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@ Joyce´Begeisterung für Wagner
Klaus Reichert:
[Quote]Nietzsche widmete seine Schrift („Die Geburt der Tragödie“) Richard Wagner, in dem er den „erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn“ sah, nämlich der Überzeugung „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlichen metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens.“ In seiner Schrift analysiert Nietzsche zunächst die Geburt der Tragödie „aus dem Geist der Musik“, wie der Untertitel der ersten Ausgabe lautete, sodann ihren Niedergang im Zusammenhang mit der sokratischen Philosophie. Dann fährt er aber fort mit einer Beschreibung der Wiedergeburt der Tragödie, die für ihn im Musikdrama Wagners Gestalt angenommen hatte. Und es ist Wagner, der ebenfalls für die Entwicklung des Joyceschen Denkens zentral ist. Im Unterschied zu Nietzsche, über den Joyce sich ausschweigt, nimmt er immer wieder auf Wagner Bezug, und in der Triestiner Bibliothek finden sich nicht nur Klavierauszüge und Libretti, sondern auch Briefausgaben und eine englische Ausgabe der Prosaschriften von 1892, worin er Wagners berühmten Essay über „Die Kunst und die Revolution“ (1849) lesen konnte.
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Der Künstler, jedenfalls so, wie Wagner ihn in seinen frühen Schriften begriff (etwa in „Das Künstlertum der Zukunft“ von 1849), ist nichts weiter als Vermittler: der wirkliche, der einzige Künstler ist das Volk. Eine solche Auffassung war der von Ibsens vom einsamen Künstler-Aristokraten entgegengesetzt. Im „Tag des Pöbels“ hatte Joyce noch die Partei Ibsens ergriffen. Doch in seinem Vortrag über „Drama und Leben“ vertrat er die Ansicht, das Drama habe eine soziale Funktion. Der Künstler als Mittler: er sollte durch das „ungeschaffene Bewußtsein seines Volkes“ hinunterreichen, die schlummernden Kräfte befreien und in seinen Schöpfungen ans Licht ziehen. Joyce sagt in „Drama und Leben“: „Jedes Volk hat seine eigenen Mythen geschaffen, und in ihnen findet das frühe Drama oft einen Ausdruck. Der Autor des Parsifal hat das begriffen, und daher ist sein Werk so unerschütterlich wie ein Felsblock“.
Diese Beobachtung ist etwas schief. Gewiß schöpfte Wagner aus dem Mythenbestand, zumeist dem germanischen oder was er dafür hielt, aber der springende Punkt ist, wie er sie umschuf. Mythen waren für ihn Rohmaterial, Steinbrüche, aus denen er sich bediente, um seine eigenen Mythen zu bauen. Wagners Gründe dafür sind vielschichtig. Er glaubte, daß die Mythen, denen das Mittelalter literarische Form gegeben hatte, noch ein Teil des kollektiven Unbewußten seines Volkes waren und das Fühlen und das Handeln der Menschen mitbedingten. Oder umgekehrt: Unter den verschiedenen Gestalten der äußeren Erscheinung ließen sich immer noch die alten Formen und Motivationen entdecken.
Es ist leicht zu sehen, was Joyce aus dieser Art von Annäherung an den Mythos machen würde. Er hatte ein Gespür für das, was er „universale Bedeutung“ nannte, wenn er, wieder in „Drama und Leben“, sagte: „Lohengrin, dessen Drama sich in einer Szenerie der Abgeschiedenheit, im Halblicht, entfaltet, ist keine antwerpische Legende, sondern ein Weltdrama.“ Aber Wagner hatte kaum eine solche universale Applizierbarkeit seiner Mythen im Sinn. Er wollte sein Volk mit dessen eigenem Mythos konfrontieren, in der klaren Absicht einer kritischen Zurschaustellung gesellschaftlicher Kräfte. Sein Siegfried ist ein recht offensichtliches Beispiel für den neuen, den ersehnten Heldentypus – ein Träumer, der etwas von einem Toren hat und mehr im amorphen Reich seines Unbewußten lebt als im Licht der Vernunft, kurz, ein deutscher Prototyp, der aber die Verlockungen des jüdischen Intellektualismus oder des bürgerlichen Kapitalismus (der Nibelungenhort) verächtlich zurückweist und sich eigensinnig durchkämpft, auch auf die Gefahr hin, daß er dabei selber oder daß die ganze Welt zugrunde geht.
