Re: Andrew Hill

#7893713  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,069

Nach den teilweise völlig freien Experimenten auf dem Album von Bobby Hutcherson – das freiste aller Stücke, „Dialogue“, stammte allerdings von Joe Chambers – hat sich auch Hill an freiere Musik herangetastet. Im Oktober nahm Hill sein nächstes Blue Note Album auf: „Compulsion!!!!!“ – es erschien im folgenden Jahr.
An seiner Seite waren Freddie Hubbard, John Gilmore und Joe Chambers, alles keine Neulinge in Hills Umfeld. Dazu stiess Cecil McBee am Bass, auf einem der vier Stücke von Richard Davis unterstützt, sowie die beiden Perkussionisten Nadi Quamar (der als Pianist unter dem Namen Spaulding Givens u.a. 1951 mit Mingus aufgenommen hat) und Renaud Simmons. Givens spielt zwei afrikanische Trommeln (möglicherweise selbst gebaute), Cnoga und Kalimba, während Simmons sich auf Congas beschränkt.

At the time, Andrew told liner note writer Nat Hentoff, „Listen to what is called the ‚avant garde‘ and you can hear African kinds of rhythms. You can hear field cries. You can hear the basic roots of jazz.
„And that is one of the healthy elements in the move forward. You can best extend a heritage by understanding its past thoroughly. Another healthy element in what’s happening now is that we’re engaged in the first real musical breakthrough since the bebop period. Although some writers tend to categorize all avant-garde players as being part of the same style, the fact is that there are now so many individual styles instead of everybody trying to mimic Charlie Parker and playing fast series of eighth notes and flatted notes. I think that this rise in individuality is also linked to a growing awareness among the young players of how deep and diversified our musical roots actually are.
„… I had a compulsion to construct an album expressing the legacy of the Negro tradition. For one thing, you’ll notice I try to use the piano in this set more as a percussive than as a lyrical instrument.“

~ Michael Cuscuna (March 1995), Liner Notes zu „The Complete Blue Note Andrew Hill Sessions (1963-66), p. 9

Das Titelstück ist ein Motiv aus fünf Tönen, es lebt vom Kontrast zwischen den 5/4 und 4/4 Rhythmen und Patterns, die ein und ausgeblendet und übereinander geschichtet werden. Hill soliert als erster, gefolgt von Hubbard, der mit einem tollen Solo über den Rhythmen abhebt. Gilmore spielt während eines folgenden Interludes die Bassklarinette, Chambers löst den Puls komplett auf, dann folgt Gilmore mit einem äusserst expressiven Tenorsolo, noch immer ohne festen Puls. Dann folgt ein Dialog der drei Drummer, zu dem sich schliesslich Hill (mit harten hohen Patterns) und McBee gesellen. Schliesslich wird der Beat wieder fest und das Thema wiederholt.
„Limbo“ heisst die zweite Nummer, sie folgt eher den üblichen Hill’schen Mustern, entwickelt sich über ein 12/8 Pattern von Chambers, in das sich McBee und die beiden Perkussionisten wunderbar einfügen. Das Thema besteht aus 20 Takten, in den ersten zehn spielen die Solisten Kadenz-artige Harmonien, in den zweiten zehn übernimmt die Rhythmusgruppe. Hubbard soliert als erster, konstruiert ein luftiges, streckenweise leicht Spanisch klingendes, melancholisch angehauchtes schönes Solo. Es folgt Hill mit einem sehr tollen tollen Solo, in dem er langsam-dahinschleichende Linien, dichte Akkorde und seine verschrobene Rhythmik zu einem ganzen verschmelzen lässt. McBee folgt, sein warmer, beweglicher Sound passt perfekt zu dieser Musik, verleiht ihr eine grosse Wärme. Es war wohl ein schlauer Entscheid, ihn an Davis‘ Stelle zu ins Studio zu holen. Gilmore
Das kürzeste Stück der Session, „Legacy“, wird ohne die Bläser präsentiert. Es handelt sich um ein freies Stück, in dem Chambers mit Besen einen 6/4-Rhythmus trommelt, während Simmons und Qamar in doppeltem Tempo Patterns drüberlegen. Hill soliert über diesen tollen Background mit aktiver Unterstützung von McBee.
Die letzte Nummer, „Premonition“, ist ein 6-taktiges Motiv aus lang-gehaltenen Tönen. Hubbard spielt Flügelhorn, Gilmore Bassklarinette, Davis stösst am gestrichenen Bass hinzu, während Qamar und Simmons mit „little instruments“ Farbe beisteuern. Die Solisten sind frei, sich als Basis einen der sechs Takte zu wählen. Hubbard soliert erneut als erster und weiss auch hier mit äusserst lyrischem und luftigen Spiel zu überzeugen – sein Spiel auf den beiden Hill-Sessions und auf „Dialogue“ gehört für mich wohl zum besten (und zugleich atypischsten) von ihm. Überhaupt ist das Stück von einer wunderbaren zugleich extrem lyrischen und völlig offenen Atmosphäre durchweht… Hill spielt reduziert, Gilmore folgt mit einem schönen Bassklarinettensolo, lotet die Sonorität des Instruments in den tiefen Lagen aus, kommentiert von Davis‘ Bass, der als Solist folgt, seinerseits von Qamar am Daumenklavier begleitet (Kalimba oder Mbira? Cuscuna schreibt Kalimba und so steht’s auch in der Diskographie).
Für mich ist „Compulsion“ eins der speziellsten Hill-Alben, vor allem natürlich wegen des afrikanischen Einschlags (der hie und da Erinnerungen an Tyners wenig später entstandene Blue Note Alben weckt, aber Hill macht das alles sehr viel feiner, lyrischer, ohne jeglichen Bombast), aber auch weil es das Versprechen von Hubbards und noch viel mehr Gilmores ersten Auftritten als Hill-Sidemen mehr denn einlöst. Zudem wird hier mit einer Freiheit musiziert, die bei Hill selten anzutreffen ist – und das funktioniert enorm gut!

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba