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Unerhört 2023
Ich weiss nicht, ob ich noch einen Jahresrückblich hinkriege, da ich über die Veröffentlichungen dieses Jahr echt nicht gut Buch geführt hab … aber über die grossartige 2023er-Ausgabe des Unerhört Festivals möchte ich doch noch ein paar Zeilen schreiben.
24.11.2023 – Theater Neumarkt – Gemma Galeano-Ferran Gorrea / Shabaka Hutchings-Simo Lagnawi-Hamid Drake
Gemma Galeano, as/ss; Ferran Gorrea, as/bari
Shabaka Hutchings, ts/flutes/little instruments; Simo Lagnawi, guimbri, voc; Hamid Drake, d/perc
Am Eröffnungsabend wurde improvisiert. Zuerst im kurzen Set von Galeano/Gorrea, die in der neuen und improvisierten Musik daheim sind (und in Zürich, wie es scheint) – und für die der Auftakt eines Jazzfestival eine eher ungewohnte Situation zu sein schein. Ein etwas trockenes Set, in dem beide mit erweiterten Spieltechniken glänzten (und kaum je normale Töne bliesen), oft irres Zeug spielten, ohne dass die Funken geflogen wären, ohne dass die Musik wirklich abheben konnte. Kein leichter, aber für meine Ohren ein durchaus ansprechender, klanglich erstaunlich reicher Einstieg.
Improvisiert wurde für den zweiten Teil schon mit dem Line-Up, denn der eigentlich vorgesehene Majid Bekkas hatte sich ein oder zwei Tage davor den Fuss gebrochen, gegen Ende einer längeren Tour (ich glaub nach Zürich gab’s noch ein weiteres Konzert?) und es musste schnell Ersatz gefunden werden. Simo Lagnawi erwies sich als Glücksfall, auch wenn, wie mir zu Ohren kam, er sich von der Musik phasenweise etwas überrollt gefühlt haben mag. Das ist auch kein Wunder, denn beim über eineinhalbstündigen Set legte Shabaka Hutchings immer wieder ein irres Tempo und Energielevel vor. Dabei schien er weniger Jazzgrössen der Sechziger zu channeln als die Kriegsgesänge des grossen Gétatchèw Mèkurya. Die Grooves wurden immer irrer, das war Fire-Music erster Güte, die an allen Enden brannte. Wenn Hutchings zwischendurch eine seiner Flöten griff, bot das nur kurz Entspannung. Er hatte wohl ein Dutzend dabei, die kleinste 15 Centimenter, die grösste so Baseball-Schläger-mässig … eine Art Okarina zog er auch mal noch aus einem Futteral. Auch mit den Flöten verdichtete die Musik sich schnell wieder, wurde sehr intensiv. Die Stücke flossen ineinander über, Drake und Lagnawi gingen mit, die drei befeuerten sich gegenseitig – und schon die erste halbe Stunde oder so, das Beschnuppern, war eine Freude. Doch danach ging es weiter und weiter … und wenn sich ein Abschluss anbot, machte einer der drei das nächste Fass auf und die Energie floss noch einmal eine Viertelstunde fort. Völlig irre, und unfassbar, dass Hutchings das Saxophon jetzt wirklich an den Nagel hängen will. Aber es gibt ja dieses bölde Sprichwort vom Aufhören, wenn es am schönsten sei … Jedenfalls null Bedenken, was den Schmuse-Kuschel-Neo-Soul-Aspekt von Hutchings angeht an diesem Abend – er brannte lichterloh und es war eine Freude und ein Geschenk, dabei sein zu dürfen. Drake war ebenfalls superb, und Lagnawi steuerte halt die einfachen Grooves bei – trotz technischer Probleme, die erst behoben waren, als er nach weit über einer Stunde seinen Bluetooth-Dongle wegwarf und den vermutlich längst Blut schwitzenden Techniker um ein altmodisches Kabel bat. Mit der Zeit fing Lagnawi dann auch etwas zu singen an – vermutlich waren schon gewisse Absprachen getroffen worden oder eine Art Repertoire vorhanden. Aber das wirkte zugleih auch wie ein grosses Kontinuum (mit nur zwei oder drei richtigen Unterbrüchen).
