Re: Europäischer Jazz

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nail75

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atom

Ich gehöre nicht zu denjenigen, die Continental Jazz per se schlecht machen. Da sämtliche stilistischen Vorläufer des Jazz nicht im luftleeren Raum entstanden sind sondern durch viele unterschiedliche Einflüsse geprägt wurden gibt es natürlich auch diverse europäische Elemente, die darauf Einfluss hatten. Ebenso gab es relativ früh eine parallele Jazzszene in Europa und Deutschland. So gab es beispielsweise bereits in den 10er und 20er Jahren des letzten Jahrhunderts eine frühe Ragtime Entwicklung in Deutschland (Berliner Elite Orchester, Ballhaus Orchester oder Weber/Marek Orchester), die von einer frühen Jazz Band Welle zwischen 1920 und 1931 abgelöst wurde. Einige der bekanntesten damaligen Orchester unter der Leitung von Eric Borchard würde ich allerdings eher als besseres Tanzorchester mit Jazzelementen bezeichnen. Ähnlich verhielt es sich in der Zeit vor (Ben Berlin, Bernard Etté, Julian Fuhs, The Jazz Kings oder Marek Weber), während (Willy Berking, Fred Brocksieper oder Kurt Hohenberger) und nach dem zweiten Weltkrieg (Kurt Edelhagen, Kurt Henkels, Erwin Lehn, Helmuth Wernicke oder Helmut Zacharias) – in Deutschland entstanden parallel zur amerikanischen Entwicklung eigene Jazz Szenen und Nischen sowohl mit internationalen Künstlern als auch mit einheimischen Musikern.

Ohne dass ich die deutsche oder europäische Jazzmusik per se ablehnen würde, der Hauptanteil des spannendsten Jazz (egal ob Ragtime, Dixieland, Swing oder Bebop) entstand für mich in den USA.

Ab einer bestimmten Zeit, etwa mit dem Abnehmen der zentralen Bedeutung des Jazz in den frühen 60er Jahren und dem Aufkommen des Jazz auf europäischen Bühnen entwickelt sich nicht nur ein Umbruch innerhalb dieser Musik sondern auch ein weltweiter Austausch, den es vorher in diesem Ausmaß noch nicht gab.

Ab dem Zeitpunkt, als Jazzmusiker vermehrt von Musikhochschulen kommen interessiert mich deren Musik meist immer weniger und das hat nichts damit zu tun, ob sie Amerikaner oder Europäer sind, denn auch Wynton Marsalis lässt mich weitestgehend kalt.

Alles richtig innerhalb der Geschichtsschreibung, dennoch liegen meine persönlichen Vorlieben in der Zeit zwischen Swing und Hardbop, also einer mit sehr wenigen Ausnahmen amerikanisch geprägten Ära, die – wenn man einmal von diversen Revivals absieht – Ende der 60er Jahre ihr Ende fand.

Ich denke wir müssen, um diese Diskussion zu führen zwischen zwei Dingen differenzieren und zwar erstens zwischen den – zumindest innerhalb gewisser Grenzen – nachprüfbaren Fakten über den Austausch zwischen Europa und Amerika und zweitens den persönlichen Vorlieben der Jazzliebhaber hier.

Zum Ersten: Mir ist zwar bekannt, dass sehr früh in Deutschland Jazzorchester entstanden, aber mir fehlt das Detailwissen in diesem Bereich fast vollständig, so dass ich dazu wenig sagen kann. Ich würde jedoch argumentieren, dass der Ausstausch zwischen Europa und Amerika, auch was Musiker betrifft, erstaunlich früh beginnt, auch wenn er später fraglos enorm an Intensität gewinnt. Die gegenseitigen Einflüsse sind sicherlich Amerika-lastig und vieles, was in Europa geschieht ist die Entsprechung von für Europäer gekochten indischen Essen.

