Antwort auf: 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals

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friedrich

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Bill Frisell am 09.05. in der Emmaus-Kirche in Berlin-Kreuzberg

Bill Frisell löst sich langsam auf

Die Ausgangssituation entwickelte sich für uns etwas ungünstig. Ursprünglich hatte ich angenommen, Bill Frisell wäre nicht nur der einzige Programmpunkt, sondern würde auch solo spielen. Dann erfuhr ich, dass er im Trio mit Thomas Morgan und Rudy Royson (mit denen er 2020 das Album Valentine aufgenommen hat) auftritt und erst am Tag des Konzerts las ich auf der Website des X-JAZZ-Festivals, dass als „Support“ um 19 h ein Anthony Hervey mit Band spielt und das Bill Frisell-Trio erst ab 20:30 h. Irgendwas schien da mit der Informationspolitik des Festivals nicht so ganz rund zu laufen oder ich hatte Tomaten auf den Augen. Das brachte die gesamte Abendplanung völlig durcheinander. Wo passt denn da noch ein Abendessen dazwischen? Na ja …

Also nach dem halben Hähnchen schnell zwei Plätze in der Emmauskirche gesichert. Es gab zwar zwei Tribünen vor der mittig im Raum platzierten Bühne, aber keine Bestuhlung. Stattdessen hockte man auf den Stufen oder saß auf dem Fußboden. Der Kirchensaal ein 50er Jahre Bau, vielleicht etwas zu nüchtern und etwas zu hallig. Wohl ca. 500 Leute im Publikum.

Der 27-jährige Trompeter und Sänger Anthony Hervey ist ein Newcomer, Dreadlocks, bunt gemustertes Hemd über der Hose, der einen musikalischen Bogen von Ragtime bis zu Soul schlägt. Bei dem Stück „Soulfood“ („Can I get a little less bone, a little more meat?“) bittet er eine kräftige, in einem roten mit großen weißen Blumen gemusterten Anzug gekleidete Sängerin auf die Bühne und animiert das Publikum zum Mitsummen. Beschwingte und gefällige Vorstellung, bei der das Publikum aber größtenteils regungslos auf dem Boden hocken bleibt – dabei hätte doch gerade diese Musik zu ein paar Tanzschritten verleiten können. Die Band ist nach dem Auftritt jedenfalls überglücklich, strahlt von einem Ohr zum andern und umarmt sich.

Nach der Pause dann Bill Frisell mit seinem Trio. Eigenartigerweise steht jetzt das Publikum sofort komplett auf – aber rührt sich von da an kein Stück mehr. Die drei Musiker stehen auch selbst fast regungslos einander zugewandt auf der Bühne. Diese Musik ist zurückhaltend, wirkt manchmal bloß wie angedeutet, so als spielt das Trio in einem stillen gegenseitigen Einverständnis nur für sich selbst – im krassen Gegensatz zum Auftritt von Anthony Hervey. Kaum Dynamik- oder Tempounterschiede, 45 Minuten lang geht ein Stück unmerklich in das andere über. Ein gemächlicher Fluss. Danach begeisterter Applaus und Bill Frisell nuschelt in seiner immer unglaublich schüchtern wirkenden Art etwas von „Das ist ja toller als bei den Beatles!“ ins Mikro. Aber das war’s auch schon mit der Publikumsinteraktion und es geht weiter. Irgendwann fangen mir die Füße an wehzutun, ich kann mich nicht mehr auf die Musik konzentrieren, fange an, mich zu langweilen und wünsche mir vor allem eines: einen Stuhl! Den gibt es aber nicht, ich hocke mich stattdessen hin, sehe dabei auf die Hinterteile meiner Vorderleute und schließe daher die Augen. Und da funktioniert die Musik für mich auf einmal. Zu sehen gab es da ja sowieso nichts, und ich denke: Das muss man eigentlich zuhause mit Pfeife im Ohrensessel sitzend hören!

Ein einziges mal lässt Bill Frisell die Gitarre etwas aufheulen. Ansonsten ist das ein sicher sehr subtiles feines musikalisches Geflecht, das Bill Frisell, Thomas Morgan und Rudy Royston da weben, begeistern kann es mich aber leider nicht so recht. Ich denke, wenn die in den nächsten Jahren so weitermachen, wird sich die Musik mehr und mehr auflösen. Zunächst werden sie noch den einen oder anderen Ton von sich geben, auf den die anderen dann reagieren und sich dabei anlächeln oder zuzwinkern. Am Ende werden sie aber nur noch auf der Bühne oder besser zusammen auf der Veranda stehen, die Töne weglassen und glücklich und zufrieden miteinander schweigen. Bill Frisell stellt die Band am Ende als „my friends“ vor. Das sind sie wohl.

Publikum am Ende wie aus dem Häuschen. Zugabe. Habe das Gefühl, dass einerseits ich und andererseits der weit überwiegende Teil des Publikums eine völlig unterschiedliche Wahrnehmung haben oder zumindest aus mir unbekannten Gründen zu einem völlig unterschiedlichen Urteil kommen.

Vielleicht liegt’s daran, dass ich Bill Frisell seit den 90ern mit teils deutlich lebhafterer und auch humorvollerer Musik kenne – am deutlichsten ausgeprägt bei den aufregenden lärmigen Sachen mit Naked City, aber auch bei seinen Alben als Leader in den unterschiedlichsten Besetzungen, den dramatischen Soundtracks, dem Klangrausch des Richter-Albums, den Latin- und World-Exkursionen und sogar bei seinen Solo-Alben, die in meinen Ohren immer auch eine unterschwellige, manchmal gruselige Spannung haben. Immer wieder Unerwartetes. Aber das ist alles lange her. Bill Frisell ist inzwischen 73 Jahre alt, da kann und will er es wohl nicht mehr so krachen lassen. Stattdessen das gute alte Trio-Format. Ich gönne es ihm, hätte mir selbst aber mehr Biss und Witz, „a little more meat, a litte less bone“ gewünscht.

Danach noch einen Raki am Rio Reiser-Platz und doch ganz zufrieden nach hause geradelt und gut geschlafen.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)