25.11.2023 – Zürich, Haus der Farbe – Myra Melford’s Fire and Water Quintet
Myra Melford, p; Ingrid Laubrock, ts/ss; Mary Halvorson, g; Tomeka Reid, vc; Lesley Mok, d
Beglückend auch der zweite Abend, erneut mit einem sehr langen Set, leider in einem akustisch sehr schwierigen Raum (in dem zudem nur von den ersten beiden Reihen aus was zu sehen war, und dafür war ich viel zu spät dort). Das Klavier klang wahnsinnig hart und laut (ähnlich wie beim Jazzfestival Middelheim), das Cello von Reid fürchterlich, die anderen drei klangen okay und die Balance war in Ordnung. Die Musik war viel mehr als das. Auch hier sehr lange Stücke, vielleicht sechs? Immer wieder gab es diese vertrackten Themen, denen ich kaum „Melodien“ sagen mag – dazwischen aber auch eine grosse Ausnahme, ein Stück war so schön, dass es fast schon an der Kitschgrenze entlang schrammte und erst durch die ausgedehnten Improvisationen gerettet werden konnte. Diese Improvisationen hatten es allerdings in sich. In immer wieder neuen Kombinationen (Duos, Trios) spielten die fünf ein gut fliessendes Set. Mal gab es für längere Zeit Laubrock mit Piano und Drums, dann Halvorson mit Cello und Drums. Gerade Laubrock gefiel mir ausgesprochen gut (das geht mir auch auf den beiden CDs der Gruppe so), schien trotz der ordentlich komplexen Vorlagen sehr frei in ihrem Spiel. Halvorson setzte immer wieder auf dieses irre Effekt-Pedal, mit dem sie quasi die Kontrolle über ihr Spiel verliert. In Berlin im Duo mit Sylvie Courvoisier wirkte dieser Effekt wie eine Art dringend nötiges subversives Unterlaufen der Geschehnisse auf mich, mit Melfords Gruppe war es einfach nur eine von vielen hervorragenden Zutaten. Reid war manchmal schlecht zu hören – und klang auch im Solo nicht gut. Was ich da noch nicht wusste: sie spielte kein klassisches Cello sondern vermutlich eins aus Karbonfasern (hier ein Foto von ihr mit dem Instrument, dort sowas, was es sein könnte), vermutlich ein rein elektrisches Instrument ohne viel eigene Resonanz.
26.11.2023 – Winterthur, Theater am Gleis – James Brandon Lewis Quartet
James Brandon Lewis, ts; Aruán Ortiz, p; Brad Jones, b; Chad Taylor, d
Auch am dritten Abend gab es wieder ein langes, sehr tolles Set. Das Quartett von James Brandon Lewis beschloss in Winterthur (20 Minuten mit dem Zug) seine Tour. Und so wirkte das auch: die waren von Anfang an auf 100, voll bei der Sache, perfekt abgestimmt – und jetzt auch wieder mit richtig gutem Sound. Schön auch, dass bis dahin alle Abende sehr gut besucht waren. Wohl so 200-250 Leute jeden Abend, bei Melford vielleicht etwas weniger, jedenfalls jedes Mal voll. Bei James Brandon Lewis ringe ich ein wenig um Worte. Sonny Rollins: „Wenn ich dir zuhöre, höre ich Buddha, höre ich Konfuzius … ich höre den tieferen Sinn des Lebens, Du hältst die Welt im Gleichgewicht“, aus dem Programmheft. Das hilft mir vielleicht, denn dieses in sich Ruhende ist wirklich da, Lewis wirkt absolut unbeeindruckt von allem um ihn herum – irgendwie manchmal auch von seinen Begleitern. Die nehmen zwar eine durchaus wichtige Rolle ein, bleiben im grossen Ganzen aber doch Begleiter. Diese Ruhe ist also Stärke und zugleich auch irgendwie Schwäche des Konzepts, dünkt mich. Lewis bewegt sich mit irre schönem Ton irgendwo zwischen dem ruralen Jazz von Jimmy Giuffre (aber eher in einer Art Faux-Südstaaten-Version) und aktuellen Strömungen des Spiritual Jazz, der Vortrag des Pfarrerssohns hat oft tatsächlich etwas Predigendes. Eine Predigt, in der unbedingte Bestimmtheit mit einer Lockerheit, Gelassenheit zusammenfinden. Druckvoller Ton, wuchtig gesetzte Akzente, perfekte Intonation – am Saxophon macht ihm