Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Theater St. Gallen – 20.11.2022

Der anonyme Liebhaber
Oper von Joseph Bologne «Chevalier de Saint-Georges», Libretto von François-Georges Fouques Deshayes „Desfontaines“ nach Stéphanie Féliticé de Genlis „Madame de Genlis“ (Neufassung von Femi Elufowoju jr.(

Musikalische Leitung Kazem Abdullah
Inszenierung Femi Elufowoju jr. / Sebastian Juen
Bühne und Kostüm ULTZ
Licht Charles Balfour, Andreas Enzler
Choreografie Elenita Queiroz
Choreinstudierung Franz Obermair
Dramaturgie Christina Schmidl

Joseph Joshua Stewart
Léontine Florina Ilie
Ophémon Äneas Humm
Dorothee Libby Sokolowski
Jeannette Jennifer Panara
Colin Christopher Sokolowski
Tänzerinnen Theatertanzschule St. Gallen
Chor des Theaters St. Gallen
Sinfonieorchester St. Gallen

Brecht’sches Theater, BLM-Agitprop, eine echte Rarität der (Pariser) Frühklassik und ein Stück voller wunderbarer Musik – das alles gab’s in der Aufführung von Joseph Bolognes „L’amant anonyme“ am Theater St. Gallen. Für ihre alles in allem sehr stimmige Inszenierung hat Femi Elufowoju jr. das Libretto bearbeitet und dabei die Hauptfigur – die anonym um seine Geliebte buhlt – mit Joseph Bologognes Biographie verquickt. Gesprochene Dialoge auf Deutsch wurden zwischen die Nummern geschoben, dazu kam ein Sprecher aus dem Off, der die Geschehnisse – den Plot wie auch die Biographie Bolognes – aus heutiger Sicht kommentierte, einordnete, am Ende in ein „say their names“-Plädoyer fiel.

Bologne, der Joseph, den wir im Stück zu sehen kriegen, war auch ein gefeierter Fechter, der u.a. in London den Chevalier d’Éon besiegte, seinerseits ein berühmter Fechter und einer der berühmtesten Crossdresser seiner Zeit. Mit ihm wurde in St. Gallen die Figur des Ophémon vermählt. Joshua Stewart überzeugte mich in der Titelrolle nicht so ganz, seine Stimme blieb oft etwas fahl, blieb zusammen mit den anderen etwas zu leise. Äneas Humm konnte sich als Éon austoben, im längeren ersten Teil die meiste Zeit in Frauenkleidern und stimmlich überzeugend. Bezaubernd war ganz besonders Florina Ilie in der Rolle der Léontine, der Witwe, die Joseph heimlich liebt und mit Geschenken überhäuft.

Dass Bologne eben nicht der „schwarze Mozart“ ist sondern ganz im Gegenteil recht eindeutig Mozart beeinflusst hat – die Violinkonzerte und die berühmte Sinfonia concertante KV 364 hätte es ohne die Begegnung in Paris kaum in der Form gegeben – wurde von der Regie genutzt, um den Sprung in die Gegenwart zu machen. Die Erzählstimme – die für mein Empfinden im Lauf des Stückes willkommen war, die Brüche funktionierten eben im Sinn von Brechts Theater, aber überhaupt nicht als Brüche, die einen aus dem Stück geworfen hätten – ordnete ein, kommentierte (noch ausführlicher dazu der Text im Programmflyer, vermutlich von Christina Schmidl verfasst?) und erwähnte zum Beispiel auch, dass bis heute keine person of color die Intendanz einer Oper inne hatte.

Ein Happy-End kann diese Oper natürlich nicht haben, erst recht nicht bei dem vorliegenden Regiekonzept. Das Bild, dass am Ende alle davonziehen und Joseph allein auf der Bühne zurück bleibt, gefiel mir sehr – aber mit dem abschliessenden Plädoyer der Erzählstimme wurde für mein Empfinden das Konzept der Regie dann etwas überdehnt. Schade, denn für die Wirkung wäre das gar nicht nötig gewesen.

