Re: Rio Reiser

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lostblues

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10.11.2003

Feuilleton
Wolfgang Seidel

Lebenslang im Warenhaus

Heimatglück und Wurstgewalt: Der Rio-Reiser-Gedächtnissampler »Familienalbum« (2 und Schluß)

Der Vorwurf der Verramsche wird für das unlängst veröffentlichte »Familienalbum« dadurch relativiert, daß es ehemalige Mitglieder der Scherben waren, die damit begannen, neues Geld aus alten Scherben zu machen. Alle, die von der Geschichte der Scherben profitieren wollen, finden sich mit dem Produzenten des »Familienalbums« in einem Satz des Produktinfos wieder: »Politisch motiviert begann er [Rio Reiser] 1970 als Texter, Sänger und Gitarrist (…) rebellische Texte in deutscher Sprache mit für damalige Zeit progressiver Rockmusik zu verbinden«.

»Politisch motiviert« stammt aus dem Vokabular von Richtern und Staatsanwälten, die mit der Verfolgung linker Straftäter beauftragt waren und sind. »Politisch motivierte Straftat« heißt: Der Angeklagte mag politische Motive haben, die Tat selber hat damit nichts zu tun und ist einfach ein gemeines Verbrechen. In Reisers Fall bedeutet das: Politische Motive mag es gegeben haben, jetzt aber sind sie Geschichte. Geblieben ist die Musik. Die wird bestraft mit lebenslang – lebenslang im Warenhaus.

Damit das funktioniert, muß jemand die Ware kaufen. Vor der Ware kommt die Verpackung, in diesem Fall das Booklet. Verglichen mit der dümmlichen Prosa des Presseinfos beschränkt es sich auf das Nötigste. Die Scherben sind spurlos verschwunden. Ärgerlich, daß wieder einmal eine Kollektivleistung zu einem dubiosen Geniekult zurechtgebogen wird, bei dem sich die Familie ordentlich selber beweihräuchert. Statt Scherben-Fotos findet man Bilder der Gebrüder Möbius. Von denen trennten sich die Scherben samt ihrem Sänger, der bürgerlich Ralph Möbius heißt, ganz früh. Deren Angewohnheit, sich mit fremden Federn zu schmücken, nervte schon damals. Die Scherben können sich freuen, nicht in diesem Brei mitverrührt zu werden.
Große Teile der CD sind zu belanglos, als daß es sich lohnte, darüber zu reden. Das Zeug ist nur drauf, weil dessen Produzent identisch ist mit dem des »Familienalbums«. Er nutzt es als preiswerte Werbeplattform. Hauptsächlich bediente man sich diverser Lieder aus Rios später Solozeit, die für ihn irgendwann nur noch lästige Pflichtübung waren. Er mußte Verträge erfüllen und brauchte Geld. Und so sind sie auch, die Lieder. Was jetzt gedankenlos abgefeiert wird, waren für Rio Nägel zum Sarg. Ein paar der Beiträge des »Familienalbums« allerdings lohnen einen Blick.

Nena: »Schritt für Schritt ins Paradies.« Immerhin, Nena widersetzt sich musikalisch der ehernen Einteilung der Geschlechter. Ein alter Scherben-Song, ein Lied aus einer Zeit, in der es um mehr ging, als sich die Rente zu erspielen. Ein Song, den die Scherben erst nach einigem Zögern veröffentlichten. Die Kritik damals: zu schwammig in der Aussage. Der Song paßt zu Nena. Herausgelöst aus seinem ursprünglichen Kontext, läßt er sich beliebig auffüllen. Welches Paradies? Und welcher Weg dorthin? Diese Unbestimmtheit funktioniert hervorragend, genau wie bei Nenas Erfolg »Carpe Diem«. Da sieht sie »Zeichen« und »macht sich bereit«. Was sie tatsächlich sieht, darf jeder nach Belieben einsetzen. Zollt man einer Band Tribut, die ausschließlich wegen ihrer Eindeutigkeit geschätzt wurde und wird, hätte aber genau diese politische Haltung einziges Vorbild sein müssen.