wirklich kaum wer was vor. Und doch wirkt das dann auch irgendwie etwas beschränkt, etwas hermetisch, sich selbst genügend. Dabei geht die Rhythmusgruppe mit, die drei funktionieren als Trio wie auch mit Lewis als eine formidable, sehr bewegliche Einheit, die wahnsinnig viel zu bieten hat, von den irresten Verdichtungen am Klavier (gerne auch leise dargeboten, als eine Art Rauschen, das manchmal nur aufgrund der Optik erahnt werden konnte – aber wäre es weggebrochen, hätte ich das bestimmt sofort bemerkt). Das Klischee vom ruhenden Pol am Bass ist auch bei dieser Gruppe wieder einmal wahr, wobei Jones so federnd und agil zur Sache geht, wie man sich nur wünschen kann – die Ruhe, der Pol also bloss oberflächliche Wahrnehmungen sind. Chad Taylor hörte ich aber in anderen Settinngs (auch beim Willisauer Duo mit Lewis, das auf Intakt dokumentiert ist) freier. Die im Programm noch angekündigte Mbira kam leider nicht zum Einsatz er spielte mit verschiedenen Sticks (und auch mal mit blossen Händen ein reguläres kleines Drum-Kit. Das Konzert ist schon ein paar Tage später in der Gunst etwas abgesunken, nachdem der intensive Live-Eindruck verblasste – aber es war schon sehr gut. Vielleicht hätte es gewonnen, wenn es nicht allein einen ganzen Abend hätte stemmen müssen. (Die alte Leier: das Unerhört ist ja die halbe Zeit mehr Konzertreihe denn Festival, auch wenn das Programm dieses Jahr auch unter der Woche ziemlich dicht war.)
Am Montagabend verpasste ich dann David Murrays aktuelles Quartett (mit Marta Sánchez-p, Luke Stewart-b und Russell Carter-d), das im Moods zusammen mit dem Duo Roman Landolt (keys)/Violeta Garcia (vc) auftrat. Das, weil ich eine Karte für das Rezital von Francesco Piemontesi in der Tonhalle hatte – das sich auch gelohnt hat, wenngleich mich nicht alles überzeugte (und wahnsinnig müde war ich dann auch, weil bei der Arbeit gerade auch die Hölle los war, praktisch seit meiner Rückkehr aus Berlin).
28.11.2023 – Zürich, Helferei – Marta Warelis Solo
Marta Warelis, p
Am Dienstag gab’s das erste von drei aufeinanderfolgenden 18-Uhr-Klavier-Solo-Konzerten in der Helferei, genauer genommen der an und in das Haus Helferei hinein gebauten Grossmünsterkapelle. Den Raum mag ich gar nicht, aber dass das Unerhört-Festival dort diese Klaviersolos (manchmal auch Duos) programmiert, hat längst Tradition (und für ein Barock/Renaissance-Liedkonzert mit Lautenbegleitung war der Raum perfekt). Marta Warelis sagte mir so wenig wie Georg Vogel, den ich am folgenden Tag verpassen sollte, Craig Taborn schloss die Reihe dann am Donnerstag ab. In der ersten Fassung des Programmes war statt Warelis noch Alexis Marcelo angekündigt gewesen – noch ein Name, der mir nichts sagt.
Zum Set von Warelis zu gehen, lohnte auf jeden Fall sehr. Die zierliche Pianistin spielte eine Dreiviertelstunde am Stück, fing recht karg, sparsam an, steigerte sich in ein immer krasseres Tempo, es gab Passagen mit Verdichtungen, wie sie Cecil Taylor gerne spielte – aber bei aller Wucht wirkte das immer logisch, kontrolliert, stringent. Eine Zugabe war da ein eher schwieriges Unterfangen, aber Warelis hatte noch dabei, was wie die abmontierten Haare eines Geigenbogens aussah, bog sich über das Baby Grand Piano, wickelte die Haare um ein paar Saiten und strich quasi noch eine introspektive Zugabe. Und introspektiv wirkte auf mich das ganze Set – auch dort, wo es richtig laut und wuchtig wurde. Eine schöne Entdeckung auf jeden Fall. Falls da jemand Empfehlungen hat, bitte her damit, ich bin beim Herumstöbern auf ihrer Website usw. nicht wirklich fündig geworden (ein paar Dinge klingen ganz gut, aber völlig anders als das Live-Set).
