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@ otis/SJ
Die Dynamik in einer sich nicht zuletzt durch Musik definierenden, nach außen deutlich abgegrenzten Szene mit all ihren Pros und Cons ist ja nicht nur mit unterschiedlich ausgeprägtem Distinktionswillen (ein Wischiwaschi-Begriff wie Migrationshintergrund) zu erklären, da greifen ja oft viel existentiellere Seinsbestimmungen und Einsichten. In der Northern-Soul-Szene wie übrigens – es klang bereits an – in allen anderen. Wer mal beim Weekender in Hemsby war, dem erscheint das Treiben im Wigan Casino fast volkstümlich. Wobei die Rockabilly-Szene nicht zwei oder drei harte Kerne hat, sondern derer ein Dutzend, mindestens. Ich erinnere mich auch an die ferventen Diskussionen im „Greensleeves“, nach außen ein Plattenladen in Shepherd’s Bush, drinnen aber Kampfstätte um Meinungshoheiten und ein breeding ground für absurdeste Fehden und Feindschaften. Absolut faszinierend.
Was ich damit sagen will: die von SJ nicht nur phänomenologisch richtig beschriebenen Mechanismen und Motivationen (die Dankbarkeit, von Cracks lernen zu dürfen, so sich die Gelegenheit bietet, kann ich gut nachvollziehen) mögen als lästige Folge für den externen, nicht der Szene zugehörigen Plattenkäufer zum Beispiel Preisentwicklungen haben, die kaum nachvollziehbar sind, sofern man nur musikalische Maßstäbe anlegt (ich kann otis da folgen), doch ist der Gewinn, den eine so virulente Szene für die Entwicklung dieser Musik insgesamt darstellt, ungleich größer. Je mehr sich eine Szene abschottet, desto weniger läuft sie Gefahr, verwässert zu werden. Durch Mitläufer und Trittbrettfahrer. Die kaufen sich halt ein paar Compilations für den Hausgebrauch, können damit aber in der Szene nicht punkten. Ich saß im Flugzeug mal zufällig neben Steve Davis (bin kein Snooker-Aficionado, spiele es schlecht, aber gern) und was der erzählte über sein wechselvolles Standing in der Szene als einer der sicher beschlagensten (und betuchtesten) Soul-Collectors, war so erstaunlich wie erhellend. Nur soviel: die Preise für rare 45s mögen in schwindelerregende Höhen steigen, trotzdem zeitigt ihr Erwerb keineswegs automatisch Respekt. Akzeptanz vielleicht, Anerkennung erst, wenn der Besitz entsprechend unterfüttert ist mit Wissen. Es ist kein closed shop, doch Zugang wird nicht jedem gewährt, nur weil er ein bißchen Interesse mitbringt. Und, wie ich schon zigmal anderswo schrieb, ebendas ist einer der wesentlichen Gründe dafür, daß Pop im UK lebt. Die Musikszene dort bekam ihre Impulse stets von tribes. Von den Teds, Mods, Skins, Punks, ja sogar von den Sloane Rangers. Tribalism sorgte im UK für Bewegung durch Ausgrenzung, was nur auf den ersten Blick paradox zu sein scheint. Denn erst unbedingte Identifikation, elitäre Selektion und das dadurch bedingte Überlegenheitsgefühl einer In-Crowd vermochte die nötige Dichte und Schwerkraft zu erzeugen, um das diffus popmusikalisch interessierte Umfeld zu beeindrucken. Attraktion durch schieres Anderssein, durch Arroganz und Militanz.
Gab es hierzulande nie. Oder immer nur mit Zeitverzögerung, als nachempfundener Tribalismus. Allenfalls schaute man sich kursorisch das Angebot an importierten Jugendkulturen an, machte in jungen Jahren ein bißchen mit (Du wirklich nie, SJ?), gab sich damit ein wenig aufmüpfig, hörte schließlich dann aber doch dieselbe Musik wie Eltern und Lehrer (jedenfalls nach 1966, davor war Outsidertum gefährlich) und sah auch nicht viel anders aus (really, SJ?). Und einmal erwachsen, hörte man, was einem halt so gefiel. Nirgendwo eine Erinnerung von Gegen-den Rest-der-Welt, von der sich zehren ließe. Ich schweife ab, sorry. Jedenfalls: gut, daß es die Northern-Soul-Szene gibt, und sowieso frappierend, daß es sie noch gibt. Hätte ich nicht geglaubt damals, vor nunmehr rund 30 Jahren, als ich mir den Tumult im Casino zu Gemüte führte. Ist freilich eh alles off-topic hier, sorry. Kann also gern wieder gelöscht werden.
Nachtrag.
Weil das eben dann doch ein wenig zu kurz kam: eigentlich stehen erstens SJs Szene-Berührungen nicht im Widerspruch zu otis‘ Marktbeobachtungen. Und besagte Staton-45 bekommt man zweitens als Counterfeit interessanterweise sogar in der Singles-Abteilung von HMV in der Oxford Street, neben etlichen anderen Northern-Soul-Preziosen, zum Preis von drei bis vier Pfund.
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