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ECM 1100
keith jarrett: sun bear concerts
ein narzisstisches projekt natürlich, wenn man einfach mal 10 lps solo vollspielt und denkt, das hört sich tatsächlich jemand an. andererseits: warum nicht, der umgang damit ist ja nicht vorgegeben. als ich die SUN BEAR CONCERTS zuerst entdeckt habe, standen sie bei einem freund herum, bei dem ich ca. 1 woche gewohnt habe. ich habe immer wieder eine andere seite aufgelegt, was mir gefiel auch mal zwei mal hintereinander, beim kochen, zähneputzen, lesen, manchmal zog mich die musik tatsächlich vor die boxen, dann und wann habe ich sie auch genervt abgebrochen.
natürlich hätte es gereicht, sternstunden wie „kyoto I“ oder „sapporo I“ herauszutrennen und einzeln zu veröffentlichen, aber das war eben nicht das projekt, und das projekt ist hier auch ein bisschen die botschaft.
jarrett auf asien-tournee, nach der auflösung des amerikanischen quartetts, mit sich allein. er hat offensichtlich tausend ideen, was er aus sich selbst heraus noch entwickeln kann, und ecm bemüht sich redlich, das alles zu ermöglichen. auf dieser tour, kann man sich vorstellen, fließt alles in die puristische situation konzert, flügel, aufnahme. jarrett hat sich befreit, atmet auf und ist auf reisen. kyoto, osaka, nagoya, tokyo, sapporo. zwei sets, eine zugabe.
warum man das alles zusammen herausbringen kann, ist, um zu zeigen, wie konstant da jemand ideen und impulse in musik umwandelt. es gibt kein schlechtes set darunter. auch kaum leerlauf. gegenüber bremen/lausanne und köln fällt die ungehetztheit auf, das bleibenkönnen im gefunden, das entspannte weitergehen, nicht: 100 ideen in 40 minuten. deshalb bleibt man selbst oft hängen und driftet auch mal ab, ohne viel zu verpassen. manche ostinati sind aber auch so toll, dass man einfach möchte, dass sie anhalten. in der mitte aber, zwischen osaka und tokyo, wird es manchmal schon arg schwülstig, voll, dominant, zerfahren auch; dann kommen die vamps wie kleine rettungsanker („tokyo I“). aber „kyoto I“ ist dagegen von beispielloser stringenz, entwickelt sich organisch in ca. 5 einzelnen, in sich tollen, sätzen (die man halt so gar nicht komponieren kann, sondern finden muss), es gibt rhythmische etüden darin, zarte balladen, ein dissonantes ausfasern, ein popsong, eine hymne. ganz grundsätzlich toll: wie das zweite set immer grundsätzlich was anderes will als das erste, mit frischen ideen alles neuformulieren will, um sich selbst nicht zu langweilen.
am ende, die drei zugaben: drei völlig unterschiedliche einstiege, die auf drei völlig unterschiedliche dinge hinauslaufen. die letzte, aus nagoya, baut in vier minuten ein versetztes rhythmusmuster um einen einzelnen ton herum, wird kurz in der akkordbegleitung entwickelt, erfindet eine kleine melodie dazu, bricht dann aber ab und setzt nur noch akkorde im pianissimo, mit sekundenlangen pausen dazwischen. ein kleines ritual des leerspielens und leergespieltseins, auch das ein statement über das verfertigen von musik, auch das natürlich dokumentationswürdig.
Keith Jarrett piano
Recorded November 1976 in Japan
Engineers: Okihiko Sugano and Shinji Ohtsuka
Produced by Manfred Eicher
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