Kriterien der Jazzkritik

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  • #73309  | PERMALINK

    otis
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    Registriert seit: 08.07.2002

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    Ausgekoppelt aus dem Eddie „Lockjaw“ Davis-Sterne-Thread:

    Da ich in den letzten Tagen mehr Jazz gehört habe, habe ich heute mein einziges Lockjaw-Album aufgelegt, immerhin ein originales Prestige Cookbook, nehme also an, es ist Vol. 1, da das nicht angegeben ist. btw: Sieht furchtbar aus, klingt aber phänomenal.
    Kann mir natürlich kein Urteil erlauben bzgl. seines Schaffens, aber **** wäre es mir eigentlich allemal wert. Die Power, die rüberkommt, die Straightness und Direktheit, packen mich sofort (habe die LP gekauft,da ich eine 7″ aus dem Album hatte, die mich ebenso sofort begeistert hatte).
    Es stört mich an vielen Stellen aber die Hammond der Scott, wenn sie auch oft erträglicher spielt, als ich es von anderen kenne (mit einer Flöte habe ich grundsätzlich meine Probleme im Jazz).
    Also eine LP, die mich von der Produktion und ihrer Grundhaltung durchweg anspricht (mit den nicht unerheblichen Einschränkungen bzgl. der Instrumentierung). Aber sie ist musikalisch wesentlich einfacher, um nicht zu sagen primitiver, als das, was Miles oder Trane oder … zur gleichen Zeit gemacht haben. Dennoch in ihrer Straightness nicht einfach nur old fashioned.
    Nun meine Frage, weshalb ich das Ganze hier auch nur poste: Findet eine solche Musik kaum eine positive Wertung, da sie in solch einem avantgardistischen Umfeld stattfand oder gibt es unter den Jazzafficionados, zu denen ich mich nicht zähle, auch solche eher poporientierten Kriterien wie Produktion oder Instrumentenwahl, die eine LP ab- oder aufwerten können?
    Die Frage schließt sich in irgendeiner Weise ja auch an den Coltrane Thread an. Mich interessiert das wirklich. Ist das Neuere für die Kanoniker nur um des Neueren willen das Bessere, das Cleverere nur um des Clevereren willen, und da sind wir schon schnell bei der Technik, das technisch Anspruchvollere nur um seiner selbst willen das Bessere.
    Ich hätte massive Probleme damit.
    Dass ich das hier poste, ist nur dem obenliegenden Thread geschuldet und meiner Lust, Eddie noch mal aufzulegen. Wir können es auch gern woanders hin legen.

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    #7880403  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
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    Registriert seit: 25.01.2010

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    Ich finde meine Bewertungen für Lockjaw ja ziemlich gut *** ist mal grundsätzlich in Ordnung, **** ist ein tolles Album, alles was drüber liegt fällt dann langsam unter Lieblingsalben oder Meilensteine – und letzteres hat Lockjaw nunmal einfach nicht abgeliefert.

    Für mich fällt er irgendwie in die Kategorie „Arbeiter“ – ein enorm solider Musiker mit einem unverwechselbar individuellen Sound, aber – wie etwa auch Gene Ammons oder Sonny Stitt – eben kein Musiker, der im Studio dann den grosssen Wurf hingekriegt hätte.

    Unter den Alben, die er mit Johnny Griffin gemacht hat, dürften sich dann allerdings fast nur ****er und ****1/2er finden (abgesehen von „Pisces“, das eindeutig schwächer ist).

    Um Deine Frage nach den Kriterien zu beantworten – falls ich das überhaupt kann… ich bewerte den Gesamteindruck der Musik, setzte das nicht bewusst aus einzelnen Kriterien zusammen (wie Instrumentierung oder Innovation oder Song-Auswahl etc). Allerdings kann eine besondere Besetzung aber auch sehr wesentlich zum Erfolg oder Zauber eines Albums oder einer Aufnahme beitragen… man denke etwa an das originale Gerry Mulligan Quartet, die Miles Davis Nonett-Sessions für Capitol, die Blue Note Alben von Jackie McLean/Grachan Moncur/Bobby Hutcherson oder die Red Norvo Band (mit und ohne Mildred Bailey) – es gäbe da unzählige Beispiele. Und beim Gesamteindruck spielt wohl oder übel auch mein Wissen, meine (Un)Fähigkeit, musikalische Bezüge und Ordnungen zu erkennen oder zu erfinden, eine nicht unbedeutende Rolle.

