Re: Tenor Giants – Das Tenorsaxophon im Jazz

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(Photo: Jos Knaepen)

Ich möchte an dieser Stelle ein gutes Wort für Bennie Wallace einlegen, einen zeitgenössichen Tenoristen, dessen Spiel mir ausserordentlich gut gefällt. Als ich ihn das erste Mal hörte – es war das fanstastische Gershwin-Album von 1999 auf Enja – verliebte ich mich auf der Stelle in sein schrulliges Spiel, das von einem riesigen Ton lebt, der stark an Webster erinnert. Den altmodischen Sound, der auch stark vom Süden geprägt ist (Wallace wurde 1946 in Tennessee geboren und hat u.a. mit Dr. John gearbeitet), kombiniert er mit Linien, die an Eric Dolphys wild gestikulierendes Spiel gemahnen. Diese Mischung ist enorm schwierig hinzukriegen – bei rasanten Läufen und waghalsigen Sprüngen wird der Ton oft dünner, beweglicher, Wallaces riesigen, von starkem Vibrato geprägten Ton bei seiner Spielweise beizubehalten, ist unglaublich schwierig. Aber darum geht’s natülich nicht, blosses technisches Können allein reicht nicht aus.

Vor ein paar Wochen fand ich endlich mal die erste seiner beiden Blue Note Platten, TWILIGHT TIME, zu einem guten Preis und in hervorragendem Zustand, sie dreht sich derzeit auch auf dem Plattenteller und inspiriert mich zu diesem Post.

Wallace‘ Musik formte sich in den frühen 70ern in der Umgebung von Knoxville, in relativer Isolation von dem, was musikalisch zur gleichen Zeit in Zentren wie New York abging. Er spielte Blues und Bebop und studierte in Chattanooga, seiner Heimatstadt. 1971 zog es ihn nach New York, wo er sowohl mit der Loft Szene als auch Beboppern wie Tommy Flanagan oder Barry Harris in Kontakt kam. In den folgenden Jahren spielte er auch mit Monty Alexander, Sheila Jordan, George Gruntz‘ Concert Jazz Band und dem Buddy Rich Orchestra.
Ab 1977 leitete Wallace eigene Bands, zunächst vornehmlich ein Trio, dem zu unterschiedlichen Zeiten die Bassisten Glen Moore und Dave Holland sowie die Drummer Eddie Moore, Jack DeJohnette, Elvin Jones und Billy Hart angehörten. Am beständigsten und auf einigen schönen Enja-Alben dokumentiert ist das Trio mit Eddie Gomez und Dannie Richmond. Gomez kam aus einer langjährigen Zeit bei Bill Evans, Richmond begann sich nach fast einem ganzen Leben an der Seite von Charles Mingus neu zu orientieren.

Das Debut-Album THE FOURTEEN BAR BLUES entstand mit Gomez und Eddie Moore, auf LIVE AT THE PUBLIC THEATRE und BENNIE WALLACE PLAYS MONK sind dann Gomez und Richmond zu hören, auf letzterem zudem Jimmy Knepper, der alte Mingus-Kollege von Richmond.
Herausragend ist das Album BIG JIM’S TANGO, für das Wallace die herausragenden Begleitern Dave Holland und Elvin Jones gewinnen konnte. Ebenfalls zu Beginn der 80er Jahre gesellte sich Chick Corea zum Trio Wallace/Gomez/Richmond, das resultierende Album MYSTIC BRIDGE kann sich ebenfalls sehen (hören) lassen.
Mitte der 80er Begann Wallace seine Bands zu erweitern, Ray Anderson und John Scofield stiessen oft dazu, die Rhythmusgruppen änderten sich, auch wenn Gomez auf TWILIGHT TIME noch zur Band gehörte. Zwischen den beiden Blue Note LPs entstanden zwei Alben für Denon, eins mit Yosuke Yamashita, ein zweites namens THE ART OF THE SAXOPHONE mit Oliver Lake, Jerry Bergonzi, Lew Tabackin sowie dem Veteranen Harold Ashby.
Wie schon auf TWILIGHT TIME war auch auf BORDERTOWN Dr. John am Piano der Mittelpunkt der Band, ebenfalls waren wieder Ray Anderson, John Scofield, Eddie Gomez und andere zu hören.

