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ricochetEigentlich müssten die heimatlos gewordenen deutschen Rockfans einiges für Country übrig haben.
So klingt Country heutzutage:
Aber es hat ja sowieso keinen Sinn. Moderne Countrymusik wird von den deutschen Medien ignoriert, statdessen breitet sich überall derselbe Top-40-Einheitsbreis aus, die musikalschen Fachblätter bewegen sich am liebsten in kleinen alternativen Nebengres oder in vergangenen Dekaden und die millionenfach angeklickten Country-Videos auf Youtube werden von der GEMA blockiert. Deutschland wird allmählich zum Land der musiksalischen Analphabeten und Entwicklungsverweigerer.
Ach ja, das alte Lied – die sträfliche Vernachlässigung der bösen, bösen Medien. Die verbreiten in der Regel ja doch nur das, was in der Gesellschaft, die sie – wie auch immer vermittelt – spiegeln, jeweils angesagt ist. Es gibt kaum einen industriellen Bereich, der so nah am Puls der Verbraucher und damit der gesellschaftlichen Verfassung steht wie die Medienindustrie; ganz einfach, weil hier der Misserfolg meist sehr schnell in Zahlen spürbar wird. Das kriegen auch die Redakteure um die Ohren gehauen, und dies meist früher als später. (Ausnahmen gibt es vor allem im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zum Beispiel werden auffallend viele Sportredaktionen ungeachtet der Publikumsreaktionen wie Erbhöfe behandelt – ich sage nur „Bela Rety“. Was aber auch wiederum an der extrem korrupten Organisation des Sports liegen kann.)
Dass also moderne Country-Musik, die in den USA Massenerfolge feiert, in Deutschland und Europa nicht gehört wird, hat eher etwas mit mangelnden Identifikationsmöglichkeiten zu tun. Die Clips die du bspw. postet, zeigen meist sehr amerikanische Realitäten, die auf Europa schwer übertragbar sind, schon gar nicht auf Deutschland. Trucks, die auf endlos scheinenden Highways (nicht Freeways) mit vereinzelt auftauchenden Autos kämpfen, scheinen in Texas denkbar – halt dem einfach mal die Realitäten des deutschen Verkehrswesens entgegen. Football- und Highschool/College-Kulturen klaffen in vielen alltäglichen Dingen (warme Sommer, Pickup-Trucks, Marshmellows mit vielen jungen Leuten am Lagerfeuer) meilenweit auseinander von der Lebenswirklichkeit in deutschen Kuhkäffern, wo man in der örtlichen Kleinstadt am Freitag- und Samstagabend wegen der Kosten zum Vorglühen bis 9.30 am örtlichen Supermarkt auftankt, um anschließend stockbesoffen die Großraumdiscos unsicher zu machen.
Das Biertrinken ist andererseits meist immer noch verbunden mit deutscher Gemütlichkeit (Schunkeln zu Karnevals-, Mallorca- und Volkstumsschlagern) – das ist die deutsche Entsprechung von Contemporary Country. Vielleicht kommt aus dieser Erfahrung auch der Generalverdacht „reaktionär“ gegen den heutigen US-Country. (Verhältnis Bierzelt zu denkenden Menschen: „Kehraus“ von Polt, oder auch Achternbusch.)
Dass heißt nicht, dass sich nicht gelegentlich mal einer der universeller, etwas breiter angelegten US-Schlager – meist über irgendeinen Herz/Schmerz-Teil – in die deutschen Hitparaden verirren könnte. Man hat hier ja sogar manchmal schon Anklänge an Bollywood-Weisen gehört, obwohl die indische Community bei weitem nicht so stark ist wie in England.
Musik wird doch eigentlich immer schon von besonders gepolten, entsprechend talentierten und ausgebildeten Minderheiten produziert und von der Mehrheit konsumiert. „Musikalische Analphabeten und Entwicklungsverweiger“ ist mithin der Normalzustand in allen modernen Massengesellschaften (außer in Venezuela, wo der örtliche Diktator Klassikmusik-Eliten züchtet). Chinesische Löwenmütter etwa sind ja nur eine besondere Form des Bildungsbürgertums. Na, wenigsten lernen zwei meiner vier Kinder ein Instrument; die anderen beiden wollen oder können nicht.
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The only truth is music.