Am Dienstag wäre es noch weitergegangen, gleich nebenan, mit Han Bennink Solo und dann einem Duo-Set des Stimmakrobaten Andreas Schaerer mit Luciano Biondini am Akkordeon (Ersatz für ein einst angekündigtes Set von Omri Ziegeles altgedientem Zürcher Kollektiv Billiger Bauer) und parallel dazu gab es an der Zürcher Hochschule der Künste ein Konzert von Alexander Hawkins mit der Workshop Band der ZHdK. Doch ich musste meine Kräfte einteilen und bin nach Hause. Am Mittwoch liess ich daher Georg Vogels Solo-Set um 18 Uhr aus, ebenso die zwei Sets im GZ-Riesbach (wie beim Haus der Farbe und dem Theater am Gleis wurden da andere Konzertreihen ins Festivalprogramm integriert, man tritt generell fast überall als Co-Veranstalter auf), wo zuerst die Pianistin Myslaure Augustin im Duo mit dem Drummer Dejan Terzic auftrat und danach die „3 Trios“ von Jorge Rossy (d/vib), Nat Su (as/d) und Dominique Girod (b) zu hören gewesen wären. Das war auch wieder so programmiert, dass man kaum alles am Stück hätte hören können, denn um 21:45 gab es im Rank, einem Kultur-Restaurant, noch ein Set vom Trio von Alexander Hawkins – und da war ich dann wieder dabei. (Essen um 20 Uhr, wer nur zum Konzert gehen will, kann um 21:30 rein, was ich getan hab. Voll war das dann nicht mehr.)
29.11.2023 – Zürich, Rank – Alexander Hawkins Trio
Alexander Hawkins, p/samp; Neil Charles, b; Stephen Davis, d
An guter Klaviermusik mangelte es beim Unerhört dieses Jahr wirklich nicht! Das Trio spielte ein gut einstündiges Set – und war on fire. Hawkins hatte auf dem Flügel noch einen kleinen Sampler platziert, von dem er wie auf dem aktuellen Album „Carnival Celestial“ hie und da Alltagsgeräusche, Wortfetzen oder ähnliches einstreute. Das gab dem Set eine Art Unsicherheit, wie Mary Halvorson das mit ihrem Zufalls-Effekt tut – zumal Hawkins danach lachte und meinte, so ganz habe er nicht begriffen, wie dieses Ding funktioniere (es hat ein Tastenfeld, mit dem wohl die gespeicherten Sounds angepeilt und dann mit weiteren Reglern auch noch bearbeitet werden können). Das Set war jedenfalls eine Freude – und meine erste Gelegenheit, das Trio für sich zu hören, ohne vierte Frau (Elaine Mitchener, beim Artacts 2018 gehört) oder vierten Mann (Anthony Braxton 2020 in Wels gehört, mit John Surman gab’s leider nur vereinzelte Auftritte in England, das hätte ich auch gerne gehört, zumal ich mit dem Unerhört auch ein fabelhaftes Surman-Erlebnis verbinde, ein Trio mit Mark Helias und Pierre Favre). Die drei waren in bester Laune, spielten ein Set, das sich immer weiterdrehte, fast ohne Unterbruch den nächsten freien Groove, das nächste Lick anpeilte, polyrhythmisch, frei, und doch sehr präzis und so mitreissend, wie ich es auf den Alben nicht empfinde (auf dem ersten ist noch Tom Skinner am Schlagzeug zu hören), völlig anders auch als mit Braxton – aber vielleicht ganz ähnlich wie mit Mitchener, die als Peformerin eine ähnlich brennende Intensität mitbringt (die wiederum dem Album ebenfalls eher nicht entnommen werden kann, wie ich mich erinnere – lief schon länger nicht mehr, die alten Jazznörgler beim Artacts fanden’s natürlich gar nicht gut, ich fand’s allein wegen der Präsenz der vier beeindruckend). Etwas schiwerig war auch hier wieder der Sound: der Raum ist ein langgezogener Kubus, die Bühne in der Mitte der einen langen Seite – ich sass zum Glück direkt davor (an der Wand, zweite Tischreihe), die meisten Leute sitzen dann in der Tiefe links oder rechts der Bühne, wo es dann drei Tischreihen gibt, auch eine auf der Höhe der Bühne, die eh nicht hoch ist. Das Set brannte aber so intensiv und unmittelbar, dass das am Ende völlig egal war – ganz wie bei Melford.