Nach dem 1987 erschienenen BORDERTOWN wurde es für einige Jahre ruhig um Wallace. 1993 erschien auf AudioQuest ein schönes Album mit dem passenden Titel OLD SONGS, das Wallace im Trio und Quartett mit Bill Huntington (b), Alvin Queen (d), sowie Lou Levy (p) präsentierte. Auch die Zusammenerarbeit mit Enja wurde fortgesetzt und Ende der 90ern erschienen sowohl auf Enja wie auch auf AudioQuest zwei hervorragende Quartett-Alben: SOMEONE TO WATCH OVER ME ist die erwähnte Gershwin-Hommage, mit Mulgrew Miller, Peter Washington und Yoron Israel. BENNIE WALLACE ist vielleicht das schönste Album in Wallace‘ bisherigem Schaffen. Begleitet von Tommy Flanagan, Eddie Gomez und Alvin Queen präsentierte Wallace ein Programm aus Ellington/Strayhorn-Titeln und Standards, zumeist von der weniger bekannten Sorte. 1999 trat er zudem mit George Cables, Peter Washington und Herlin Riley am JazzFest Berlin auf – auch diese Aufnahme wurde auf Enja veröffentlicht, sie enthält u.a. eine tolle Version von „It Is Only a Paper Moon“.
In den folgenden Jahren entstanden einige weitere Alben, darunter MOODSVILLE mit Miller, Washington und Lewis Nash, sowie 2004 die bisher letzte Veröffentlichung, erneut vom JazzFest Berlin: im Nonett präsentierte Wallace seine Hommage an Coleman Hawkins, in der Band spielten alte Gefährten wie Ray Anderson und Alvin Queen neben jüngeren Musikern wie Brad Leali, Jesse Davis und Danton Boller, der mit Wallace einige Jahre live unterwegs war. Die Aufnahme wurde 2007 von Enja veröffentlicht.
Was Wallace in den seither vergangenen Jahren getrieben hat weiss ich nicht. 2002 spielte er auf Solomon Burkes tollem DON’T GIVE UP ON ME, 1999 spielte er zudem auf Eric Watsons hervorrandem FULL METAL QUARTET (mit Ed Thigpen und Mark Dresser). Bis 2008 ist er jedenfalls häufig live aufgetreten für 2009 und 2010 führt seine Website nur wenige Gigs, neuere Lebenszeichen sehe ich keine.

Ein paar Links:
Homepage
Interview zu DISORDER AT THE BORDER

Video-Interviews (kann man auch auf seiner Website anschauen, dort findet sich noch weiteres):
Über Einflüsse und Mentoren (kurze Erwähnung von Fred Jackson am Ende!)
Die Tenor Giants
Über NYC (Monty Alexander, Wilbur Ware)
Über sein erstes Leader Date
Zum Finden des eigenen Sounds
My approach on tenor
Die Arbeit im Trio
Die Zusammenarbeit mit anderen Musikern
Improvisation
Über sein Leben
Tommy Flanagan

mit Danton Boller (b) & Alvin Queen (d)
Thangs (Wallace‘ Variante über „All the Things You Are“)
Body & Soul

Brugge 2006 mit Steve Nelson (vib), Boller (b) & Queen (d):
Pt. 1 & Pt. 2 (ist das „Pannonica“? Jedenfalls Monk…)

Mit einer grösseren Band:
In a Sentimental Mood

Mt. Fuji Blue Note Jazz Festival 1987 mit Charnett Moffett (b) & Dannie Richmond (d):
It Has Happened to Me

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