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Tonhalle, Zürich – 28.10.2022
Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi Music Director
Rudolf Buchbinder Klavier
Arvo Pärt «Cantus in Memory of Benjamin Britten» für Streichorchester und Glocke
Ludwig van Beethoven Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58
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Anton Bruckner Sinfonie Nr. 6 A-Dur
Drei Konzerte in der Tonhalle seit einer guten Woche … der Bruckner-Zyklus läuft, aber die beiden gerade gehören Symphonien sind echt keine Favoriten. Dass ich Nr. 6 schon einmal im Konzert gehört hatte – mit Juanjo Mena am Pult im Januar 2019 –, hatte ich im Vorfeld völlig vergessen, das Programmheft erinnerte mich daran, da es die bisher letzte Aufführung des Werks durch das Tonhalle-Orcheester war (in den Programmheften sind, soweit bekannt, stets die ersten und jüngsten Aufführungen erwähnt).
Leider nahm ich auch dieses Mal keinen deutlich prägnanteren Eindruck mit. Drüben auf Twitter habe ich in einer kleinen Klassikrunde die Bezeichnung „grumpy Tony“ für Bruckner geprägt, worüber ich mich ein klein wenig freue (es gibt dort ein paar Verächter, die freuen sich noch mehr ), aber die Nr. 6 ist ja gerade der fröhliche Bruckner, der für einmal nicht über Jahre, ja Jahrzehnte mit einem Werk hadert, daran herumbastelt und so weiter. Es ist sicher nicht das, was es mir weniger nah macht, aber einen richtige Zugang habe ich dazu bisher noch nicht finden können.
Besser – und mein dauermüdes Ich (kann eine Covid-19-Infektion wirklich nicht weiterempfehlen) auch aufmerksamer, wacher – fand ich die erste Konzerthälfte. Buchbinder spielte eine umwerfende, präzise Interpretation von Beethovens viertem Klavierkonzert, spielte mit viel Schalk eine Zugabe von Strauss – irgendwas mit „Wien“ im Titel, das wie ein lustiges Melodien-Medley klang (Johann II nehme ich an, aber ich hab’s leider nicht sofort notiert).
Davor öffnete das Orchester mit dem kurzen Stück von Pärt – und das war mal wieder sehr faszinierend. Pärt-Einstiege habe ich mit Järvi schon ein oder zweimal gehört und fand das jedes Mal spannend: wie sich sie Zeit auflöst in den liegenden Tönen, wie die Musik trotz ihrer starren Form, ihrem trägen Fluss, wahnsinnig reichhaltig klingt, wie in diesem Nichts ein fortwährend Werden steckt. Und was mir auch bei den beiden Orchesterkonzerten mit dem Tonhalle-Orchester (es sind ja eigentlich bereits drei, fürs erste – mit Hosokawa und Bruckners Achter – gilt das ebenso) aufgefallen ist: die Akustik in der renovierten Halle ist wirklich phänomenal, das Orchester nach den pandemiebedingten Unterbrüchen in hervorragender Form. Bei Pärt und natürlich immer wieder bei Bruckner wird der Saal aufs letzte ausgereizt, es gab Passagen, die waren wahnsinnig laut – und dennoch nie übersteuert, nie verzerrt, nie ordinär. Da liegt eben schon sehr viel mehr drin als in der Tonhalle-Maag, der temporären Übergangshalle, die ich mir bei Kammermusik und besonders für Zeitgenössisches dennoch sehr zurückwünschte. Es wurde, so las ich neulich, bei der Renovation sogar darauf geachtet, dass die Farbe, mit denen die ganzen Stuck-Verzierungen neu bemalt wurden (originalgetreu eben, davor war ja vieles einfach grau übermalt worden) möglichst gut auf dei Akustik einwirke. Dass sowas – die Farbschicht, nicht das