Zum Zweiten: Es ist natürlich unmöglich gegen persönliche Vorlieben zu argumentieren. Wer sagt, dass er den Jazz nach Ende der 1960er nicht mag, dem kann und soll das Recht auf diese Meinung nicht abgesprochen werden. Diskutabel sind nur Thesen, die einen allgemeinen Charakter haben. Ich hatte allerdings schon den Eindruck (und Du zitierst mich ja auch unten), dass Du den Einfluss europäischer Jazzmusiker relativ schwach bewertest. Du greifst die Beispiele auf, die Du relativ einfach „angreifen“ kannst, lässt diejenigen aber weg, bei denen es schwer ist (Coleman Hawkins, Keith Jarrett, Cecil Taylor). Außerdem hast Du an anderer Stelle geschrieben, im Jazz sei nach Coltrane nichts „Ernsthaftes“ mehr passiert. Das ist dann schon etwas mehr als eine rein subjektive Meinung und ich finde, diese These verdient es, etwas näher beleuchtet zu werden.

Gleiches gilt für Deine Bemerkungen zu europäischem Jazz. Hier sprichst Du von einer Meinung (etwa: amerikanischer Jazz der 1950er gefällt mir besser als europäischer Jazz der Gegenwart), aber ich habe das Gefühl, dass es Dir nicht nur um das „Gefallen“ geht, sondern auch darum, dass Du insgesamt der Meinung bist, dass europäischer Jazz qualitativ nicht an amerikanischen Jazz herankommt oder sogar herankommen kann. Wenn ich Dir damit etwas Falsches unterstelle, dann sag das bitte.

Ich habe Dir übrigens nie „Ignoranz“ bezüglich von europäischem Jazz vorgeworfen, sondern lediglich beklagt, dass Du – aus meiner Sicht – die Bedeutung europäischer Jazzmusiker herunterzuspielen zu wollen scheinst. Du sagt – und ich zweifle daran nicht – dass Du Dich intensiv mit den Veröffentlichungen beschäftigt hast. Ich glaube auch, dass Du vermutlich viel mehr europäischen Jazz kennst als ich.

Fangen wir mal mit zwei europäischen Musikern an: John Surman und dem erwähnten Tomasz Stanko. Stanko ist ein straight-ahead-jazzer, kein Avantgardist. Er spielt in der Regel in kleinen Gruppen, die sehr stark nach den klassischen Prinzipien des Jazz funktionieren. Nun kann man sicherlich über die Qualität seiner Musik geteilter Meinung sein, aber ich halte Stanko für das Paradebeispiel eines europäischen Jazzers, der eng an amerikanischen Mustern arbeitet und dabei allerhöchstes Niveau erreicht. Seine Musik ist zudem keinesfalls antiquarisch, sondern modern und individuell. Er spielt amerikanischen Jazz nicht nach, sondern hat seinen eigenen, unverkennbaren Stil entwickelt.

John Surman ist vielleicht der vielfältigste europäische Jazzmusiker. Ein Kind der englischen Avantgarde der 1960er (und damit natürlich tief geprägt von Ornette Coleman, Miles Davis, Mingus und Coltrane), begann er als Avantgardist sowohl in kleinen Gruppen wie auch in Orchestern und nahm dann verstärkt Folk-Elemente, Elemente aus kirchlicher Musik sowie elektronische Klänge in seine Musik aus. Surman verkörpert meiner Meinung nach ein zentrales Element des europäischen Jazz der Gegenwart, nämlich das Aufgreifen und Einbinden anderer Strömungen der europäischen Musik bzw. anderer europäischer Traditionen. Darin würde ich eine Weiterentwicklung der Jazzmusik in Europa sehen.

Kennzeichnend für den europäischen Jazz ist aber auch seine strukturelle Vielfalt: Manche europäische Avantgardisten (als Beispiel) streben nach der auskomponierten Form, andere sind Anhänger von kollektiver Improvisation, andere halten an den traditonellen Formen fest. Gerade die Kollektivimprovisation ist jedoch eine spezifisch europäische Weiterentwicklung – Amerikaner haben sie kaum verwendet. Wir haben es daher – meiner Ansicht nach – mit einer Weiterentwicklung amerikanischer Formen sowohl auf einer individuellen wie auf einer kollektiven Ebene zu tun. Parallel zum Niedergang des Jazzes in Amerika, jedenfalls was die Breitenwirkung angeht, haben sich eigenständige europäische Formen des Jazz herausgebildet, die zwar ungebrochen in der Tradition von Louis Armstrong stehen, aber dennoch eine Eigenständigkeit verkörpern, wie sie bis dato nicht existierte.

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.