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Was für ein schöner alter Thread; ich grabe ihn mal wieder aus, weil er einen ganz wichtigen Punkt in meinem persönlichen Verhältnis zur (Pop-)Musik berührt.
Im Vorstellungsthread und an anderer Stelle habe ich ja bereits geschrieben, dass ich seit 23 Jahren großer Who-Fan bin; nur befand die Band selbst sich damals bereits auf einer (von vielen, wie sich inzwischen herausgestellt hat ;-)) Comeback-Tournee mit Tommy, Keith Moon war schon seit elf Jahren tot, die Musiker waren bereits älter als ich es heute bin, und die Musik, die mich begeisterte, wurde noch vor meiner Geburt geschaffen. Das war etwas, woran ich mich durchaus gewöhnen konnte, die damals noch vorherrschenden Vinyl-LPs waren etwas sehr Schönes zum Sammeln, und es gab reichlich Stoff fürs Kopfkino, zusätzlich befeuert durch Bücher und Lexika über Rockmusik, die ich fleißig las. Aber eine gewisse Wehmut war eben doch da, nämlich die Who und andere großartige Bands aus den Sechzigern zu ihrer Hochzeit nicht erlebt zu haben, das nur in einer Retrospektive betrachten zu können. Die Popmusik der Endachtziger und Neunziger war furchtbar, Rock war zu einer schrecklichen Karikatur seiner selbst verkommen, Hiphop war nicht nach meinem Geschmack, also gab es keine Alternative für mich. Die wenigen Gegenwartsbands, die ich gut fand (G. Love & Special Sauce, Maldita Vecindad y los hijos del quinto patio) waren real unendlich weit weg und daher im Grunde mir nicht viel näher als die Bands der Vergangenheit; außerdem war es eben nicht viel mehr als ein „gut Finden“, was ich für sie empfand. So blieb immer eine unerfüllbare wehmütige Sehnsucht nach einer irrealen Möglichkeit, die Zeit zu überwinden – die klassische Zeitreisephantasie.
Diese Wehmut ist zu meinem großen Glück weg, weil, wie ich ebenfalls schon im Vorstellungsthread schrieb, mit Lena Meyer-Landrut wie aus dem Nichts ein Liveact aufgetaucht ist, der auf der Bühne – zwar mit anderen Mitteln und wesentlich geringerer Lautstärke als The Who ;-), aber dafür mit unendlichem Charme gesegnet – genau die Leidenschaft und das Charisma ausstrahlt, welche für mich überhaupt die Quintessenz des Pop (im weitesten Sinne) ausmachen. Zwar funktioniert Pop auch sehr gut über Tonträger, aber das Wesentliche an ihm, was historisch auch alle konservativ-kulturpessimistische Kritik souverän hat abperlen lassen, ist die Bühnenpräsenz des charismatischen Popacts, der Beweis, dass Popkünstler in ihrer schieren Erscheinung große Persönlichkeiten sein können. Nach dieser Erfahrung hatte ich mich früher gesehnt, und im April 2011 durfte ich sie endlich in ihrer höchsten Entwicklungsstufe machen.
Entsprechend hat sich mein Verhältnis zur Aktualität im Pop verändert. War sie mir früher notgedrungen egal, weil die damalige Pop-Gegenwart abscheulich war, ist sie mir heute – zwar nicht prinzipiell oder gar ideologisch, aber in einem ganz konkret-praktischen Sinne – wichtig, weil im gegenwärtigen Erleben Pop seine eigentliche Erfüllung für mich als Rezipienten findet. Denn einen neuen, jungen, aufregenden und hochtalentierten Popact beobachten und supporten zu können, während er sich entwickelt, ist doch das Beste und Großartigste, was einem als Nichtmusiker passieren kann; das ist viel spannender als Platten zu entdecken von Bands, von denen man bereits vorher weiß, dass sie längst Legenden geworden sind.
Aber ich bin immer noch sehr froh über meine schöne, alte, gepflegte Vinylsammlung.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=