30.11.2023 – Zürich, Helferei – Craig Taborn Solo
Craig Taborn, p
Mangels Fotos greife ich oben vor … Donnerstag war vielleicht sowas wie der Pausen-Tag: es gab nur um 18 Uhr ein letztes Piano-Set in der Helferei und dann ab 19:30 einen längst ausverkauften exklusiven Ausstellungsbesuch plus Vibraphon-Solo-Set im Museum Rietberg, mit Taiko Saito, die ich neulich in Berlin mit Henry Threadgill/Silke Eberhard zum ersten Mal gehört hatte. Ich wäre da eigentlich ganz gerne hin, aber es war zum einen zeitlich knapp (18 bzw. 19:30 Uhr) und zum anderen dann eben eine Woche davor oder so ausverkauft – und ich war längst so müde, dass auch Taborn auf der Kippe stand. Nach einem völlig bekloppten Tag – an dem Zürich obendrein halb eingeschneit wurde – bin ich dann erst recht hin … und es war grossartig.
Auch bei Taborn fehlen mir die Worte, seine Musik bewegt sich für meine Ohren abseits aller Schemata, er findet gerade solo immer eigene Wege – bei denen ich mich auch hie und da frage, ob es sich dabei eigentlich um Jazz handle. Das ist eine hinfällige Frage, klar aber sie verdeutlicht eben, wie eigenwillig Taborns Spielhaltung auf mich wirkt. Nachdem Warelis ihr Solo-Set kurz gehalten und Vogel (wie ich hörte) ein überlanges quasi modernes Ragtime-Set ohne Pause gespielt hatte (90 Minuten oder so, danach sei er komplett durch gewesen – er sass dann bei Hawkins noch im Publikum, ging aber frühzeitig), fand Taborn wohl einen guten Mittelweg, spielte etwas mehr als eine Stunde, musste auch eine Zugabe geben. Nachdem er mitten im Set – er setzte zwar öfter ab als Warelis oder Hawkins, aber auch bei ihm flossen wohl ein paar Stücke nahtlos ineinander über – via den „verse“ auf „But Not for Me“ zugesteuert war, erklang zum Ende noch eine vertraute Melodie – Alexander Hawkins und Tomeka Reid sassen im Publikum, und als ich mich danach von ersterem verabschiedet habe, sagte er, Reid habe das Stück als Geri Allens „When Kabuya Dances“ identifizziert. Schön!
01.12.2023 – Zürich, Rote Fabrik – Vincent Courtois-Colin Vallon / Borderlands Trio
Vincent Courtois, vc; Colin Vallon, p
Stephan Crump, b; Kris Davis, p; Eric McPherson, d
Zum Einstieg ins zweite Wochenende hatte ich dann Freizeitstress der schönsten – und entspannendsten – Art. An diesem Wochenende, dem ersten im September, findet auch das Sonic Matter Festival statt, eine Art Wurmfortsatz der verstorbenen Festspiele Zürich, mit denen früher an den grossen Bühnen Ende Juni (sie hiessen einst Juni-Festwochen) die Saison beendet wurde. Dass das Nachfolge-Festival auf das zweite Unerhört-Wochenede stattfindet, ist eine echt blöde Idee, denn wenn es zwischen Klassik und Jazz in Zürich eine Schnittmenge im Publikum gibt, dann ist das da, wo Zeitgenössisches auf dem Programm steht, also genau beim „Sonic Matter“. Anyway, im gleichen schon für das Piemontesi-Rezital verlinkten Post steht auch ein wenig was zum Abend, den ich beim Sonic Matter hörte. Vorprogramm um 18 Uhr, Hauptkonzert um 19:30 – aber ohne Pause und mit ca. einer Stunde reiner Spieldauer – es sollte also, so der Plan, wenigstens für das Borderlands Trio in der Roten Fabrik noch reichen, das für 21:30 angekündigt war. Und das tat es auch!