Die Musik fand ich bezaubernd, nicht nur geht es mit einer substantiellen Ouvertüre los, es folgen Arien, Duette, Terzette und mehr, voller wunderbarer melodischer Einfälle. Dass ein durch und durch junges Ensemble auf der Bühne stand, erhöhte da Vergnügen noch. Das Sinfonieorchester St. Gallen ist mir bisher unbekannt, wusste unter Kazem Abdullah (auf dem Foto natürlich der Herr in Schwarz, zwischen Stewart und Ilie) aber zu überzeugen.

Tonhalle, Zürich – 22.11.2022

La clemenza di Tito (KV 621)
Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, Libretto von Caterino Mazzolà nach Pietro Metastasio
(konzertant)

Alexandra Marcellier Sopran (Vitellia)
Mélissa Petit Sopran (Servilia)
Lea Desandre Sopran (Annio)
Cecilia Bartoli Mezzosopran (Sesto)
John Osborn Tenor (Titus Vespasianus)
Peter Kálmán Bass (Publio)
Les Musiciens du Prince–Monaco
Gianluca Capuano
Leitung
Il canto di Orfeo (Jacopo Facchini, Einstudierung)

Am Dienstagabend dann in der Tonhalle die konzertante Aufführung von Mozarts „La clemenza di Tito“ mit Bartoli – schon Wochen zuvor praktisch ausverkauft und auch von mit mit grosser Vorfreude erwartet, nicht zuletzt, weil ich die Oper noch nie live gehört hatte. Diese Aufführung verdeutlichte für mich dann auch, wie phantastisch dieses Werk wirklich ist – das konnten angehörte Aufnahmen und auch die grandiose Salzburger Aufführung vor ein paar Jahren nicht so deutlich wie der Abend in Zürich.

Das war nun von A bis Z vollkommen überzeugend und geradezu grandios. Die Sängerinnen und Sänger fügten sich zu einem herausragenden Ensemble zusammen, sie agierten auf einem schmalen Bereich vor dem Orchester durchaus theatralisch. Dass Bühnenbild, üppigere Kostüme, Maske usw. fehlte, tat dem ganzen überhaupt keinen Abbruch: auch so war das atemberaubend und hochdramatisch – bis zum seltsam dahinplätschernden Schluss natürlich, aber der ist wohl genau so, wie Mozart ihn eben haben wollte. Das Orchester unter Capuano, das ich schon ein Jahr früher in einem phänomenalen Konzert mit Bartoli und Franco Fagioli hörte, überzeugte auch dieses Mal vollkommen – der Klarinettist, der mit zwei alten Instrumenten für „seine“ Arien nach vorn kam, war natürlich besonders sichtbar.

Von den vier Frauen kannte ich nur Marcellier nicht – Petit gehörte von 2015 bis 2017 zum Ensemble (ich hörte sie im Winter/Frühling 2017 als Sophie in „Werther“ und in „Médée“ von Charpentier, später auf jeden Fall auch noch in „Fidelio“), Desandre hat die letzten Jahre bei einigen wunderbaren Aufnahmen mitgewirkt, nicht zuletzt an der Seite von Sabine Devieilhe in italienischen Kantaten von Händel. Und Bartoli ist ja, ginge es nach dem Publikum, schon seit Jahrzehnten Ehrenzürcherin. Das stimmte jetzt die Balance, die Stimmen fügten sich aufs schönste zusammen – Mozart durchbricht ja den Seria-Charakter des Stückes stark, es gibt so viel mehr als Rezitative, Arien und Duette zu hören. Osborn war der einzige, der seinen Part nicht auswendig konnte und ein Tablet mit sich herumtrug. Als nach mehreren Abgängen doch noch eine Zugabe gegeben wurde – eine Wiederholung der letzten Nummer – hatte er dieses nicht mit und konnte nur etwa die halbe Zeit mitsingen. Macellier machte ihm zwar zwischendurch die Souffleuse, aber am Ende war die Zugabe sowieso vor allem ein Gaudi, ein gemeinsames Feiern der Musik. Wahnsinnig toll! (Und für mich ein Lichtblick: trotz eines langen Tages davor fühlte ich mich – wie ein paar Tage davor beim Konzert von Anthony Braxton – erstmals wieder so „wach“ wie üblich, und wie seit zwei Monaten bei keinem Konzert mehr).

