, in denen Ponder und Muhammad sonst unterwegs waren, sind jene des Soul Jazz und des Orgeljazz. Dass sie auf dieser Session von Hill auftauchen, ist schwerlich dem Zufall zu verdanken, denn das Resultat der Bemühungen – in der folgenden Session letzlich ohne die beiden eingespielt – ist Hills Soul Jazz-Album, so es dieses denn gibt. Ponder und Muhammad haben gemeinsam etwa mit Lou Donaldson, Rusty Bryant (auf Prestige) oder Stanley Turrentine aufgenommen.

Lee Morgan hatte das im letzten Post erwähnte Stück „The Rumproller“ als Nachfolger von „The Sidewinder“ eingespielt – und komponiert hatte es Andrew Hill! Cuscuna schreibt in den Liner Notes zum Connoisseur-Series Reissue von „Grass Roots“, auf dem die Session vom 19. April erstmals komplett erschien:

Michael CuscunaI once asked Andrew if he’d been commissioned by Alfred Lion to write „The Rumproller“ for Lee Morgan. Andrew said that it had just been one of many compositions that he’d played for Lion. When he came to „The Rumproller,“ Lion declared it a perfect follow-up to „The Sidewinder for Lee Morgan. And so it was.

Über den letzten Satz ist man sich wohl nicht einig, das Album erfreut sich unter puristischeren Jazzfans nicht sonderlich grosser Beliebtheit, ich mag es jedoch ziemlich gerne, aber Lee Morgan gehört sowieso zu meinen Lieblingsmusikern.


Idris Muhammad (Photo: Francis Wolff)

Die Musik der ersten beiden 1968er Session ist für Hill denn eine neuerliche Richtungsänderung – und keine, die sich so allmählich vollzieht wie der Wandel hin von der enorm strukturierten zur freien Musik, sondern wohl ein Wandel, der sich primär im Plattenstudio vollzog. Das Album ist auch das einzige aus Hills Diskographie, auf dem eine Gitarre zu hören ist. Muhammad nennt Cuscuna in den Liner Notes zum Mosaic Select „the ultimate groove drummer of that day and every day since“ – dem Urteil schliesse ich mich gerne an.

Den Auftakt macht der Boogaloo-Blues „MC“, Muhammad trommelt eine Art Latin-Beat, den man als Groove-Version von Elvin Jones hören kann, Reggie Workman spielt ein repetitives Bass-Lick, Hill und Ponder schieben zwei Akkorde im immer gleichen rhythmischen Muster durch die Blues-Changes. Frank Mitchell hebt zum ersten Solo an, mit muskulösem Ton und klaren Linien, in die sich da und dort kleine Verfärbungen einschleichen, ein unsauber angepeilter Ton, eine kleine Modulation. Das passt bestens zu Woody Shaw, der ebenfalls ein Mann der klaren Linie, des strahlenden (wenngleich schlanken und leicht bitteren) Tones ist. Es liegt ja nicht an der Rhythmusgruppe, dass diese Session damals nicht herauskam sondern wohl an den Bläsern, die nicht die gewünschte Einfärbung vorwiesen: zu puristisch wohl, eine andere Art Erdigkeit war erwünscht, die dann von Lee Morgan und Booker Ervin geliefert werden sollte. Das Stück „MC“ jedoch nahmen sie nicht wieder auf, im Gegensatz zu den drei folgenden dieser Session. Doch in „MC“ gibt es auch noch ein kurzes Solo von Jimmy Ponder und danach den Leader am Klavier zu hören, hinter dem besonders Workman zu Leben erwacht und da und dort fast schon an den hyperaktiven Stil des grossen Richard Davis erinnert, mit dem Hill zu Beginn seiner Blue Note-Zeit so oft aufgenommen hatte.

„Venture Inward“ ist das nächste Stück auf der CD, es ist weniger groove-orientiert und Mitchell spielt nach der Präsentation des Themas erneut ein starkes erstes Solo, gefolgt von einem hier etwas offener, wärmer klingenden Shaw. Workman glänzt auch hier wieder mit toller Begleitung, während Hill mehr oder minder wiederholt, was er schon im Thema spielte, dadurch – Horace Silver nicht unähnlich, aber im Charakter ganz anders – die ganze Nummer strukturierend. Doch in seinem Solo bricht er aus, es bleibt Muhammad überlassen, den Beat beizubehalten, denn Workman bleibt bei seinem nahezu solistischen Spiel, das man kaum Begleitung nennen mag. In einen echten Dialog mit Hill tritt er dabei nicht, doch erzeugt das gerade seinen eigenen Reiz, macht die Musik ordentlich dicht und bietet viel, auf das man hören will. Das nächste – kurze – Solo gehört dann passenderweise dem Bassisten, eine Rekapitulation des kurzen Themas schliesst die Aufnahme.