Die beiden Abende in der Roten Fabrik bilden seit dem Beginn 2001 sowas wie das Herzstück des Unerhört, und sie boten dieses Jahr auch noch musikalische Facetten, die sonst beim Festival soweit ich es mitkriegte nicht zu hören waren. Früher war es an den Fabrik-Abenden aber eher so, dass das letzte Set so spät begann, dass ich vorzeitig gehen musste, wenn ich noch mit den Öffentlichen nach Hause kommen wollte (erst die Pandemie machte mich nach 25 Jahren wieder zum Radfahrer). Heuer hat man die Uhr – und die Umbaupausen – besser im Griff, aber drei Sets im Abstand von je einer Stunde, wie angekündigt, ist dann doch etwas sportlicher berechnet, als realistisch. Als ich gegen 21 Uhr in der Fabrik ankam, lief jedenfalls noch das Set von Vincent Courtois und Colin Vallon, von dem ich wohl in etwa die zweite Hälfte hörte. Und das war eine richtig schöne Überraschung: nicht der erwartete Wohlklang sondern sehr vielschichtige, klanglich wie rhythmisch sehr ansprechende Musik, in der Tanzryhthmen, Drones, präparierte Klaviertöne und – natürlich fehlten sie nicht – elegische Melodien zusammen fanden.
Kurze Pause und dann endlich die Gelegenheit, das Borderlands Trio live zu hören. Stephan Crump in der Mitte, zum ersten Mal dass ich ihn mit einem richtigen Kontrabass sehe, nicht mit diesem seltsamen kleinen Reisebass, den er bisher (Vijay Iyer Trio, Duo mit Mary Halvorson auch beim Unerhört, glaub ich) jeweils spielte. Er setzte Töne, gab den Puls vor, den McPherson zunächst recht rockig umspielte, Davis hielt sich lange eher zurück – und doch entwickelte das unterbruchlose Set bald einen immensen Sog. Immer weiter gingen die drei, griffen gegenseitig Ideen auf – oder liessen sie laufen und spielten phasenweise eher neben- als miteinander, was wieder neue Reibung entwickelte, aus der sich das nächste Motiv, das nächste Riff, der nächste Beat entwickelte. Als Kris Davis dann auch richtig in Fahrt war, wurde das zum Ende hin ähnlich intensiv wie das Trio von Hawkins zwei Abende zuvor – allerdings klangen Borderlands im Clubraum, der mit seiner Grösse für mich einer der besten Jazz-Spielorte in der Stadt ist, wirklich hervorragend.
Ganz verpasst hatte ich das erste Set des Abends, das gemäss Programm gegenüber im Fabriktheater hätte stattfinden sollen. Doch da es dort keinen Flügel gibt und es sich erneut um ein Klaviertrio gehandelt hatte, fand der ganze Abend im Clubraum statt. Gespielt haben Lisa Ullén (p), Elsa Bergman (b) und Anna Lund (d) – ein Trio, auf das ich nach einer für mich nicht sehr erquicklichen Begegnung mit der Anna Högberg Attack beim letzten „alten“ Taktlos (2015, 2016?) eh wenig erpicht war. Drum oben schon das erste von zwei Fotos vom Solo-Set von Zeena Parkins am zweiten Fabrik-Tag. Weiss zufällig jemand, was mit ihrem Auge passiert ist?
02.12.2023 – Zürich, Rote Fabrik – Zeena Parkins Solo & with HSLU Ensemble / Angelika Niescier-Tomeka Reid-Savannah Harris
Zeena Parkins, cond. Large Ensemble der HSLU: Hans-Peter Pfammater, synth; Carlo Brühlart, ts; Angelika Granlund, tuba; Anna Girsberger, p; Julia Süess, g; Vincent Ringling, g; Aaron Leutenegger, d
Zeena Parkins, harp, electronics
Angelika Niescier, as; Tomeka Reid, vc; Savannah Harris, d
Der zweite Abend in der Roten Fabrik wurde etwas umgestellt, das Solo-Set von Zeena Parkins wurde vom Schluss in die MItte verlegt – was eine sehr gute Idee war. Doch los ging es mit Parkins und der HSLU-Combo (sechs junge Musiker*innen plus Pfammatter, der wohl ihren Kurs leitet – das Festival war wunderbar auf Ausgewogenheit bedacht, was Gender und weiteres anbelangt, die starke Frauenvertretung hatte ich ja in meinen Kurzkommentare im Hörfaden schon ein paar Male herausgestrichen). Parkins dirigierte hier nur, alles eigene Musik, Stücke die wohl nicht herkömmlich notiert und schon gar nicht durchkomponiert waren, sondern aus Spielanweisungen bestanden, vielleicht auch aus einzelnen Kürzeln oder Akkorden (ich konnte nur den einen oder anderen Blick auf Notenblätter erhaschen). Parkins sass auch mal für einen Moment am Rand auf einen Stuhl und liess laufen, die meiste Zeit gab sie aber energisch Einsätze, stellte quasi mit Gesten Instrumente an und wieder ab, schichtete und verdichtete die Musik so, gab Tempi vor, Lautstärken, Intensitäten usw. Das hatte zugleich etwas sehr Kontrolliertes und etwas total Krawalliges, das mir sehr gefiel.
