Re: "Krautrock" und seine Verwandten

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some-velvet-morning

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Close to the edge
Ich glaube ja, dass diese ignorante Haltung der Berichterstattung schließlich für einen solchen Überdruck im Kessel gesorgt hat, dass als gerechnte Strafe und logische Konsequenz die Etablierung der NDW herauskam. Eine Fülle von Dilettanten (jedenfalls teilweise), gegen die kein Kraut mehr gewachsen war. Explosionsartig wurde jeder zum Popstar, der nicht rechtzeitig auf dem Baum war.
Die NDW hat uns gerettet. Erst seit wir sie überstanden hatten, wurde über deutsche Musik einigermaßen fair berichtet.

Ich finde Deine Überlegungen sehr interessant, close to the edge. NDW ist letzlich Punk in deutscher Form. Als Annette Humpe zu ihrem Auftritt in der ZDF Hitparade befragt wurde, bestätigte sie mein Denken.
Als ich als Kind Kraftwerk live bei Dieter Thomas Heck gesehen habe, war das so radikal anders. Dieses biedere, alteingesessene Schlagerpublikum und dann diese Sounds. Es war wie eine riesige Befreiung. Ähnlich ging es mir mit NDW Bands wie Trio, die dort auftraten. Das war Punk! „Da da da“ einfach nur zu singen. Die Frechheit zu haben, musikalisch scheinbar nichts zu können und offenkundig damit Geld zu verdienen. NDW wird retroperspektiv von vermeintlichen „Musikkennern“ eher naserümpfend betrachtet. Zu Unrecht, wie ich meine. Es ist die gleiche Geschichte wie mit dem Krautrock. Klar wurde NDW irgendwann kommerziell völlig ausgeschlachtet, aber so ist das bei jeder Bewegung. Unter beispielsweise Brit Pop wurde dann auch alles unter Vertrag genommen und beispielsweise Pulp, eine Band, die seit 1982 geniale Musik macht, schafft erst Mitte der 90er ihren Durchbruch und wird als Britpop vermarktet. „Common people“ wird Platz 1 in England. Eine Band, für die sich fast 15 Jahre kein Mensch interessiert hat. Selbst John Peel hatte schon die Hoffnung aufgegeben, sie aber immer noch weiter gespielt.
Aber bleiben wir in Deutschland: Zu Beginn der Krautrock Dokumentation wird sehr gut auf die Nachkriegszeit in Deutschland verwiesen. Die Ex-Nazis, die noch Positionen inne hatten, Worte wie „Juden“ wurden nicht offen ausgesprochen… Wirklich, je länger ich darüber nachdenke, warum die eigene Popkultur so argwöhnisch betrachtet wird, so denke ich, es hängt mit unserer Geschichte zusammen plus die Popularität von Schlagern bis in die 70er/80er Jahre . So ein Land mit so einer Vergangenheit und so einer schlechten Musik (Schlager, Heimatfilme mit jodelnden Schauspielern und deftiger, bayrischer Blasmusik- manche Ausländer haben in den 90ern noch gedacht: Deuschland? Rennen die mit Lederhosen rum und jodeln den ganzen Tag? Das sind die bekannten Filme im Ausland gewesen!), kann man einfach nicht gut finden. Schon gar nicht, wenn man selbst Deutscher ist.
Krautrock hat sich hingestellt und gesagt, dass wir nicht auf die Vergangenheit zurückblicken können und aufs Ausland auch nicht, weil Deutschland irgendwie eine Sonderrolle inne hatte. Die Studentenunruhen, der Terrorismus- das spielt alles bei Krautrock mit hinein.