    Ob Musik neu oder clever sein muss… na ja, schwierige Frage. Aber um bei Lockjaw zu bleiben: ich höre ihn als einen stark in Coleman Hawkins und im R&B verwurzelten Musiker, der sein Ding mit grosser Überzeugung durchzieht. Dabei geht ihm aber so ziemlich jegliche Innovation ab (aber keineswegs die Cleverness!) – das spielt wohl auch eine Rolle, dass für mich bei ihm mit ****1/2 dann aber auch gut ist. Es fehlt eben am Ende das kleine Etwas, das Besondere, dass ihn heraushebt. Allerdings heisst das nicht, dass ich nicht immer wieder und mit grossem Genuss zu seiner Musik zurückkehre.

    Ich weiss nicht, ob das Deine Frage auch nur annährend beantwortet, aber die ganzen Ratings sind für mich noch immer ziemlich neu und ungewohnt und mir eigentlich auch ein wenig zuwider, da ich sowieso immer auf der Suche nach neuer Musik bin, unabhängig davon, ob die Neuzugänge meine Top-100 verändern oder nicht… und so strukturiert und nach Kriterien geordnet wie Du das tust (?), das kann ich jedenfalls nicht. Eben: es zählt der Gesamteindruck.

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #7880405  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

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    @otis: ein paar Sachen… ich hab eigentlich nicht den Eindruck, dass unter Jazzfans „Anachronismus“ in diesen Jahren (1955-1970) besonders abgestraft wird, es passierte einfach zu viel parallel… die große Zeit der Orgel im Jazz, des Soul Jazz… begann ja auch erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, wer Freude an solcher Musik hat, muss damit leben (und lebt damit), dass sie überwiegend nach Kind of Blue aufgenommen wurde…

    was die technische Seite der Dinge betrifft, sollte man zumindest sagen, dass Lockjaw Davis bis heute unter Saxophonisten einen besonderen Stellenwert hat, als Meister der Klangfarben, jemand der die Kunst einzelne Töne genau so zu schattieren wie er sie haben wollte, besser beherrschte als alle vor ihm und (wohl fast noch mehr) nach ihm… was immer das genau heißt, aber Jan Garbarek hat mal in einem Interview Davis als den einen Musiker herausgestellt, dessen Musik er täglich hört… klar, auf anderen Ebenen ist die Musik technisch entschieden weniger anspruchsvoll…

    was schließlich das Cookbook Vol 1 betrifft:da stimme ich dir zu, wenn ich dich richtig verstehe, mir ist die Produktion etwas zu gefällig, also, etwas viele Balladen neben einzelnen tollen Stücken, die Flöte nervt, die Orgel ist nicht schlecht, könnte aber entschieden zupackender sein… hab meine endgültige Meinung über Scott noch nicht gemacht, nie etwas wirklich schlechtes gehört, aber die Spitzen fehlen… gemessen daran, dass ich Lockjaw in meinem Tenoristen-Ranking immerhin auf acht gesetzt hab, sind das da oben wirklich schlechte Albenwertungen, keine richtigen Ausfälle, aber auch kein Album, wo wirklich alles stimmt… (wieder eine Überleitung zum Coltrane Thread…) in die Alben mit Johnny Griffin (Lookin‘ at Monk…) setz ich große Hoffnungen, die gelegentliches Anspielen bisher bestätigt hat, aber im wesentlichen hab ich die noch vor mir…

    --

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    #7880407  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
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    Nun ja, irgendwie ist Lockjaw als Saxophonist IMMER eindrücklich und IMMER überzeugend – aber seine Musik als ganzes ist eben nicht individuell genug, um sich auf ähnlichem Niveau zu bewegen wie sein eigenes Spiel.
    Das ist vielleicht gleich noch eine Parallele zu Gene Ammons – der hat wohl auch kaum ein schlechtes Solo aufgenommen, aber der Rahmen, in dem die Musik entstand ist dann eben oft doch ziemlich… generisch.