Material darunter – auch einen Einfluss haben kann, hatte ich mir noch gar nie überlegt. Jedenfalls unabhängig davon, ob ich einen unmittelbaren Zugang zur Musik finde, ein immenser Genuss, ein so gutes Orchester in diesem Saal hören zu können. Und ich hab ja – aufgrund der Preisstruktur – wieder von Reihe 1 auf die hinterste Reihe in der seitlichen Galerie gewechselt (wo ich schon vor dem Intermezzo in der Tonhalle-Maag jeweils sass bzw. stand). Ich bin momentan meist ca. in der Mitte der Länge des Saals, also keineswegs an einem Platz, den man sich als super vorstellen würde, ca. 5-6 Reihen vor der Bühnenkante (recht weite Teile der Galerie sind seitlich neben der Bühne, v.a. wenn diese wie bei Bruckner nötig erweitert wird und die ersten vier Stuhlreihen im Parkett ausgebaut werden). Dennoch: der Klang ist dort perfekt, er mischt sich im Saal so gut, dass ich sogar mit nach vorn (also rüber in die andere Galerie) ausgerichteten Kopf die Illusion haben kann, mit gradem Blick vor der Bühne zu sitzen. Das ist ein Glück, und das ist ganz anders als die „nah dran“-Plätze, die ich in der Maag jeweils hatte. Dafür bin ich halt wirklich recht weit weg, muss wie gesagt aufstehen, wenn ich etwas sehen will, was ja zuhinterst auch problemlos geht (sonst sehe ich zwischen den Köpfen hindurch nicht viel, da vor Reihe 6 ein breiterer Gang liegt und die zwei Reihen davor auf demselben Niveau liegen.
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Neue Konzertreihe Zürich – Tonhalle, Zürich – 31.10.2022
Alexandra Dovgan Klavier
Franz Schubert Klaviersonate A-Dur D 664
Robert Schumann «Faschingsschwank aus Wien» op. 26, Fantasiebilder für Klavier
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Johannes Brahms Variationen und Fuge über ein Thema von Händel B-Dur op. 24 für Klavier
Johannes Brahms Drei Intermezzi op. 117
Sergei Rachmaninow Prélude gis-Moll op. 32/12
Alexander Siloti Präludium h-Moll nach Johann Sebastian Bach
Letzten Montag fand dann das Debut von Alexandra Dovgan statt, das zweimal verschoben wurde – oben der Steinway, den sie spielte. Im März 2021 war ein Solorezital (Bach, Schumann, Rachmaninov, Chopin – welche Werke weiss ich nicht mehr) geplant, doch da waren Veranstaltungen nicht gestattet. Im Herbst 2021 war dann Beethoven mit dem Kammerorchester Basel geplant, doch Dovgan war krank und wurde durch Marie-Ange Nguci ersetzt (die Beethovens Drittes in einer wahnsinnig tollen Interpretation spielte). Im Oktober 2022 hat es dann endlich geklappt, wieder für ein Rezital, was für das Debut natürlich auch passender ist.
In der zweiten Konzerthälfte wurde das gedruckte Programm zum Glück umgedreht und die hypervirtuosen Händel-Variationen an den Beginn gestellt. Die Intermezzi Op. 117 waren vielleicht das Highlight, doch es wurde sehr klar, dass die 2007 geborene Dovgan eben nicht (mehr) nur Wunderkind sondern auch (schon) Künstlerin ist, Interpretin, die etwas zu sagen hat. Ihr Spiel wirkte dabei klar, fein gestaltet, aber auch mit gutem Gespür für das Gestalten grösserer Bögen und Melodielinien. Im Schumann und den Händel-Variationen wurde es mit den virtuosen Feuerwerken manchmal fast etwas zuviel – der Einstieg in den „Faschingsschwank“ wirkte für meine Ohren halsbrecherisch schnell, doch die Finger kamen immer mit und wie gesagt: das Musizieren selbst ging darob wirklich nie vergessen.