Und mit „Soul Special“ sind wir – bei dem Titel wenig überraschend – wieder im Boogaloo-Territorium, erneut ein Blues, eine tolle Basslinie von Workman, ein Thema mit rollender Klavierbegleitung wie man sie eher mit Herbie Hancock verbinden würde (Hill spielt sie auf seine eigene Weise), ein simpless Riff der Bläser, dazu Ponders singende Gitarre, die dann auch – direkt aus dem Thema heraus – zum ersten Solo ansetzt. Und hier wird klar, was Cuscuna meint, wenn er Muhammad den grössten aller Groove-Drummer nennt. Das klingt alles ganz einfach, aber es geht eben nicht darum, was man notieren könnte sondern darum, was er wirklich spielt, die kleinen Verschiebungen, das Feeling, das er einbringt, das auch ordentlich old school ist (dieses Ding bringt, bei allem Respekt, einfach keiner mehr heute … wollen sie wohl auch nicht mehr, aber es ist so verdammt gut, ich möchte es gerne öfter hören). Mitchell ist der nächste Solist, er hält seine Linien einfacher, da und dort wird auch hier klar, dass er Coltrane gehört hat, doch er verknüpft das bestens mit dem Groove, um den es hier in erster Linie geht. Shaws erste Phrase beginnt wie Freddie Hubbard (ein hoher Cry) und endet wie Lee Morgan (half valve-Effekte), er klingt hier nicht so sehr nach sich selbst, kommt zu nah ans Mikrophon, was zu Störgeräuschen führt, dann tritt er zurück und wieder nahe heran und dasselbe wiederholt sich … man fühlt fast schon die Bewegung, die da geherrscht haben muss. Hill folgt und wie Shaw und Mitchell hat er wohl ordentlich Spass an dem Groove, ihm gelingt es aber auch deutlich besser, seine Eigenheit trotz der simplen Vorgabe einzubringen. Das Stück wird nach der Wiederholung des Themas – mit Auschmückungen von Ponder – ausgeblendet, während die Gitarre weiter soliert.

Auch das nächste Stück wurde in der folgenden Session erneut eingespielt und landete auf dem Album: „Bayou Red“, Hills Hommage an die Kreolen und Mulatten in New Orleans „who, he maintains, ‚were so important in contributing to the Negro heritage.'“ – Ein faszinierendes Stück, das auch auf anderen Hill-Sessions keineswegs fehl am Platz gewesen wäre. Shaw trägt das Thema, Mitchell spielt eine Oktave tiefer unisono mit, Workman hält das Geschehen lebendig. Hill spielt hier das erste Solo und Workman begleitet auch hier sehr aktiv, während Ponder Akkorde legt und Muhammad den 3/4-Groove antreibt. Shaw und Mitchell folgen mit kürzeren Soli, die Rhythmusgruppe spinnt ein immer dichteres Geflecht, Ponder begleitet hier nahtlos mit und Muhammad wird immer aktiver.

Der Closer ist das zweite Stück, das bei der schliesslich veröffentlichten Session nicht wiederholt wurde, „Love Nocturne“ – eine Ballade mit interessantem Thema und einmal mehr fast durchgängig solistischem Bass. Auch dieses sehr atmosphärische Stück stünde jeder anderen Hill-Session gut zu Gesicht, Shaw glänzt mit einem phantastischen, sparsamen Solo, das mit Hills prägnanten Begleitung in den Dialog tritt, derweil Workman alles kommentiert. Hill übernimmt dann, weiterhin im Dialog mit Workman, der sich nun mehr auf die tiefen Töne konzentriert und schliesslich sein verdientes Solo bekommt, in dem er weniger spielt als sonst – aber das Wie ist ja bekanntlich oft wichtiger als das Was. Das ist nun gewiss nicht die beste Session von Hill, aber sie ist immer noch verdammt interessant – und Reggie Workman ist durchweg phantastisch!


Reggie Workman 1965 bei der Aufnahme für Lee Morgans „Infinity“ (Photo: Francis Wolff)

Am 5. August 1968 folgte die Session, bei der das Album Grass Roots entstand. Lee Morgan und Booker Ervin waren die Bläser, die Gitarre war raus, Ron Carter und Freddie Waits anstelle von Workman und Muhammad dabei – doch das Repertoire wie gesagt teils dasselbe.

Der Opener „Grass Roots“ ist eines der zwei neuen Stücke, und das Thema ist sehr eingängig, es wird auch schnell klar, dass Freddie Waits wohl der geeignetere Groove-Drummer für Hill ist – und überhaupt Muhammad nicht nachsteht. Ervin spielt das erste Solo, Morgan folgt, der erste zupackend, schnörkellos, direkt, der zweite nachdenklich, sich allmählich steigernd. Hill begleitet sparsam, Ron Carters Bass – er spielt hier Walking-Linien, vornehmlich in tiefen Lagen – ist es, der den entstehenden Raum füllt. Hill übernimmt am Klavier, dann Carter, während Waits seine Begleitung stets dem Geschehen anpasst.