ZKO-Haus, Zürich – 26.11.2022

Jakob Lenz
Kammeroper von Wolfgang Rihm, Text von Michael Fröhling frei nach Georg Büchners «Lenz»

Musikalische Leitung Adrian Kelly
Inszenierung Mélanie Huber
Ausstattung Lena Hiebel
Lichtgestaltung Dino Strucken
Dramaturgie Fabio Dietsche

Lenz Yannick Debus
Oberlin Jonas Jud
Kaufmann Maximilian Lawrie
6 Stimmen Chelsea Zurflüh, Bożena Bujnicka, Freya Apffelstaedt, Simone McIntosh, Amin Ahangaran, Gregory Feldmann
Kinder Nina Gringolts, Lavinia Scorsin, Noelia Finocchiaro
Zürcher Kammerorchester

Ein Konzert, das ich weggelassen habe, fand am Abend vor dem erwähnten Braxton-Konzert statt – und ich liess es aus, was leider schon die richtige Entscheidung war: er Auftakt und neben dem „Jakob Lenz“ das einzige aus der kleinen Hommage zum 70. von Rihm, die gerade in Zürich läuft (es gibt noch ein Stück von Rihm bei einem Schubert-Konzert des ZKO und eine Rihm-Kantate vor der Dritten von Brahms bei einem der Sinfoniekonzerte am Opernhaus – beide werde ich nicht besuchen, letzteres in erster Linie, weil ich weiterhin nicht annähernd so viel unternehmen mag, wie ich gerne würde). Den „Lenz“ mochte ich mir aber nicht entgehen lassen. Nur vier Aufführungen gab es, gestern war die Derniere.

Das Stück dauert um die 75 Minuten, ist sehr speziell instrumentiert (drei Celli, zwei Oboen + Englischhorn, Klarinette/Bassklarinette, Fagott/Kontrafagott, Trompete, Posaune, Schlagzeug und Cembalo) und überhaupt, fand ich, sehr besonders. Einen Plot gibt es nicht so sehr (Lenz springt in den Brunnen, predigt, versucht ein totes Mädchen wiederzuerwecken, Kaufmann kommt zu Oberlin – so weit, so bekannt), eher fokussiert Rihm auf das Innenleben des Protagonisten, und das geht so weit, dass es durchaus vertretbar schiene, auch die zwei anderen namentlichen Figuren (Oberlin und Kaufmann) als Einbildungen bzw. Abspaltungen von Lenz zu verstehen, nicht nur die sechs Stimmen, bei denen das recht klar ist. Die Bühne (oben im Originalzustand, unten in dem des letzten Drittels) aus beweglichen Holzquadern symbolisierte wohl nicht zuletzt das „Gebirg“, aber auch die Wohnräume von Oberlin, die Kanzel, von der Lenz predigt usw. Eine sehr effektive Inszenierung fand ich, stimmig und toll anzuschauen.

Auch hier wieder schön: ein junges Ensemble auf der Bühne (u.a. wohl eine Tochter von Ilya Gringolts?), abgesehen vom überragenden Yannick Debus (und den Kindern, versteht sich) allesamt Mitglieder des aktuellen IOS (Internationales Opernstudio Zürich). Auch das ein kurzer aber toller, rundum überzeugender Abend.

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