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choosefruitZiemlich falsch. Die Musik, die ich aus den verschiedensten Motivationen heraus hören möchte, sagt am meisten über mich aus. Und wenn dies „Blonde On Blonde“ sein sollte, dann trifft diese Art der Musik eben meinen Nerv und nicht beispielsweise „Untitled Unmastered“. Was soll denn bitte Musik über einen aussagen, die man nicht hören mag? Außer, dass man sie nicht hören mag.
Ich sag da vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt noch mehr zu, wenn ich etwas Muße habe. Wichtig ist mir, dass aktuelle Musik etwas hat, was keine alte Musik hat: Den unmittelbaren Bezug zur Gegenwart. Den hatte alte Musik auch mal (z.B. „Blonde On Blonde“), nämlich als sie noch nicht alt war, sondern ebenfalls aktuell, logisch. Und deswegen sagt aktuelle Musik immer etwas aus über das Jetzt, in der wir die Musik hören. Das ist wie zum Beispiel bei Science-Fiction- oder Kostüm-Filmen: Statt über die Zukunft/Vergangenheit etwas auszusagen, sagen sie etwas aus über die Zeit, in der sie entstanden. Das gilt für jede Kunstform. Daher hat Kunst/Musik immer einen unmittelbaren Zeitbezug. Und den Bezug zur Gegenwart hat nun einmal die Musik der Gegenwart. Daher ist die Wahrnehmung von Musik auch dynamisch und ändert sich mit der Zeit: Die Musik verliert einen Teil ihres Gegenwartsbezuges, aktuellere Musik übernimmt das stattdessen, bis auch die wieder von der nächsten Gegenwart eingeholt wird.
Dieser Dynamik immer zu folgen, kann bisweilen ganz schön anstrengen, weil man oft gezwungen wird, alte Gewissheiten zu hinterfragen und sich auf Neues einzulassen. Um das nicht immer wieder tun zu müssen, wurde die „Zeitlosigkeit“ erfunden. Indem man Musik als „zeitlos gut“ charakterisiert, hält man buchstäblich die Zeit an, man nimmt die Dynamik heraus aus der Musikrezeption und bleibt bei „zeitlos guter Musik“ stehen (die ganz zufällig auch oft noch in die individuell als wichtig empfundenen Phasen der eigenen Musikbildung fällt). Musik neuen Datums wird dann allenfalls noch als Bestätigung der Zeitlosigkeit der alten Musik wahrgenommen, entweder weil sie nach dem Bauplan der als „zeitlos“ empfundenen Musik entstanden ist (Retro-Soul, Steven Wilson, etc.) oder weil sie im Gegenteil völlig davon abweicht, also „Mist“ ist, mit dem man nichts anfangen kann. Aus der dynamischen Wahrnehmung ist eine starre Wahrnehmung geworden, an die Stelle des kontinuierlichen Abgleichs von Musik mit der Gegenwart tritt das zeitresistente, ewige „Meisterwerk“. Um das starre Rezeptionsgerüst zu fundamentieren, werden Excel-Dateien mit Meisterwerk-Listen geführt, auf die man jederzeit zugreifen kann, ohne sich noch Gedanken darüber machen zu müssen. Es ist halt viel einfacher und beruhigender so. Kaum auszudenken, man würde die Top 200-Liste nochmal neu aufschreiben, ohne in die bereits vorhandene Liste zu schauen: Vielleicht würde man plötzlich ein paar „Meisterwerke“ völlig vergessen haben und müsste sich wieder mit dem unangenehmen Gedanken anfreunden, dass Musik doch dynamischer und wandelbarer wahrgenommen wird, als man dachte.
Und deswegen kann es eben schon mehr aussagen, wenn man Musik nicht hören mag, als dass man sie halt nur nicht hören mag, zumindest wenn es sich bei der abgelehnten Musik um aktuelle handelt. Die Ablehnung könnte eine Flucht in eine Sicherheit sein, in der es behaglich und ungestört zugeht. Ich stelle bei mir auch immer wieder fest, dass ich in diese Falle tappe, mich in Musik vergangener Zeiten eingrabe und mich von Aktuellerem dadurch entferne. Gerade wenn ich Stress-Phasen habe und mich eher ablenken möchte, statt mir die Mühe anzutun, mich auf Neues einzulassen. Dann kommt aber zum Glück immer eine Zeit, in der mir das bewusst wird und ich wieder offener werde für Künste der unmittelbaren Gegenwart, sei es sowas wie Holly Herndon oder aktuellen Grintcore-Freejazz aus Göteborg. Meine Erfahrung sagt mir, dass mich diese neueren Entdeckungen doch in der Regel noch etwas mehr euphorisieren als das Durcharbeiten des Backkatalogs irgendeines 1970er Outputs, wie gut er auch sein mag. Und daher ist für mich unterm Strich das aktuelle Jahrzehnt auch immer das musikalisch beste. Vielleicht sollte man aber statt „beste“ auch lieber „interessantere“ oder „inspirierendere“ sagen.