    --

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    #7880409  | PERMALINK

    redbeansandrice

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    gypsy tail windNun ja, irgendwie ist Lockjaw als Saxophonist IMMER eindrücklich und IMMER überzeugend – aber seine Musik als ganzes ist eben nicht individuell genug, um sich auf ähnlichem Niveau zu bewegen wie sein eigenes Spiel.
    Das ist vielleicht gleich noch eine Parallele zu Gene Ammons – der hat wohl auch kaum ein schlechtes Solo aufgenommen, aber der Rahmen, in dem die Musik entstand ist dann eben oft doch ziemlich… generisch.

    hmmm, einen kleinen Unterschied hör ich da schon… als Solist überzeugt mich Lockjaw wohl mehr… aber Ammons hatte so eine tolle Großspurigkeit, die in meinen Ohren auch auf die ganze Musik abstrahlen konnte, mehr als bei Lockjaw, da gibt es schon einige Alben, die ich als das was sie sind ziemlich großartig finde…

    --

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    #7880411  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
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    redbeansandricehmmm, einen kleinen Unterschied hör ich da schon… als Solist überzeugt mich Lockjaw wohl mehr… aber Ammons hatte so eine tolle Großspurigkeit, die in meinen Ohren auch auf die ganze Musik abstrahlen konnte, mehr als bei Lockjaw, da gibt es schon einige Alben, die ich als das was sie sind ziemlich großartig finde…

    Ja, da hast Du schon recht, dass die beiden etwas anderes austrahlen.
    Aber ich hab’s mir beim erstellen meiner Monsterliste überlegt und kam bei Ammons eben auch zum Schluss, dass fast nichts über **** herauskommt, weil da immer etwas ist (und seien’s die Congas auf „Boss Tenor“), die mich stören oder davon abhalten, die Alben für komplett gelungen und grossartig zu halten.
    Aber die Diskographie von Ammons ist auch etwas grösser (zumindest was die Tätigkeit bei Prestige, die „klassischen Jahre“ gewissermassen, betrifft) und ich müsste da erstmal wieder vieles hören, bevor ich mich ans besternen machen könnte.

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    #7880413  | PERMALINK

    otis
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    gypsy tail wind
    Ob Musik neu oder clever sein muss… na ja, schwierige Frage. Aber um bei Lockjaw zu bleiben: ich höre ihn als einen stark in Coleman Hawkins und im R&B verwurzelten Musiker, der sein Ding mit grosser Überzeugung durchzieht. Dabei geht ihm aber so ziemlich jegliche Innovation ab (aber keineswegs die Cleverness!) – das spielt wohl auch eine Rolle, dass für mich bei ihm mit ****1/2 dann aber auch gut ist. Es fehlt eben am Ende das kleine Etwas, das Besondere, dass ihn heraushebt. Allerdings heisst das nicht, dass ich nicht immer wieder und mit grossem Genuss zu seiner Musik zurückkehre.

    … und so strukturiert und nach Kriterien geordnet wie Du das tust (?), das kann ich jedenfalls nicht. Eben: es zählt der Gesamteindruck.

    ad 2: Nein, ich höre und bewerte Musik nicht nach Kriterien geordnet.
    ad 1: Das war eigentlicher Teil der Frage: Muss etwas im Jazz wirklich innovativ sein, um in der Breite anerkannt zu sein?
    Ich versuche derzeit zu verstehen, nach welchen Kriterien Jazzkritik funktioniert. Ins Auge stechen: kollektives Zusammenspiel, instrumentales Ausdrucksvermögen (ich schreibe bewusst nicht: Können), Innovation, Improvisations“kunst“.
    Da gibt es sicher noch mehr, bitte ergänzen.
    Ich denke, die Gewichtung dieser Kriterien verschiebt sich von Künstler zu Künstler, von Platte zu Platte, keine Frage. Dennoch habe ich von außen den Eindruck, dass in der Jazzgemeinde folgende GewichtungVorrang zu haben scheint: Improvisationskunst, Innovation, Zusammenspiel, Instrumentaler Ausdruck. Wobei ich mir bei der Reihenfolge der ersten beiden nicht so sicher bin.

    Ich kann die letzten Beiträge auch woanders hinlegen, wenn mir jemand sagt, wohin. Muss man ja nicht hier diskutieren.

