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Daniel_BelsazarIch habe ihn damals in Berlin-Kreuzberg im Kato am Schlesischen Tor kennengelernt. Er betrieb eine Gruppe mit dem komischen Namen „Phoenix Reine Erde“, spielte selber dabei seinen sogenannten ,,Fantaziser“, ein aus allen möglichen Klopfdingen zusammengebasteltes Instrument samt Trommel, dessen Töne er durch verschiedene elektronische Klangverfremdungen wie Wah-Wah, Echo usw. schickte. Das Ganze waberte am Ende recht merkwürdig, so ähnlich wie ein natürlicher Sequenzer.
Ich bin da eingestiegen, weil mir zum einen die Idee des nicht traditionellen Tonerzeugens sehr zusagte, zum anderen schien die zugrunde liegende Philosophie der absoluten Freiheit des Einzelnen innerhalb der Musizierenden die Tür für interessante Erfahrungen zu öffnen. Zudem gab es dadurch immer wieder nutzbringende und weiterführende Begegnungen mit vielen anderen Musizierenden und Musikern, was der persönlichen Entwicklung eigentlich nie abträglich sein kann. Die Gruppe hat nie geübt bzw. bei allen Auftritten öffentlich „geübt“ bzw. alles Üben öffentlich betrieben, wenn nichts anderes ging auch notfalls am Kudamm mit einem tragbaren Benzin betriebenen Stromgenerator. Die Besetzungen wechselten zwischen Trio bis hin zu 25 Leuten.
Ich erinnere mich an einen Auftritt bei irgendeiner Ausstellungseröffnung in Charlottenburg, wo etwa 15 Leute gemeinsam unabgesprochene, freie Musik machten – und zwar etwa vier Stunden lang. Davon waren rund 2-4 Minuten wirklich sternenmäßig , weil sich alle zu diesem Moment endlich gefunden hatten. Als Beteiligter war diese freie Übereinkunft von so vielen Menschen ein unglaublich berührendes und bewegendes Erlebnis. Als Zuhörer hätte ich mir das aber wahrscheinlich nicht lange angetan.
Und nein, soweit ich weiß, kam John Love Noa, wie er sich zu der Zeit jedenfalls nannte, nicht aus England, sondern aus Troisdorf bei Köln. Er war ein ziemlicher Chaot und „Spinner“, dessen Energie damals aber immerhin noch für das jahrelange Betreiben der Band und ein Buchmanifest einer „Anarchistischen Erotic“ mit 426 Thesen reichte. Ich habe ihn nach einigen Jahren aus den Augen verloren, meinerseits aus hier nicht zu erörtenden Gründen durchaus nicht ungewollt.
Eine abenteuerliche Geschichte! Den Fantasizer hätte ich gerne mal gehört.
Erstaunlich auch deine Ansätze und Gedanken zu dieser Form des Musizierens, bzw. auch das Konzept dieses Kollektivs.
Verrückt daran ist, dass ich vor einem Jahr etwas sehr ähnliches durch- bzw. erlebt habe. Mit Embryo, die quasi ein ganzes (kleines) Festival für diese Formen auf die Beine gestellt hatten. In der Nähe von Gorleben spielten am ersten Abend auch sämtliche Musiker zusammen und improvisierten miteinander durch die Nacht. Teils auch mit bis zu 20 Personen zugleich. Da gab es einige Sternstunden; vielleicht weil die Leute teils extrem fit waren an ihren Instrumenten waren; und weil das wohl inzwischen auch regelrecht etabliert ist. – in Kassel gibt es einmal jährlich ein ähnliches Festival.
Am zweiten Abend spielten dann noch die individuellen Gruppen, aber auch hier nur improvisierte Musik. Ich hatte manchmal auch den gleichen Gedanken wie du, wie das Ganze wohl beim Hörer ankommt. Aber das war durchweg positiv in dem Fall. Sehr cool war auch, dass sehr viele Musiker zuhörten. Das hat das Ganze nochmal gepusht und jeder war auch versucht, sein Bestes zu geben. Noch Tage danach waren wir alle total elektrisiert…
Dem ging natürlich auch voraus, dass wir vorher schon ein Trio waren, welches auch ausschließlich frei gespielt hat, ohne Proben und direkt „rauf auf die Bühne“. (aber heute ist das natürlich nicht mehr so besonders)
Die Musikgeschichte ist warscheinlich prall gefüllt mit „Spinnern“ und ähnlichem. Man lernt die ganzen Leute ja nicht immer persönlich kennen, aber es gibt bestimmt einige, auf die das sehr gut zutrifft. Es bleibt ein schmaler Grat, wobei manche aber auch gekonnt damit kokettieren…
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