Kraftwerk haben in ihren wenigen Interviews betont, dass sie sich als
Fortführung einer Kultur der 20er/30er Jahre sehen. Sie gehen zurück zur Zeit vor dem Nationalsozialismus und haben den Mut eine eigene, deutsche Musik zu machen, ohne das sie in irgendeiner Form rechts sind.
Wir haben ein Problem mit unserer Geschichte und somit auch mit unserer Popmusik. Es ist cooler Musik aus den Staaten und England und sonstwo zu hören- bloß nicht aus diesem Land mit den Gartenzwergen und diesen schlimmen Menschen.
Aber hey: Das sind wir. Das ist unserer Land. Ob wir es wollen oder nicht. Ich habe da auch oft meine Probleme, aber ist es nicht stereotyp so zu denken? Allein das es eine BBC Doku sein muss, die eine so ausführliche Berichterstattung über Krautrock macht. Es gibt nichts Vergleichbares aus Deutschland und das finde ich beschämend- es ist immerhin ein Kulturgut, über das wir hier diskutieren. Man mag es sehen, wie man will, aber es ist schlimm, dass es so verfemt behandelt wird. Während England jeden Hype ihrer Popmusik sofort aufgreift, verfallen wir immer noch in Demut über unsere Vergangenheit.

Nur in dem Punkt mit dem NDW würde ich widerprechen, close to the edge. Nie wieder wurde in Deutschland so unbefangen mit der eigenen Sprache und scheinbar dilletantisch dies in Töne umgesetzt. Diese Naivität und Ehrlichkeit finde ich immer noch beindruckend bei allen NDW Bands.
Ich habe viel eher ein Problem mit der Popmusik aus Deutschland, die danach kam. Heutzutage wissen viele Deutsche gar nicht mehr, was einen guten Popsong ausmacht und ein Dieter Bohlen hat inzwischen eine Macht im Popbuisness mit seiner dusseligen „Deutschland sucht den Superstar“. Das ist schlimm und er maßt sich an über „Künstler“ zu urteilen. Ich habe noch heute im Radio gehört, wie sich wieder Annette Humpe auch sehr negativ über diese Show äußert mit den gleichen Worten. Wenn wir schon bei Ideal sind: Sind sie von Klaus Schulze mitaufgebaut worden (toshey fragte hier an einer Stelle)? Das ist mir nicht bekannt, aber ich lasse mich gerne belehren. Ideal ist für mich die beste deutsche NDW Band. Die Texte, die Musik, einfach alles- sie waren großartig. „Der Ernst des Lebens“ (Ideals zweites Album) kann ich so runterhören. Da stecken soviel Ideen in jedem Song. Und heutzutage?
Es ist alles kalkuliert und auf schnellen Gewinn aus. DSDSS bestimmt, wer ein Star wird. Wann singt schon einmal ein vermeintlicher Künstler dort einen deutschen Song? Wir sind doch völlig eingenommen von anglo-amerikanischer Popmusik. Ja, es gibt dort sehr viel gute Bands. Ich höre sie auch. Aber sich immer nur darauf zu berufen, ist zu eingeschränkt. Von den deutschen Künstlern finde ich aktuell nur sehr wenige Artists gut, weil sie auch so nach einer Kopie von anglo-amerikanischer Popmusik klingen. Die letzte gute deutsche Band, die wir hatten, hieß: Echt. Die hatten sogar den Mut einen deutschen Song zu covern (Junimond). Und Echt ist schon eine Weile her. Insofern könnt ihr Euch vorstellen was ich von momentaner aktueller, deutscher Popmusik halte. Ich bleibe aber offen. Nur dieses Spontane, Ungekünstelte, Naive an der NDW Zeit und auch von Krautrock- das würde ich mir so sehr zurückwünschen. Was die Humpe Schwestern machen, nehme ich noch raus. Die sind einfach intelligent und haben schon früher Maßstäbe gesetzt. Aber Silbermond und der ganze Mist tangiert mich nicht wirklich.