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    #7880415  | PERMALINK

    sonic-juice
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    otis
    Nun meine Frage, weshalb ich das Ganze hier auch nur poste: Findet eine solche Musik kaum eine positive Wertung, da sie in solch einem avantgardistischen Umfeld stattfand oder gibt es unter den Jazzafficionados, zu denen ich mich nicht zähle, auch solche eher poporientierten Kriterien wie Produktion oder Instrumentenwahl, die eine LP ab- oder aufwerten können?

    Nach meinem Eindruck gibt es, abseits der mehr oder weniger professionellen Kritiker, im Jazz genauso wenig Leute, die kategorisch, wissenschaftlich und katalogisierend an Musik herangehen, wie im Pop. Das ist ja kein Zufall, dass eine Top 50-Liste hier im Forum, sei es im Pop oder Jazz, soviele Fragen und Wirrungen auslöst bei Leuten, die die Besonderheiten dieses Forums noch nicht in- und auswendig kennen und die nicht in Sternen, Listungen und Rankings denken. Und dass selbst professionelle Kritikerbewertung, sofern sie sie sich in Rankings und Sternen ausdrückt, oft weit unter dem Anspruch an Kohärenz, Schlüssigkeit und Aussagekraft bleiben, der an dieser Stelle zum Teil erwartet wird. Wenn ich mich in meinem privaten Umkreis mit Jazzliebhabern austausche, merke ich immer wieder, dass eine zu analytische Diskussion da eher auf Befremden stößt.

    Ich höre und bewerte Jazz im Übrigen wie Pop. Letztlich kann also z.B. ein verhältnismäßig wenig innovatives und musikalisch brillantes bei mir vorne liegen, wenn es die mir einleuchtenderen (um nicht zu sagen: eingängigeren) und bewegenderen Phrasen, Grooves und Melodien hat. Dass sich diese Bewertung, was man als eingängig, bewegend, spannend etc. empfindet, bei zunehmend intensiverer Beschäftigung mit den Hintergründen der Musik verändert, muss man natürlich mitdenken.

    Mich würden übrigens gerade Deine Jazz-Favoriten (seien es nun 20 oder 50) sehr interessieren. Oder findet man die schon irgendwo?

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    #7880417  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Da würde ich dagegenhalten, dass nach meinem empfinden die meisten profesionellen Kritiker auch wenig bis nicht analytisch vorgehen. Ausnahmen gibt es bestimmt, aber die (verschwindende) Jazzkritik in der Tages- und Wochenpresse etwa lässt diesbezüglich auch sehr zu wünschen übrig.

    @ otis: ich kann diese Kriterien, die Du nennst, nicht in eine klare Ordnung bringen, wie Du sagst werden sie am Ende bei jedem Musiker oder gar von Album zu Album anders gewichtet. Wenn ich eben Lockjaw höre ist z.B. Innovation kein Thema (und um das festzuhalten: Innovation ist keineswegs mein Nonplusultra, dem ich stets hinterher renne und ohne das ich Musik langweilig finde oder unbedeutend).
    Für mich wäre jedenfalls das instrumentale Ausdrucksvermögen (ja, richtig, wie Du sagst geht es hier nicht um Virtuosität) ganz vorne – und da punktet dann ein Lockjaw mühelos. Aber ich bleibe beim Gesamteindruck, denn am Ende war vielleicht Hank Mobley kein grosser Virtuose, kein Neuerer, überhaupt ein Musiker, der eigentlich in keiner Hinsicht heraussticht… und dennoch gehört er zu meinen Lieblingsmusikern, weil er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine ganz eigene Spielart des Hardbop entwickelt hat und für Blue Note eine Reihe äusserst stimmiger, in sich geschlossener Alben aufgenommen hat.

    Und ich schliesse mich an, wäre auch an einer Liste Deinerseits interessiert!
    Wenn’s denn nicht 50 und gerankt sein sollen, dann ist hier der Ort für andere Listen.

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    #7880419  | PERMALINK

    sonic-juice
    Moderator

    Registriert seit: 14.09.2005

    Beiträge: 10,983

    gypsy tail windDa würde ich dagegenhalten, dass nach meinem empfinden die meisten profesionellen Kritiker auch wenig bis nicht analytisch vorgehen. Ausnahmen gibt es bestimmt, aber die (verschwindende) Jazzkritik in der Tages- und Wochenpresse etwa lässt diesbezüglich auch sehr zu wünschen übrig.

