Re: Udo Lindenberg

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annamax

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Udo Lindenberg über seine Kindheit – Ich meine, das Wesentliche hatte er ja schon in Mit dem Sakko nach Monakko erzählt:

Im Sommer ’46 kam ich als Kind zur Welt. Ich fiel direkt vom Himmel auf ein D-D-Doppelkornfeld.
Das Unglaubliche trug sich zu in der Nähe von Gronau.
Und als ich so um 13 war, stellt‘ man fest, ich war zu schlau.
Mein Vater holt‘ die Conjacflasche und sagt „Mein lieber Sohn, nun baller‘ dir mal die Birne voll. Das korrigier’n wir schon!
Die überschüssigen Interlehrlingzellen, die mußte dir runtersaufen. Und dann wirst du was Solides, wie ’n Mafiakönig, denn als Philosoph verdienste zu wenig.

„Vater saß in der Kneipe und besoff sich“

Die Kumpels? Kleinkriminell. Die Heimat? Ein biederes Provinznest. Der engste Vertraute? Eine Trommel. Udo Lindenberg erzählt von seiner Kindheit: über Friedhofsfeste, geklaute Autos und die erste große Liebe.

einestages: Was für ein Kind waren Sie?

Lindenberg: Es gab einen großen Bruder, ein Vorzeigekind, Erich, schon so in Weiß gedresst, ein sehr schlauer, feiner Junge, und dann sollte ein Mädchen kommen. Dann kam aber ein Knabe, nämlich ich. Meine Eltern waren doch ein bisschen enttäuscht. Ein Jahr nach mir kamen Zwillinge, die eine Sensation waren, zwei so süße Mädchen. Und der Junge dazwischen lief halt so mit. Ich glaube, dass ich mich ab und zu vernachlässigt gefühlt habe.

Über die Trommelei habe ich auf mich aufmerksam gemacht, vielleicht war das auch wie so ein Ruf: „Hey, ich bin auch hier!“ Aber es war auch Leidenschaft. Es war ein tief empfundener Auftrag. Ich habe das gespürt. Ich habe die Trommel mit ins Bett genommen, die Trommel war etwas zum Kuscheln für mich, so wie andere den Teddy nehmen. Die Trommel war mein Ein und Alles. Dann bin ich mit fünfzehn auch schon von zu Hause abgehauen, also richtig weggezogen – nach Düsseldorf. Und habe eine Kellnerlehre gemacht. Das war so à la Felix Krull. Es gab einen Schiffssteward, der kam immer zu uns nach Gronau und erzählte von seinen Weltreisen, von New York und anderen Orten. Der empfahl mir, wenn ich die weite Welt sehen wollte, sollte ich erst einmal im Breidenbacher Hof in Düsseldorf eine Kellnerlehre machen. Aber nach einem Jahr ging es dann doch gleich als Profimusiker los. Und das zeigt auch, dass ich da in Gronau nicht so die Perspektive für mich sah.

einestages: Was haben Sie gehasst?

Lindenberg: Ich habe die Feiertage in diesem Dorf gehasst, an denen man sauber angezogen und gescheitelt wurde und andauernd auf den Friedhof musste, Fronleichnam, Allerseelen, Allerheiligen. Es ging um Tod und war grau in Gronau. An diesen kirchlichen Trauertagen musste man auf seine Klamotten achten und durfte dann auch nicht im Dreck spielen. Man ging dann mit der Mutter und irgendwelchen Tanten auf den Friedhof. Und der Vater saß in der Kneipe und besoff sich. Er war so militärisch ausgerichtet, wenn eine Socke nur ein bisschen schief lag, wurde gleich der Sonntagnachmittagsausflug mit den Kindern ins Grüne abgesagt.

Mein Vater wurde dann eine stille Säge, er strahlte dann so einen bitteren Gram aus, so eine Enttäuschung, als hätte man ihm etwas ganz Schreckliches angetan. Dann ging er in eine Kneipe, war anschließend breit – und meine Mutter weinte. Als kleines Kind willst du deine Mutter trösten, aber du weißt nicht, wie du das machen sollst. Manchmal kam er auch drei Tage nicht nach Hause, er schlief dann in der Kneipe.

einestages: Welche Werte haben Ihre Eltern Ihnen vermittelt?