Ich bin ja Musiker und ich habe mal überlegt. Hey, wieso singst du eigentlich englisch? Wieso nicht deutsch? Aber es ist so schwer, wenn du selbst singst auf deutsch, dass es nicht gleich nach Schlager klingt. Bei mir ist es leider so. Man hat wirklich eine Scheu deutsche Texte zu schreiben. Vielleicht habe ich sie auch nur. Das will ich hier nur am Rande erwähnen, um zu zeigen, dass auch ich meine Probleme mit unserem Land, unserer Vergangenheit habe. Manchmal provoziere ich mich aber selbst. Die Eltern meiner Ex- Freundin haben nur Schlager den ganzen Tag gehört. Also musste ich mir, als wir dort zu Besuch waren, eine Woche lang Schlager in der Küche anhören. Und ich fand es gar nicht so schlecht! Es war mal was Anderes. Das Gegenteil von cool. Nicht, dass ich jetzt fortan Schlager hören werde, aber ich will meine Grenzen nicht immer so festlegen und meinen musikalischen Geschmack, der wirklich weit reicht, immer wieder ausweiten (John Peel hat es mich gelehrt). Ein Freund aus Düsseldorf, durch den ich übrigens Klaus Dinger kennengelernt habe, hat in seiner Küche ein 80er Poster von Juliane Werding gehabt und im Wohnzimmer hingen Bilder von Current 93, DIJ etc. Das fand ich echt krass. Juliane Werding finde ich inzwischen selber ganz gut (das 80er Album mit Stimmen im Wind- sie hat irgendetwas in ihrer Stimme, was mir gefällt- Alexandra findet zudem meine Zustimmung).
Wenn ich also alleine im Auto bin, traue ich mich schon mal einen Schlagersender anzumachen, um zu gucken, wie lange ich es aushalte. Man kommt sich so bescheuert dabei vor. Was wäre, wenn man das Fenster runtermacht, gegenüber kommt ein nettes Mädchen im Auto und sie hört, dass dieser Typ im Auto alles Ernstes Schlager hört. Ihr wisst, was ich meine. Ich stell mir immer vor, dass diese bekannten Sender, wo nur so etwas läuft, mehr von der Ü50 Generation mit filzigem, grünen Forsthut hinten im Auto liegend diesen Sound sich geben. Es sind auch mit die schlimmsten Autofahrer. Gnade Gott Dir, wenn Du denen einmal eine Beule reinjagen würdest bei einem Unfall. Nein, ich mache nur Spaß ;-)

@bullschütz und alle, die hier was zum Thema schreiben: Vielen Dank. Ich finde das Thema sehr spannend und anscheinend scheint es doch ein paar User hier im Forum zu packen. Es betrifft und letztendlich ja alle.
@bullschütz im Speziellen: Ich danke Dir. Gegen so eine Majorität anzureden, zerrt auch an den Kräften. Letztendlich will ich mich hier mit keinen „Forumsgrößen“ anlegen. Ich habe nur deswegen so leidenschaftlich argumentiert, weil ich selbst das Thema unheimlich spannend finde. Die Doku hatte mich völlig begeistert und es kamen die Erinnerungen an Klaus Dinger als Mensch hoch und mein Joy Division/Neu! Special letzes Jahr im Radio, wo ich praktisch für mich das erste Mal auf dieses Phänomen gestoßen bin- Postpunk beeinflusst von Krautrock- einfach durchs Hören der Musik. Wir reden hier viel zu viel im Forum. Die Musik sagt uns an sich die Wahrheit, wenn wir ihr nur genau genug zuhören, wo sie herkommt.

Zum heißen Disput hier vielleicht noch Juliane Werdings Worte:
„Menschen, die man liebt, sterben nie“ oder „Sei nicht traurig, Suzanne, es fängt alles erst an“: http://www.youtube.com/watch?v=GvE-EM1zBXo
Vieleicht ist es der Mut zum Trash, den Deutschland wieder finden sollte. Auch zu seinen Wurzeln, aber eben nicht rechtsgerichtet. Und so gruselig Schlager oft klingen, haben sie doch das Aufbegehren dagegen hervorgebracht wie eben Krautrock und NDW. Insofern hat der Schlager musikhistorisch ebenso seine Bedeutung.

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