Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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22.10.2023 – Zürich, Tonhalle – Neue Konzertreihe Zürich

European Philharmonic of Switzerland
Charles Dutoit
Leitung
Martha Argerich Klavier

MAURICE RAVEL «Le tombeau de Couperin»
ROBERT SCHUMANN Klavierkonzert a-Moll op. 54

LUDWIG VAN BEETHOVEN Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92
E: RAVEL «Pavane pour une infante défunte»

Bevor ich gestern wieder in den Jazz abgetaucht bin, hatte ich am Mittwoch zum zweiten Mal die Gelegenheit, Martha Argerich zu hören – mit demselben (aus dem Gustav-Mahler-Jugendorchester von Abbado hervorgegangenen) Orchester und mit demselben Ex-Mann am Pult wie beim letzten Mal, als sie das Klavierkonzert von Ravel spielte. Beim letzten Mal fand ich das Gebotene nur mittelgut – auch wenn Argerichs messerscharfe Ravel-Interpretation beeindruckte. Dieses Mal passte alles, auch vom Podium und vom Orchester. Nachdem Heinz Holliger mit dem Kammerorchester Basel für mich den „Tombeau de Couperin“ neulich endlich knackte, konnte ich auch diese gross besetzte Version von Dutoit – der auf dieses Repertoire ja spezialisiert ist – sehr geniessen. Die eine oder andere Unsauberkeit da und dort störte nicht wesentlich – und danach war das Orchester aufgewärmt und Argerich trat unter grossem Applaus auf. Seit Wochen ausverkauft, klar … ein wenig merkt man ihr beim Auftritt das Alter inzwischen auch an (dem nochmal fünf oder sechs Jahre älteren Dutoit sieht man’s zwar an, aber sein Auftritt und auch sein Dirigitat sind federnd und locker, als wäre er 20 oder 30 Jahre jünger).

Schumann also – wuchtig und doch nuanciert, die ganze Bandbreite auslotend, sich mit Dutoit immer wieder mit Blicken verständigend. Dieser schnaubte und brummelte bei manchen Stellen hörbar mit. Ich sass auf meinem Aboplatz in der ersten Reihe, drei oder vier Meter von Argerich, mit Blick auf ihre fliegenden Finger – am Klavier wirkte sie so jung und fit wie eh und je. Das Orchester sass nun auch auf der Stuhlkante, hellwach, ging mit. Das war seit Khatia Buniatishvili mit dem Kammerorchester Basel unter Mario Venzago im Januar 2018 das erste Mal – und ich glaub überhaupt erst das zweite Mal – dass ich das Klavierkonzert von Robert Schumann live hören konnte. Und es war wirklich ein Erlebnis! Die Zugabe – mit amüsanter Pantomime vom Ex-Ehepaar auf der Bühne drumherum (Dutoit vermittelte stumm mit Gesten, Argerich solle sich hinsetzten und noch was spielen, sie zierte sich – Slapstick von erster Güte) – stammte dann glaub ich von Chopin? Stehende Ovationen jedenfalls, ein beglücktes Publikum eine lange Pause, wohl auch, weil diverse Leute den Weg zu Argerich hinter die Bühne suchten – und auch vorgelassen wurden oder zumindest nach hinten gehen konnten.

Nach der Pause – wegen der überhandnehmenden Müdigkeit dieser Tage hatte ich sogar für einen Moment überlegt, heimzugehen – gab es dann die Siebte von Beethoven, zu der @yaiza neulich kommentierte, dass die derzeit ständig gespielt werde. Für mich war’s wohl auch das vierte oder fünfte Mal im Konzert – und da reicht eh nichts an den Abend mit Blomstedt am Pult des Tonhalle-Orchesters mit der Siebten und Achten heran. Dutoit und sein Orchester spielten die Symphonie wuchtig, oft etwas breit, schon beweglich, aber weit weg von den Sichtweisen, die Erkenntnisse aus der Alte-Musik-Praxis berücksichtigen. Das klang für meine Ohren manchmal etwas gar romantisch – und doch gelang eine in sich vollkommen stimmige Version, die das Publikum erneut von den Sitzen riss. Zu recht, vollkommen zu recht, auch wenn das nicht meine Art ist, Beethoven zu spielen.

Dann der geniale Coup von Dutoit: nach drei oder vier Abgängen, die Musiker*innen hatten schon auf den Notenpulten genestelt: Achtung, es geht weiter. Er dreht sich kurz um, sagt auf Deutsch, man werde jetzt noch Ravels „Pavane pour une infante défunte“ spielen – er wisse aber nicht, wie der Titel auf Deutsch hiesse – drehte sich um und sofort ging es los. Ein Oberchecker hinter mir, in die ersten Töne hinein: „Antiklimax“. Doch nein, eben gerade nicht! Mit dem immer noch einigermassen konzentrierten Orchester auf nicht allzu verstimmten Instrumenten rundete Dutoit das Konzert damit perfekt an, fand zum Farbenreichtum, den aufgefächerten Klängen vom Einstieg zurück – und lieferte eine zweite vollkommen stimmige Ravel-Interpretation ab. Wunderbar! Da ging ich jedenfalls beglückt in die Kalte Nacht hinaus und bereute auch am nächsten Morgen nicht, dass es später geworden war als geplant.

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