Cuscuna hatte Hill gefragt, als das Album erschien, wie es zu diesen Kompositionen kam:

Michael CuscunaHe replied in his enigmatic way that it was „easy when you study the improvising styles of people like Lee Morgan and Booker Ervin to write material suited to them.“

Das wurde ja später durch das Auftauchen der ersten Session mit Shaw/Mitchell relativiert, aber dennoch, dass Morgan und Ervin bei aller Bodenständigkeit auch überragende Lyriker waren, ist ja bekannt und in dieser zweiten Version von „Venture Inward“ wird das überdeutlich. In Nat Hentoffs Liner Notes zur LP heisst es, Hill habe zum Stück gesagt, es ginge um das, was der Titel sage: „the exploring of the self“ und dann:

Nat Hentoff“I chose Lee and Booker,“ Hill says, „because each has so distinct a style. They’ve explored themselves, as is evidenced by the fact that they0re among the few musicians left with enough guts to develop and sustain their individual sound and conception. They are who they are no matter what’s in fashion.“

Es folgt das zweite neue Stück, „Mira“, ein eingängiger Latin-Groover, in dem Hill ein einfaches Lick repetiert, die Bläser unisono das einfache Thema präsentieren, Carter eine Half Beat-Lick spielt das gleichermassen Latin wie Funk ist und Waits einen leichten Latin-Beat trommelt. Hill spielt das erste Solo und sogleich wird alles spielerischer und zugleich ernster als es das während der Themenpräsentation war. Morgan folgt mit einem tollen Solo, das zunächst nur aus einzlenen Tönen besteht, die sich dann zu den für ihn so typischen langen Linien zusammefügen, die wiederum von repetitiven Passagen und kleine Licks unterbrochen werden. Ervin setzt dann zu einem sehr tollen Solo an. Die ganze Performance hat etwas Nachdenkliches aber zugleich auch Feierndes – Hill widmete den Song „to a lot of my frients of the Dominican Republic on the West Side“ und wird von Hentoff ferner zitiert, dass er stolz sei darauf, dass das Stück „an authentic feeling to it“ habe.


Freddie Waits (Photo: Francis Wolff)

Die zweite Seite des insgesamt etwas kurzen Album besteht dann nur aus zwei Stücken, den Remakes von „Soul Special“ und „Bayou Red“. Ersteres ist die Boogaloo-Nummer mit dem fetten Basslick und dem Backbeat über Blues-Changes. Carter/Waits bringen einen ganz anderen Flavour als Workman/Muhammad erdiger irgendwie, gradliniger. Vor allem aber ist Lee Morgan der perfekte Solist für diese Art von Groove, er blüht förmlich auf und glänzt mit seiner ganzen glorreichen Badness (dabei trug er doch diese depperte Mönchsfrisur, die mir ewig ein Rästel sein wird). Ervin folgt, und es ist sehr toll, einen so schweren Tenorsaxophonisten in dieser Art Groove zu hören – Lion besetzte ja eher Hank Mobley oder Joe Henderson, aber Ervin fügt sich perfekt ins Geschehen ein und erweist sich auch als Morgan ebenbürtig. Dann folgt Hill selbst, sein Solo wie überhaupt sein Spiel auf diesen beiden Sessions einfach, reduziert, aber dennoch dicht, repetitiv aber rhythmisch durchaus raffiniert.

Hill über Carter und Waits, die hier eine Schlüsselrolle spielen:

Nat Hentoff“Ron,“ Hill says, „is quite simply one of the greatest jazz bassists now living. He certainly has the technique to be fandy, but he concentrates on the one thing that makes jazz what it is – basic, honest feeling. He doesn’t use pretty phrases. He gets to the roots. And Freddie [Waits] too doesn’t let technique get in the way of real expression. Like Ron, he’s also remarkably diversified – he can play all kinds of styles well.“

Den Abschluss macht das Remake von „Bayou Red“ – das Stück wird von Morgan/Ervin in perfektem Unisono präsentiert (wie es im Vorjahr Shaw/Kenyatt auch drauf hatten), Carters Begleitung ist wiederum reduziert und dennoch auf seine Art wohl genau so toll wie Workmans viel aktiveres Spiel. Ervin setzt zum ersten Solo an, verzahnt sich mit der von Carter geprägten Rhythmusgruppe, bleibt länger in der tiefen Lage seines Instruments, streut ein paar orientalisch klingende Linien ein – was Morgan aufgreift, ebenso wie die Nachdenklichkeit, die schon bei Ervin zu spüren war. Hinter Morgan öffnet sich der Groove plötzlich, wird karger, weniger insistierend. Und Morgan nutzt den Raum, um ein tolles Solo aufzubauen. Carter/Waits werden in ihrer grossen Flexibilität auch hier genau wie Ervin/Morgan zum Teil des Erfolges – dass diese Version besser ist als jene der Session vom April, liegt wohl auf der Hand, doch wie gerne möchte man auch noch Morgan/Ervin mit Ponder/Workman/Muhammad hören und Shaw/Mitchell mit Carter/Waits … das Kopfkino läuft jedenfalls und alle möglichen Kombinationen haben ihre Faszination.


Booker Ervin (Photo: Francis Wolff)

(ich schicke das jetzt mal so ab, hab den halb-fertigen Teil des Posts zu „Dance with Death“ grad verlorgen, weil mal wieder das „add image“-Fenster nicht aufging und ich nur noch F5 hauen konnte und der Post dann in der gestrigen Version gespeichert war …. aaaarg!)

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