    Da widersprechen wir uns gar nicht. Habe die professionelle Jazzkritik nur ausgeblendet, weil ich (nicht nur auf die Schnelle) nichts dazu sagen kann, ob man etwa im Penguin Guide oder bei Wolfgang Sandner in der FAZ kohärente Kriterien finden kann, die sich durch alle Kritiken ziehen. Wahrscheinlich würden die seriöseren Kritiker zumindest den Anspruch erheben, solche Kriterien zu haben. Und Jazz-Fachblätter lese ich nicht. Frage ist halt, was ansonsten den „Jazz-Aficionado“ ausmacht.

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    #7880421  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Bei mir ist’s schlicht Leidenschaft, Passion… analysieren mag ich hie und da ganz gerne, ich lese auch gerne mal was gutes (z.B. Ekkehard Jost über Free Jazz und die Sozialgeschichte des Jazz).

    Andererseits, was heisst überhaupt analytisch in Bezug auf Jazz? Man kann ja nicht Partituren dekonstruieren oder Argumente und Theorien analysieren – ich finde das em Ende sowieso ein recht schwammiges Territorium – jedenfalls ist es selten, dass man wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Jazz antrifft, die diese Bezeichnung auch verdienen. Diesbezüglich ist Jost von dem wenigen, was ich kenne, bestimmt etwas vom besten.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #7880423  | PERMALINK

    tejazz

    Registriert seit: 25.08.2010

    Beiträge: 1,100

    Nicht immer werden auch Innovationen als solche hinreichend von den Kritikern zum Zeitpunkt des Entstehens/Auftretens hinreichend gewürdigt.
    Andererseits findet man, wenn man alte Hefte des Down Beat durchblättert, auch durchnittliche Kritiken zu Platten, die heute viel besser bewertet werden.
    Manches braucht seine Zeit, manches ist zu „altmodisch“ für seine Zeit und wird erst nach Jahren oder Jahrzehnten neu bewertet.

    Anfangs hielt ich mich, neben den Ratschlägen eines guten Freundes, am Allmusic Guide fest. Als ich ihn dann im Internet entdeckte (und es vielleicht auch keine neuere Buchauflage gab?) und ich weitere Musiker bzw. Platten entdeckte hatte, stieß ich darauf, daß der bis dahin von mir geschätzte Scott Yanow mitunter CDs nach Laufzeiten (mit-)bewertete. Wenn dieseselben Aufnahmen in Kopplung einer weiteren, mitunter auch schwächeren Aufnahmesession (wie auch immer) erschien, ging die Wertung oft um einen Stern nach oben. Manchmal wies er direkt auf geringe Laufzeit, aber ausgezeichnete Plattenaufnahme hin (Savoy/Denon? recht häufig). Kurios war/ist, daß einige der Platten im AMG von ihm anders bewertet wurden als beispielsweise in seinem BEBOP-Buch (welches ich sehr schätze).
    Ich habe damals ein paar mails dorthin gesendet, um das für mein Verständnis erklärt zu bekommen, aber habe nie eine Antwort bekommen.

    Das als Beispiel, wie sich Kritiker verhalten. Was geht mich mein Geschreibsel von gestern an?

    Und, ja, Lockjaw Davis war einfach ein sehr guter Handwerker. Kein Davis, Dolphy oder Coltrane. Aber ein sehr solider, aus der Hawkins-Linie stammender Tenorist mit R&B-Note.
    Und drei Sterne sind gut!

    In vielen älteren Nachschlagewerken gab es nur „glatte“ Sterne, keine halben.
    Wenn sowas irgendwann mal abgepinselt und ins Internet gestellt wird, gibt es vielleicht auch keinen „Nachschlag“ um einen halben Stern, weil man die ganzen Platten vorher einfach nicht nochmal hören konnte. Auch der Unterschied zwischen Down Beat 50-er und 60-er Jahre und dem AMG ist oft beachtlich.
    Und im AMG fiel mir auch auf, daß ein MOSAIC-Set (z.B. Buddy DeFranco mit Sonny Clark) höher bewertet wird als die Einzel-LPs. Da gibt es dann wohl einen Komplettierungsbonus.

