Antwort auf: 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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gypsy-tail-wind
Besuch aus Deutschland habe mal gefragt, ob die Anzeige „2 Minuten Verspätung“ bei den SBB ironisch gemeint sei, las ich heute Morgen irgendwo … eine Stunde zu spät kam ich in Berlin an, aber das war in etwa so eingeplant und es reichte, um gemütlich zum Haus der Berliner Festspielen zu gelangen …

Eine Stunde Verspätung mit der Deutschen Bahn? Du Glücksseliger! ;-) Mein Zug gestern fiel schlicht komplett aus. „Verkehrt heute nicht.“ Der ersatzweise heute genommene Zug hat bis jetzt nur 20 min Verspätung. Und das ist eine echte Spitzenleistung.

Doch der Abend war noch nicht zu Ende, nach einer längeren Paus ging es im geöffneten, sehr grossen Bühnenraum des Festspielhauses mit Chicago-Programm weiter.
(…)
21:30 – Sonic Dreams: Chicago
Mike Reed „The Separatist Party“: Mike Reed – Schlagzeug | Rob Frye – Tenorsaxofon, Flöte, Schlagzeug | Cooper Crain – Gitarre, Sythesizer | Dan Quinlivan – Synthesizer | Marvin Tate – Spoken Word | Ben LaMar Gay – Kornett, Flügelhorn, Perkussion
Brown / Abrams / Reed: Ari Brown – Tenorsaxofon | Joshua Abrams – Kontrabass | Mike Reed – Schlagzeug
Bitchin Bajas: Cooper Crain – Tasteninstrumente | Dan Quinlivan – Tasteninstrumente | Rob Frye – Tasteninstrumente, Holzblasinstrumente
Natural Information Society: Joshua Abrams – Gimbri | Lisa Alvarado – Harmonium | Jason Stein – Bassklarinette | Ben LaMar Gay – Kornett, Flügelhorn, Perkussion | Mikel Avery – Perkussion || Ari Brown – Special guest am Tenorsaxofon || Lokale Musiker*innen: Anna Kaluza – Altsaxofon | Mia Dyberg – Altsaxofon | Axel Dörner – Trompete

friedrich, der Sonic Dreams: Chicago auch dabei war, liess uns dann wissen, dass es drüben bereits losging – als wir auf die Bühne kamen, war das Set von Mike Reeds „The Separatist Party“ tatsächlich bereits im Gang. Reed hämmerte die Beats, Marvin Tate die Worte, das Trio Bitchin Bajas sorgte für satte Grooves (mit ts/fl, g, synth, wenn ich das richtig hörte), Ben LaMar Gay steuerte am Kornett hübsche Girlanden bei, manchmal mit Punch, dann wieder eher etwas belanglos. Und so war vielleicht das ganze Set: trotz der peitschenden Worte und Beats ging das meist eher in den Magen als in den Kopf, funktionierte tatsächlich als Partymusik (die Menschen drängten sich stehend auf der Hinterbühne).

Reed zog sann mit irgendeinem Instrument mitten durch die Leute zu einer anderen Ecke der Bühne, und es folgte ein kleines Festivalhighlight, das vielleicht zehn Minuten dauerte und nicht angekündigt war: eine längere Trio-Improvisation mit dem Tenorsaxophonisten Ari Brown (der davor beim Gespräch mit Threadgill in der ersten Reihe gesessen hatte), Joshua Abrams am Kontrabass und Mike Reed am Schlagzeug, jetzt wieder mehr Jazz- als Hip-Hop-Drummer). Browns Ton erinnerte an die grossen Vorbilder aus Chicago (Ammons, Freeman) aber auch an die vokalen inflections von Yusef Lateef. Ein sehr zarter und vielleicht gerade darum so starker kurzer Auftritt.

In der Zwischenzeit hatte sich in wieder einer anderen Ecke Bitchin Bajas hinter seinen Synthesizern installiert. Jetzt wurde die Hinterbühne wirklich zur Partylocation, die Leute verteilten sich etwas, sassen auch am Boden, unterhielten sich, während das Trio seine sphärischen Klänge präsentierte. Auch wir gingen erstmal kurz nach Draussen und setzten uns danach am anderen Ende des Raumes in die Nähe der grossen Bühne, die schon für die Natural Information Society vorbereitet war, die in einer grossen Besetzung mit Ari Brown und drei deutschen Gästen den Abend beschliessen sollte.

Dieses letzte Set war dann wieder ein ausgereiftes, wie das von Reed zu Beginn: die Natural Information Society von Joshua Abrams. Es hatte wohl eine Probe oder zumindest ein paar Absprachen gegeben. Im Gegensatz zu William Parker, der in Berlin dieses Jahr zwar keine Gimbri spielen sollte (ich hörte ihn aber im Oktober ausgiebig, als er mit Vicente-Dikeman-Parker-Drake Rupert Julians „Le Fantôme de l’Opéra“ begleitete, siehe unten), dies aber sehr melodisch tut, klingt das Instrument bei Josh Abrams derart wüst verzerrt, dass es eigentlich nur rhythmische Impulse, keine Töne erzeugen kann. Mich langweilt die Band ja leider sehr (vor sechs oder sieben Jahren mal in Zürich in der Standard-Quartettbesetzung gehört, seither mache ich eher einen Bogen um sie), aber mit den Gästen – zu denen notabene auch Ben LaMar Gay gehört, die Line-Ups habe ich von der Website der Berliner Festspiele kopiert und nur das nötigste korrigiert/ergänzt, Gay wird dort als Teil der eigentlichen Band geführt, wohl weil er halt kein „special“ sondern nur ein normaler Gast war – klappte das irgendwie doch ganz gut. (…)

Aber gut, dieser Chicago-Block war als ganzes schon sehr schön, hat auch als ganzer Block hervorragend funktioniert – was man von den Blöcken auf der Hauptbühne für die diesjährige Ausgabe nicht so wirklich behaupten kann.