Wir sind Helden: »Halt dich an deiner Liebe fest.« Sie stapfen in die Latschen einer anderen, mittlerweile fast vergessenen Teenie-Band. Echt haben mit »Junimond« das Recycling erfolgreich vorgemacht. Die Helden versuchen es nun mit dem sehr ähnlichen Liebefesthalten. Ein unsicherer Halt, wenn man bedenkt, daß ein erheblicher Prozentsatz der hier versammelten Lieder von Enttäuschung, Verrat und ähnlichen Vorzügen der Zweierbeziehung handelt. Die Sängerin will Trost spendieren beim ersten Liebeskummer. Karaoke fürs Kinderzimmer oder Trost beim Sozialabbau?

Fettes Brot: »Ich bin müde.« Hätte ich auf einer fetten Platte ganz nett gefunden. Aber warum machen die Brote bei einem Projekt mit, wo ein Blick auf die Teilnehmerliste genügt, zu sehen, daß der angebliche Respekt vor Rio ad absurdum geführt wird? Das gilt auch für Sterne und Fehlfarben. Offenbar hatten die Produzenten ein bißchen Angst vor Joachim Witts Auftauchen und haben die Fehlfarben als Entschuldigung auf den Platz nach Witt gesetzt. Und die waren über den angebotenen Sitzplatz froh. Oder sie stehen, wie Rio, knietief im Dispo.

Die Söhne Mannheims & Xavier Naidoo: »Mein Name ist Mensch.« Typisch Jungs, doofer Eier-Rock mit einer Prise Black Music, die ahnen läßt, daß es auch noch eine Welt jenseits des deutschen Wohn- oder Kinderzimmers gibt. Naidoo nervt mit seiner TV-Prediger-Religiosität, die in ihrer simplen Einteilung der Welt in Gut und Böse, Heilige und Huren, ein reaktionäres Menschenbild propagiert und damit Positives wie seine Beteiligung am antirassistischen »Brothers Keepers«-Projekt relativiert. Über Gottes Gebote diskutiert man nicht. Das unbedingte Plädoyer der Scherben für individuelle Freiheit paßt nicht zu Naidoos Unterwerfung des Menschen unter religiöse Gebote, deren Vorstellung von Reinheit und Ritual nur die andere Seite der Medaille der konservativen Vorstellungen von Volk und Heimat sind. Aber Motto des Samplers ist: was nicht paßt, wird passend gemacht. Das Janusköpfige der Musik der Söhne zeigt sich auch in der betonten digitalen Härte, die sie mit Witt, ihrem scheinbaren Antipoden, vereint.

Joachim Witt: »Wo sind wir jetzt«. Der Aldi-Wagner für die bösen Jungs, die unter der Bettdecke von Columbine High oder, ganz aktuell, von Overath und riesigen Pumpguns träumen. Wenn Witt mit seiner Mischung aus Kasernenhof und Schmierentheater »ihr macht mich kalt« singt, sieht man ihn vorm Spiegel mit hervorgerecktem Kinn posieren und der Welt Rache schwören. Wenigstens hat er sich nicht »Der Kampf geht weiter« ausgesucht. Das hätte bei ihm wie eine Drohung geklungen.

Egal, ob der eine oder andere Beitrag auf dieser CD musikalisch akzeptabel ist, was nicht nur mit Geschmack zu tun hat, wer sich mit Witt auf einem angeblichen Rio-Reiser-Tribute-Sampler vereinigt, muß sich mindestens Gedankenlosigkeit vorhalten lassen und in Zukunft Schnauze halten und Platten verkaufen. Wer aber warnt die armen Tanten?

* V. A.: »Rio Reiser: Familienalbum – Eine Hommage« (Safety Records/Edel)

(Der Autor war Schlagzeuger in der Urbesetzung von Ton Steine Scherben)

(quelle: Junge Welt, die Tageszeitung – online)

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