Joyce sah nicht immer die Komplexität der Sigfried-Figur, als er seinen Stephen sich partiell mit ihr identifizieren ließ. Auch Stephen wischt kurzerhand die Ansprüche seiner Familie, seines Landes und seiner Kirche beiseite. Bevor er sich in diesem Sinne (im Gespräch mit Cranly) äußert, hört er das Waldvogel-Motiv aus dem SIEGFRIED als eine Art Auslöser. Obwohl er nicht das neue Schwert, Nothung, wie Siegfried in der Schmiede Mimes schmiedet, zieht er am Ende aus, um „in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffene Gewissen meines Volkes zu schmieden“, nimmt sich also auf seine Weise gewissermaßen vor, was Sigfried erstrebte. Doch im „Circe“-Kapitel des ULYSSES schwingt Stephen seinen Eschenstock und zertrümmert mit dem Schrei „Nothung“ den Kronleuchter des Bordells, in einem Akt, der den „Untergang allen Raums“ auslöst. Das schaurige Pathos wird hier in seiner Lächerlichkeit vorgeführt.
Es war jedoch Wagners Technik, von der Joyce am meisten lernte. Wagner arbeitete mit relativ kleinen musikalischen Einheiten – der Melodie, der Akkorde, des Rhythmus, der Instrumente – , die er verschiedenen Themen und Figuren (Figurengruppen) zuordnete. Sie werden so eingeführt, daß der Hörer von ihnen her sofort die Themen oder Figuren erkennen kann; der Hörer weiß, wenn ein bestimmtes Hornsignal ertönt, wird ein bestimmter Charakter gleich auftreten. Es ist das, was Wagner die „Leitmotiv“-Technik nannte.
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Als Joyce den Ulysses komponierte, hatte auch er eine Art Gesamtkunstwerk im Sinn. Er benutzte nicht nur die literarischen Gattungen – Lyrik und Drama, Satire und Parodie, unterschiedliche Erzählstile -, er machte zugleich Sprache hörbar, indem er ihren Materialcharakter – Laute, Klänge, Rhythmen – thematisierte und nach musikalischen Regeln komponierte (wie im „Sirenen“-Kapitel). Er wollte ferner die Totalität der Sinneseindrücke gestalten, und darum spielen Gerüche und Geschmacksempfindungen eine so große Rolle, die niederen Körperfunktionen, die physiologischen Auswirkungen der Trunkenheit, doch nicht, indem sie beschrieben werden, sondern indem Joyce sie vollständig in Sprachformen – etwa auf der Ebene der Syntax im Falle der Trunkenheit – transformiert.
Wie Wagner wollte Joyce zum kollektiven Unbewußten seiner Charaktere vorstoßen: Bloom sollte der Jedermann sein, Molly alle Frauen. Wagners Leitmotiv-Technik lehrte ihn, vergleichsweise kleine sprachliche Einheiten in den Text einzuführen, mit denen er arbeiten, die er erweitern konnte, um das stets komplexer werdende System der Bezüge und Überkreuzungen zu etablieren. Das ist deutlich von dem Moment an, wo Joyce voll über seine künstlerischen Mittel verfügt, also seit der ersten Seite der Dubliner und des Porträt. Für den Ulysses lernte er von Wagners Technik, wie die vielschichtigen Facetten der Charaktere anzulegen wären, wie eine simultane Präsentation des Charakters – bewußte, vorbewußte, unbewußte Schichten gleichzeitig im Blick – auf den verschiedenen Sprachebenen möglich sein könnte. Unter dem Gesichtspunkt der Technik oder der unerhörten Kombinationsmöglichkeiten, die die Grenzen der Künste so maßlos erweiterten, war es gewiß Wagner, der den tiefsten und beständigsten Einfluß auf die Kunst von Joyce ausübte.
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