Ich bin ja fast unvorbelastet in dieses Programm geraten und wusste kaum, was mich erwartet. Für den ungünstigen Fall hatte ich damit gerechnet, dass das so eine Frontalanordnung Band-auf-Bühne-mit Publikum-im-bestuhlten-Zuschauerraum wird, bei der sich Musiker auf der Bühne verlieren und das Publikum nach jeder Pause zwischen den Auftritten spärlicher wird, gähnt oder sogar einnickt. Konnte man bei früheren Ausgaben des Jazzfests leider auch mal so erleben.

Daher war ich zunächst völlig überrascht, einen Saal zu betreten, wo der Zuschauerraum komplett leer war und sich das Publikum stattdessen auf der Theaterbühne tummelte. Eine Theaterbühne ist ja viel größer, als man vom Zuschauerraum aus sehen kann, da geht es rechts und links noch in die Breite und hinten in die Tiefe. Der schwarze Fußboden ist etwas abgewetzt und an den Rändern stehen irgendwelche Kisten rum. Die Musiker standen da sozusagen auf Augenhöhe und in unmittelbarer Nähe des Publikums, manchmal fast sogar im Publikum. Werkstattatmosphäre. Nach dem ersten Auftritt ging ein Musiker mit einem Glöckchen in der Hand durchs Publikum auf die andere Seite der Bühne, das Publikum folgte ihm, und da fing dann unmittelbar anschließend der darauffolgende Auftritt an. Das erzeugte eine sehr angenehm lässige und spontane Atmosphäre. Da war alles immer irgendwie in Bewegung, und wenn einem bei diesem langen Abend die Füße etwas schmerzten oder ein act nicht so gefiel, setzte man sich halt am Rand mal auf eine der Kisten. Haben gypsy und vorgarten ja auch so gemacht – ich saß mal auf der anderen Seite rum.

Es waren in meiner Erinnerung nicht nur 4 sondern sogar 5 Auftritte. Da war noch ein kurzer Auftritt mit Marvin Tate (Spoken Word) im Trio. Höhepunkt war für mich das Trio Ari Brown – (ts) Joshua Abrams (b) und Mike Reed (dr). Free Jazz, der groove-te, wie ich danach sagte. Bitchin Bajas klangen für mich wie Tangerine Dream in den 70ern, nachdem sie den Sequenzer entdeckt hatten – mit ihren langen Haaren sahen sie vermutlich auch so aus. Ein paar Häuserblock weiter befand sich übrigens mal das Electronic Beat Studio, wo Tangerine Dream angefangen hatten. So ein Zufall!

Danach im Foyer noch Abschlussbier bzw. -wein mit gypsy und vorgarten bis man uns rauswarf. Um kurz nach 2:00 h war ich dann zuhause. Für mich war der Abend hinsichtlich des breiten Spektrums der Musik und des Settings mit Musikern und Publikum im Bühnenraum und den unmittelbar aneinander anschließenden Auftritten ein sehr schönes Erlebnis.

Sonntag, 5.11.2023
15:00 – Ambarchi / Berthling / Werliin „Ghosted“
Oren Ambarchi – Gitarre, Elektronik | Johan Berthling – Kontrabass, E-Bass | Andreas Werliin – Schlagzeug
Der Sonntag ging dann richtig toll los. In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche spielte das Trio „Ghosted“ um Oren Ambarchi ein Set, das auch in dem Raum perfekt zur Geltung kam. Schade höchstens, dass das Licht fürs Konzert nicht etwas gedimmt wurde. Ambarchi sass hinter einem Tisch voller Equipment, spielte oft nur mit der linken Hand (er ist Linkshänder bzw. spielt eine linkshändige Gitarre) auf den offenen Saiten und bearbeitete mit der Rechten die Sounds, die manchmal wohl auch erst mit einiger Verzögerung „eingemischt“ wurden. Neben ihm ein Leslie-Verstärker, der für zusätzliches Wabern sorgte, wo schon die ganze Elektronik die Klänge oft Flirren liessen. Johan Berthling wechselte für seine resonanten Bass-Riffs zwischen Kontrabass und E-Bass hin und her, Andreas Werliin sorgt an Drum-Kit und mehr (war er es, der eine Conga ins Kit eingebaut hatte, direkt hinter – oder sogar anstatt – der Snare?) für die passenden Grooves. Das war zugleich sehr frei, aber mit den Riffs und Ostinati eben auch Groove-Musik – ein Set, das den durch das umwerfende Album geweckten Erwartungen für mein Empfinden mehr als gerecht wurde – ich war danach jedenfalls so glücklich, wie bis dahin nicht bei diesem Festival.

Das war wirklich toll! Sehr inspirierende Versuchsanordnung mit Musik, die kaum vorhersehbar und einzuordnen war. Offenes Ende. Ich wurde und bleibe neugierig.

Nochmals herzlichen Dank an @gypsy-tail-wind und @vorgarten, dass Ihr mich mit ins Boot geholt habt!

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)