Nach dem Ortswechsel ging es dann gegenüber im Clubraum mit dem Solo-Set von Zeena Parkins weiter. Ich war etwas überrascht, dass sie mit einem grossen Instrument reiste (ich glaube mich aber zu erinnern, dass die das 2016 oder 2017 beim Météo in Mulhouse auch schon tat, wo sie aber zusätzlich auch noch eine futuristische kleine elektrische Harfe spielte, ein kleines Dreieck mit diversen Knöpfen – und natürlich Saiten – , das auf einer Art Pfosten/Ständer befestigt war, damit sie es im Stehen spielen konnte). Neben der Harfe ein Tisch mit Notebook, diversen verkabelten Gerätschaften und kleinen Gegenständen, am Boden daneben eine Isolierdecke, mit der sie sich irgendwann auch noch an der Harfe zugange machte. Das Set war über weite Strecken lyrisch, ruhig, klangschön – sehr vielschichtig, oft mit einer Portion Schalk. Sie befestigte auch mal „crocodile pins“ an den Saiten – und meinte, als eine Klammer auf den Boden fiel, launisch, mit einem Auge sei das halt gar nicht so einfach.
Den Ausklang machte dann ein Power-Trio – und das war ein richtig gut programmierter Abend, von dessen drei Sets zwar keines zu meinen liebsten des Festivals gehört, der aber als ganzer Abend wirklich super war (auch das Erinnerungen an die besten Zeiten vom Météo, wo die Gekonntheit im Programmieren der – ebenfalls dreiteiligen – abendlichen Hauptkonzerte die grösste Stärke war). Mit Angelika Niesciers Powerspiel habe ich mich ja im Lauf der Jahre etwas ausgesöhnt (auch dank eines Duo-Sets beim Unerhört mit Alexander Hawkins vor ein paar Jahren, da hörte ich sie dann nach der ersten Begegnung beim Jazzfest Berlin 2016 erneut live und damit begann die allmähliche Annäherung). Ob Tomeka Reid die ganze Woche in Zürich verbrachte, weiss ich nicht – falls ja wäre es sehr schade, dass sie nicht ein paar weitere Auftrittsmöglichkeiten kriegte – z.B. ein Cello-Solo in der Helferei, why not? Aber sie hatte ja dieses fürchterliche Instrument dabei, wie ich erst bei diesem zweiten Auftritt erkennen konnte. Es klang auch da nicht besser, aber das hinderte sie ganz offensichtlich nicht, sich über die Musik zu freuen, die sie mit Niescier und Drummerin Savannah Harris machte (letztere hatte ich schon mal mit dem Trio von Maria Grand im Konzert gehört). Die Musik des Sets stammte zu weiten Teilen von der aktuellen Intakt-CD, das Trio stand allerdings am Anfang – und nicht wie Hutchings/Drake, Myra Melford und James Brandon Lewis am Ende – einer kleinen Tour und war noch nicht so eingespielt, wie es das wohl eine Woche später gewesen ist. Niescier sprach recht viel mit dem Publikum – als erste überhaupt, glaub ich … davor gab’s bei Lewis oder Melford, bei Taborn oder Hawkins mal ein paar kurze Worte, ein Dankeschön ans Festival oder ans Publikum oder die Ansage einzelner Stücke, aber Niescier war an diesem zweitletzten Abend tatsächlich die erste, die quasi durch das Set führte. Dieses war druckvoll, bildete damit einen super Kontrapunkt zu den ersten beiden Sets – aber nach dem Harfen-Solo waren leider viele Leute leider schon gegangen, obwohl es noch gar nicht spät war (um 23 Uhr war der Abend jedenfalls zu Ende). Subtil ist das Spiel von Niescier ja echt nicht und auch Harris spielte fast nur binäre, recht harte Beats. Reid füllte den Raum zwischen dem Dominanten Saxophon und den harten Beats auf vielschichtige Weise – aber eben: ich hätte sie schon sehr gerne an einem richtigen Cello gehört (wie sie es auch auf den Alben spielt, besonders bei Melford war der Kontrast echt heftig).
