Re: Kriterien der Jazzkritik

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otis
Moderator

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Ich will die Sache noch einmal von einer anderen Seite her aufrollen.
Im Pop/Rock-Bereich gibt es Strömungen, die der eine oder andere rundweg ablehnt. Als Beispiel nenne ich jetzt mal Prog-Rock, den ich selbst nicht aus „geschmacklichen“ Gründen, sondern aus von mir für mich gesetzten ästhetischen Kriterien ablehne, diese Richtung ist mir im Großen und Ganzen zu prätentiös, zu selbstreferentiell, zu gewollt, zu ambitioniert, zu verschwurbelt gefällig oder was auch immer. Es gibt da sehr wenig, was ich leiden kann. Breitbein-Hardrock gehört für mich sicher auch dazu. Ich könnte dazu genauer werden, erspare es hier.

In Klassik und Jazz beobachte ich solche grundlegenden ästhetischen Ablehnungen nicht, wenn überhaupt, sehe ich sie dort politisch motiviert (z.B. Wagner) evtl. noch ansatzweise ästhetisch grundiert, aber nur sehr schwach (Rachmaninow).
Mich erstaunt also diese Einigkeit innerhalb der Klassik- und Jazzkritik (gebe zu, nicht wirklich tiefen Einblick bzgl. Jazz zu haben).
In der Klassik wird selten das Werk als solches hinterfragt oder gar der Komponist in seiner ästhetischen Bedingtheit, sondern am ehesten die Interpretation. Ein Bolero von Ravel wird kritiklos hingenommen, obwohl er im Grunde doch ein reiner Schmarren ist (klar, kann man über eine solche Aussage streiten, aber genau das meine ich ja, man tut es nicht).
Und die Jazzkritik? Mir scheint, sie ist auf einem ähnlichen Weg.
Coltrane scheint nicht hinterfragt werden zu dürfen, er ist irgendwo God. Seine Suche nach neuen und erweiterten Ausdrucksformen und musikalischen Neuerungen scheinen Werte an sich. Wer das nicht versteht, versteht Jazz nicht. Ich überspitze hier bewusst und nenne Coltrane nur als ein Beispiel (ohne im Übrigen diese Geschichte im Coltrane Thread genauer nachgelesen zu haben, die zum Streit führte).
Der Third Stream hat sich zwar nicht durchgesetzt, aber er wird nicht abgelehnt, die Sinner Lady steht vorn in vielen Rankings (für mich ist sie überzogen ambitioniert, ja, Prog). Out Of Lunch gilt als Meisterwerk, aber was macht es dazu? Ich kann es gut hören, aber empfinde gar nichts dabei. Es ist mir zu gewollt. Und ich bin nicht gewillt, diese ästhetischen Entscheidungen der Künstler mitzugehen, ich lehne sie für mich ab. (Jaa, Mingus hat auch viel Tolles gemacht, da bin ich sofort dabei)
Also noch mal: werden in der Jazzkritik ästhetische Entscheidungen von Künstlern wirklich auf den Prüfstand gestellt oder ist hier, wie schon in der Klassik, das Kanonisierte ohne Wenn und Aber nicht mehr hinterfragt?

PS: Mit weitaus radikaleren FreeJazz-Werken habe ich derzeit weitaus weniger Probleme als mit manchem von Coltrane.

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