Lindenberg: Für solche Momente, wo eine Mutter mal mit ihrem Kind spricht und ihm dann einen Spruch oder eine Wahrheit für das Leben mitgibt, war keine Zeit. Wenn mein Vater in der Kneipe war, musste meine Mutter sich um die Nachtarbeiter von dem Geschäft kümmern, und sie musste Dachrinnen raussuchen und Schrauben für Heizungen oder irgendwelche Klosetts, das Geschäft war ja ein Installationsgroßhandel. Ganz früh habe ich zu meiner Mutter gesagt, sie soll über den Launen meines Vaters stehen, ihn nicht so ernst nehmen, weil er einfach eine Macke hat. So habe ich mit meiner Mutter gesprochen: „Der hat ’ne Macke!“ Gleichwohl wollte ich ihn auch mal gut finden. Ab und zu. Und dann später, als er so tat, als ob er dirigierte oder Entertainer in der Kneipe war, dachte ich: Ist doch cool. Aber das waren eben nur Momente. Meinem Wunsch, dass ich meinen Vater gut finden wollte, dem konnte nicht entsprochen werden. Aber nun, ich glaube ja an so etwas, sitzt er geläutert da oben im Himmel und guckt nach unten und ist auch noch bei meinen Konzerten dabei.

einestages: Welche Rolle hatten Sie in Ihrer Klasse?

Lindenberg: Ich war bandenorientiert und -interessiert. Ich war der Jüngste in der Klasse, und ich war immer ein wenig wie Huckleberry Finn drauf, habe mir immer Leute gesucht, die gut Mist machten. Das Auto klauen vom Alten und sich ein Kissen auf den Sitz legen und größer wirken, falls die Bullen mal gucken. Oder zum Puff zwei Dörfer weiter fahren, Streiche spielen, Mist bauen, darum ging es in den Banden. Ich habe mit dreizehn schon angefangen, Alkohol zu trinken und zu rauchen. Regelmäßig nach der Schule ging ich in die Kneipe und trank drei Bier, war dann schön schwindelig und ging dann nach Hause zu meiner Mutter. Sie war immer wahnsinnig verständnisvoll. Ich erzählte ihr dann, dass ein Bierchen auch Vitamine hätte und Mineralstoffe. Ich wollte schnell ein Großer sein.

einestages: Haben Sie etwas in Erinnerung, das Ihnen als Kind oder Jugendlichem peinlich war?

Lindenberg: Dass eine Zimmervermieterin meines möblierten Zimmers mich einmal beim Onanieren erwischt hat. Ich rubbel fröhlich vor mich hin, und dann geht die Tür auf, und sie steht da. Da war ich noch nicht so flexibel zu sagen: Vielleicht ist Poppen doch noch schöner? Sie war eine ziemlich attraktive Frau. Dazu war ich aber noch zu schüchtern. Ich war ja überall der Jüngste, das verunsichert auch. Ich wusste nicht, bin ich der Frauenheld oder kann ich der werden oder bin ich vielleicht auch ein bisschen schwul? Es gab schon so Zeiten, wo ich nicht so genau wusste, wer ich war. Das waren so die typischen Zeiten des Erwachsenwerdens, wo man auch so über sich selber stolpert.

einestages: Wie war Ihre erste große Liebe?

Lindenberg: Die erste große Liebe war eine Sportlerin. Ich war vierzehn, sie war älter als ich und ging auf das Gymnasium. Und ich bat sie, in Gronau ihr Fahrrad auf dem Schulweg schieben zu dürfen. Das war eine lange Strecke zu ihr nach Hause und immerhin, sie hat sich darauf eingelassen. In sie war ich so richtig verliebt. Und ich habe ihr auch gesagt, dass ich etwas ganz Großes werde. Sie fand mich zwar ganz nett, aber eigentlich war sie schon vergeben an einen Jungen vom Gymnasium. Das war ja damals so, die Mädchen vom Gymnasium gingen nicht mit einem Jungen von der Realschule. Das war echt ein großer Unterschied. Meine Liebe wurde also nicht erwidert.

Ich traf sie dann später einmal wieder, da war sie Sportlehrerin. Da stand sie mit ihrer Klasse, den ganzen Teenies, und wirkte so ein bisschen wie eine Oma. Ich war ja damals Teeniestar. Ich habe den Schülerinnen dann erzählt, dass ich ihre Lehrerin früher richtig klasse fand und dass sie mit mir echt eine gute Partie gemacht hätte, aber so dusselig war, nicht darauf einzusteigen. Das war ihr dann richtig peinlich. Vielleicht habe ich deshalb später die großen Lovesongs der Sehnsucht, der unerfüllten Liebe schreiben können – wegen dieser unerfüllten Liebe.

http://www.spiegel.de/einestages/udo-lindenberg-ueber-seine-kindheit-in-gronau-a-961328.html

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I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.