03.12.2023 – Zürich, Sogar Theater – Mette Rasmussen Solo
Mette Rasmussen, as/voc
Auf den Sonntag hatte ich zunächst verzichten wollen – fand dann aber die Aussicht auf ein zweites Solo-Set von Rasmussen (das erste hörte ich beim Artacts) zu verlockend und kaufte im Voraus ein Ticket, um zu verhindern, dass ich dann doch lieber zuhause sass. Im Sogar Theater war ich seit einer Ewigkeit nicht mehr, aber es wurde wie erwartet zu einer streckenweise grenzwertigen Sache: ein kleiner Betonkubus, darin vielleicht 60 Leute auf einer ansteigenden Tribüne und vorn auf der Fläche Rasmussen mit ihrem Altsaxophon, auf einem Tisch ein paar Utensilien, die sie mal in den Trichter steckte (eine Plasticflasche, ein Pappbecher) oder über diesen legte (ein kleines Tamburin mit Schellen) sowie einem zweiten Mundstück, das zum Glück nur für ein Stück zum Einsatz kam. Zum Glück, weil Rasmussen die meiste Zeit eins aus Kautschuk blies – oder auch mal ohne Mundstück, was auch den Bogen zum Saxophonduo am Eröffnungsabend schloss – , während das zweite aus Metall war, womit sie einen noch deutlich durchdringenderen, lauteren Sound hatte, der in dem leeren Raum phasenweise über die Schmerzgrenze hinaus ging. Ein knapp stündiges, intensives Solo-Set, zu dem auch ein paar Stücke gehörten, bei denen sie einzelne Worte zwischen ihr Spiel einstreute – ein eigenes Gedicht, wie sie später sagte. Als Zugabe rezitierte sie dann einen nachdenklichen weiteren eigenen Text – wir befanden uns ja in einem Theater.
03.12.2023 – Zürich, Museum für Gestaltung – Olga Neuwirth „coronAtion IV: whoever brought me here …“
Lucas Niggli, perc; João Pacheco, elb/elec; Sylwia Zytynska, perc
Ein paar hundert Meter weiter lief seit 11 Uhr morgens eine zehnstündige Peformance, bei der ein Percussion-Trio ein neues Werk von Olga Neuwirth aufführte, „coronAtion IV“, Teil eines sechsteiligen Zyklus, der sich angesichts des Titels wenig überraschend mit dem Konzertverbot während der Pandemie befasst. Eine erste vollständige Aufführung fand 2022 beim Wien Modern-Festival statt. Ich hörte noch eine halbe Stunde rein nach dem Rasmussen-Set. Als ich wieder ging, hatten die drei noch zwei weitere Stunden vor sich. „Alle Stücke dieses Zyklus sind das Protokoll und Überdenken meines eigenen Komponierens“, wird Neuwirth in einem der Programmflyer zitiert (es gab wohl einen, der extra auf das Neue-Musik-Publikum gemünzt war … und diese Performance hätte tatsächlich perfekt ins Programm des „Sonic Matter“-Festivals gepasst), und weiter heisst es dort: „Das Stück ist eine immersive, hypnotische Raummusik für drei Perkussionist*innen und Samples mit einer Länge von zehn Stunden, wobei das Publikum frei entscheiden kann, zu welchem Zeitpunkt und wie lange es zuhören möchte.“ – Ich fand das ziemlich toll, gerade in der Form, wie ich für meinen Besuch wählte: Ausklang nach zehn wahnsinnig bereichernden Tagen voller grossartiger Musik. Ein Herunterfahren, ein Entspannen bei repetitiven, sich allmählich neu formierenden Rhythmen (Pacheco hatte eine elektrische Bassgitarre vor sich auf einem Tisch liegen, griff manchmal auf dem Hals Töne, spielte aber meist mit Filzschlägeln, als stünde vor ihm ein Malletinstrument).
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba