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ECM 1085
keith jarrett: the survivor’s suite
wie ein roter faden durch die ecm-diskografie ziehen sich suitenhaft zusammenhängende, großdimensionierte werke, die entweder in die sinfonische oder weltmusikalische richtung neigen. jarretts amerikanisches quartett, diese merkwürdig disfunktionale familie aus vier querköpfigen individualisten, war ebenfalls, spätestens seit DEATH AND THE FLOWER, in großen einheiten unterwegs, die jarrett nach eigenen aussagen nur möglich machen konnte, weil er die sonderwünsche der kollegen in die kompositionen einschrieb – keine vamps für charlie, keine chord changes für dewey. das prinzip war aber schon lang erprobt, wie man u.a. in der ndr-aufnahme des trios jarret/haden/motion hören kann – ausgreifende, organisch verbundene melodien, die in vielfarbigen texturen (viel percussion, fliegende instrumentenwechsel des leaders) eingebettet waren. auch dewey redman schaut in solchen gebilden nicht nur zum solo vorbei, sondern wechselt zu exotischen blasinstrumenten oder percussion, um jarretts soli zu verdichten.
im letztem jahr des bestehens der band, bevor haden und redman old and new dreams gründen und motian verstärkt daran angeht, sein eigener leader zu werden, rafft sie sich noch einmal zu unglaublichen höhen auf. manfred eicher kriegt sie auf der europatournee zu fassen, für die jarrett zwei größere kompositionen geschrieben hat, „the survivor’s suite“ und „eyes of the heart“, aus denen teile immer wieder neu zusammen gesetzt zum einsatz kommen und mit dem material der impulse sessions verbunden werden. beides wird aufgenommen – die suite im ludwigsburger studio, mit sorgfältigen postproduktiven eingriffen, EYES OF THE HEART schließlich in einem schwanenliedhaftem, auseinanderfliegendem liveauftritt voller lücken, aussteiger und einer stummen plattenseite).
jarrett ist parallel dazu solo unterwegs, nimmt filmmusik für michèle rosiers feministischen arthousefilm MON COEUR EST ROUGE auf (eicher produziert, als abfallprodukt – weil der flügel so gut war – entsteht noch STAIRCASE), setzt sich an eine orgel in ottobeuren (HYMNS/SPHERES), bevor er ein letztes mal mit dem quartett für impulse ins studio geht (BYABLUE / BOP-BE) und schließlich im november zu seiner solo-tour nach japan aufbricht (SUN BEAR CONCERTS).
jarretts starköpfigste und genialischste band befriedigt die großorchestralen sehrsüchte in ludwigsburg sozusagen aus dem handgelenk. jarretts unfassbar eingängige, doch niemals plakative melodien fließen ohne anstrengung zusammen, werden durch overdubs verdichtet, die eigentlich so wirken, als wären die zusätzlichen stimmen (eine bassblockflöte, eine celesta, gestimmte holzblöcke, ein gestrichener bass) schon live im raum anwesend gewesen. eine prozessionale exotische weise wird zu einem stolpernden 5/4-rhythmus, eine popmelodie, in der jeder ton einen neuen akkord mitbringt, seufzt sanft in eine kleine bass/celesta-improvisation aus, als würde eine kleine brise kurz durch einen musikinstrumentenladen wehen; ein ornette-haft drängendes, hymnisches thema befreit redman und schließlich motian schließlich von akkorden und rhythmen, wozu jarrett ekstatisch aufjuchzt, dann eine entspannte latin-entwicklung anbietet. die eingängigsten themen kommen am ende nochmal, im letzten aufschwung, bevor die band entspannt ausläuft. kein schichtwerk, eher ein polyphoner fluss, ein völlig selbstverständliches aufeinanderbezogen sein in jedem moment. auch, wenn haden am anfang einen überlangen vamp bedienen und redman über höllische komplizierte chord changes hetzen müssen, entsteht in diesem fluss kein strudel. wie man diese vier dazu bringt, sich derartig zusammenzufügen, overdubs hin oder her, ist ein rätsel oder magie.
die produktion dieses albums ist aber nicht nur wegen des makel- und fugenlosen zusammenbaus bemerkenswert. alle instrumente haben hier einen eigenen raum, eine unangetastete individualität – redmans leicht verhallte aura steht ein bisschen daneben und darüber, die dunkle flöte und die helle celesta erklingen wie von selbst, und hadens bass ist dagegen so hyperreal präsent, dass man die saiten im bund kratzen, die finger über die saiten wischen, das holz knacken, den raum die resonanz verschlucken hört. die musik wird irgendwie gespeichert und steht da rum. wo sie herkommt, versteht man nicht so ganz. wären nicht drei von den vier beteiligten nicht schon skandalöserweise für immer verstummt, würde ich sie gerne getrennt befragen, wie sie diese aufnahme erlebt haben (und wahrscheinlich vier völlig verschiedene berichte bekommen.)
Keith Jarrett piano, soprano saxophone, bass recorder, celeste, osi drums
Dewey Redman tenor saxophone, percussion
Charlie Haden bass
Paul Motian drums, percussion
Recorded April 1976 at Talent Studio, Oslo
Engineer: Martin Wieland
Produced by Manfred Eicher
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