    Und wer schon ca. 10.000 LPs und mehr gehört hat, weiß zwar oft, welche Platten schlecht bzw. überragend waren, aber das Mittelfeld, die fünfte oder zehnte LP von Lockjaw Davis, ist nicht mehr so präsent. Er weiß, daß der Kerl gut war, aber ihm gefällt das mit der Orgel nicht. Solide Arbeit, keine Zeit, die Platte aufzulegen. Jimmy Smith war an der Orgel besser als Shirley Scott. Kann nicht besser als 3 Sterne sein.
    Das sind auch nur Menschen.

    Und wer will nur Musik hören, die eine hohe Sternchenanzahl von irgendjemanden bekommen hat? In unserem Jazzkreis muß man nur begründen, warum man Titel/Musiker nicht mag. Da sind schon Leute bei, die sich professionell mit Jazz beschäftigen. Aber es macht auf Dauer wenig Spaß, die Musik zu zerreden. Deshalb obiger Konsens. Wobei ja immer gern gehört wird, wenn ein Fachmann Ausführungen zu besonderen leistungen der Musiker usw. macht.

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    #7880425  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

    Beiträge: 13,466

    tejazz
    Und im AMG fiel mir auch auf, daß ein MOSAIC-Set (z.B. Buddy DeFranco mit Sonny Clark) höher bewertet wird als die Einzel-LPs. Da gibt es dann wohl einen Komplettierungsbonus.

    ein Grund für Inkonsistenzen bei allmusic ist, dass oft verschiedene Autoren verschiedene Ausgaben einer Platte bewerten, das führt in Einzelfällen auch schonmal zu drei deutlich verschiedenen Bewertungen… meistens sind es dort auch – wenig übersachend – die weniger aktiven Rezensenten wie Eugene Chadbourne oder Ken Dryden, die die interessantesten Texte schreiben… bei organissimo wurde auf Yanow zeitweise so viel herumgehackt, dass der sich dort irgendwann angemeldet hat :-) kam aber wenig überaschend nicht viel bei rum… den sollt man wohl als Kritiker nicht überbewerten, allein die Tatsache, dass er das langfristige Ziel hat, den ganzen Jazz bis zu einem gewissen Zeitpunkt rezensiert zu haben, sagt wohl alles…

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    #7880427  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,000

    Ja, Allmusic ist hit and miss – manche Texte sind gut, vieles ist knapp und sachlich, ohne viel auszusagen. In meinen Anfangsjahren hatte ich meine Infos noch aus Büchern (v.a. Berendts „Jazz Buch“ sowie diese Collection Jazz, von der ich die Bände über Coltrane, Miles, Mingus, Monk und Ornette besass, irgendwann kam dann noch Josts „Free Jazz“ hinzu), dann auch von Allmusic, aber bald entdeckte ich den Penguin Guide (4. Auflage).
    Das sollte fortan mein wichtigster Wegweiser sein, neben Diskussionsforen im Internet, in denen man sich andere Meinungen und v.a. auch Informationen über Raritäten, Vergriffenes etc. holen konnte. Das halte ich eigentlich bis heute so – die Penguin Guides sind noch immer mein liebstes Nachschlagewerk, auch weil sie einigermassen konsistent sind und man mit der Zeit ein Gefühl entwickelt für die Vorlieben der Autoren und v.a. auch dafür, wo der eigene Geschmack von dem der Autoren abweicht und man also gefahrlos auch auf **- oder **1/2-Alben losgehen kann.
    Zudem gibt’s beim Penguin Guide auch ein Vorwort, in dem versucht wird, die Ratings zu erklären – bei Allmusic wirkt da auf mich alles sehr beliebig und eben: inkosistent. Abgesehen davon müssten die mal mächtig aufräumen mit falschen und doppelten Einträgen.

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    #7880429  | PERMALINK

    monoton

    Registriert seit: 07.02.2010

    Beiträge: 1,018

    Ich will Euch ja hier nicht stören und freue mich, dass Ihr Euch über Bewertungskriterien so differenziert austauscht, aber weshalb sollte es beim Jazz andere Kriterien geben, als bei jeder anderen Musik- oder Kunstart?

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