Mit den Intermezzi fand dann einen ruhigen Schlusspunkt, der wirklich schön gestaltet war – auch wenn die Tiefe vorliegender Einspielungen (mir ist z.B. die Hyperion-CD von Stephen Hough, „The Final Piano Pieces“, mit Opp. 116-119, recht gut im Ohr) nicht erreicht wurde. Auch nicht die Tiefe von Sokolov, der die junge Pianistin wohl fördert (so genau weiss ich das nicht) – das Licht wurde nicht ganz so tief wie bei ihm heruntergedimmt, seine Strenge klingt in Dovgans Spiel teils wieder, aber die Aura, die er zu erzeugen vermag, ist natürlich einzigartig. Dass wie zwei „russische“ Zugaben spielte, vervollständigte quasi das Bild, denn auch der Schubert klang für meine Ohren phasenweise recht russisch, so solche Aussagen denn überhaupt sinnvoll sind. Und Siloti stammte natürlich, das hat ja heute leider alles nochmal eine andere Bedeutung, stammte aus Charkiw.
Bei den Konzerten der „Neuen Konzertreihe Zürich“ habe ich weiterhin meinen Aboplatz in Reihe 1 – und bin damit übrigens auch weiterhin sehr zufrieden (er ist halt noch teurer geworden …), denn da sind nur selten Orchester zu hören, und wenn sind es meist kleiner besetzte wie das Kammerorchester Basel, die Cappella Andrea Barca, The English Concert, oder jüngst Herreweghe mit seinem Collegium Vocale Gent. Und demnächst wieder die Musiciens du Prince–Monaco mit Bartoli in einer konzertanten Aufführung von „La clemenza di Tito“ u.a. auch mit Mélissa Petit und Lea Desandre – und auch da werde ich sehr gerne nah dran sein, das ist bei Bartoli jedes Mal ein grosses Vergnügen).
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Zürich, Tonhalle – 05.11.2022
Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi Music Director
Janine Jansen Violine
Olivier Messiaen «L’Ascension», Quatre Méditations symphoniques
Leonard Bernstein Serenade (nach Platons «Symposium») für Violine, Streicher, Harfe und Schlagzeug
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Anton Bruckner Sinfonie Nr. 3 d-Moll
Gestern dann schon der dritte Bruckner-Abend in der Tonhalle – und der programmlich ambitionierteste. Nach den kürzeren Pandemie-Konzerten noch in der Tonhalle-Maag hiess es vorerst, das Tonhalle-Orchester wolle lieber etwas kürzere Programme, die ohne Pause gespielt würden, geben. Den Punkt „ohne Pause“ finde ich super – aber wenn es nur 60 oder 75 Minuten dauert, finde ich das auch etwas kurz (die Pandemiekonzerte waren eher 50-60 Minuten und auch deutlich günstiger, ich glaub teils gab es sogar einfach einen Einheitspreis, der dann für Billigkartenkäufer wie mich nicht sooo günstig war, dafür mal das Sitzen auf anderen Plätzen ermöglichte – ich hörte Lars Vogt nochmal in der Maag mit Järvi, für einmal statt ganz vorn von hinten auf dem Balkon).
Davon ist man jetzt offensichtlich wieder weggekommen, auch wenn der Abend mit Hosokawas Flötenkozert und Bruckner 8 durchaus so hätte gestaltet werden können, wäre nicht die eh eine grosse Umbaupause nötig gewesen (Bruckner wird überdies mitgeschnitten, demnächst kommt wohl Mendelssohn bei alpha, im Anschluss dann Bruckner – ich bin auf beides gespannt, auf Mendelssohn aber noch mehr, da ich die Konzerte allesamt verpasste … bin gar nicht sicher, ob alle Symphonien aufgeführt wurden, oder ob die eine oder andere wegen Veranstaltungsverboten einfach nur aufgenommen wurde).
Gestern war das dann ein echt ambitioniertes Programm. Ich war weniger müde als beim Abend mit Buchbinder und Nr. 6, habe zur Nr. 3 auch bereits viel besseren Zugang als zu Nr. 6 – obwohl sie mir nicht besser gefällt. Doch los ging es mit Messiaen, „L’ascension“, zuletzt im April 2019 in der Tonhalle-Maag aufgeführt, auch schon mit Järvi und dann auch bei alpha auf einer tollen Messiaen-CD erschienen (damals spielte dann Volodos eine ebenfalls wahnsinnig tolle Interpretation von Beethoven 3). Was mich gestern beim Auftakt wieder frappierte: ich mag eigentlich Messiaens Musik nicht besonders, sie spricht mich auf einer emotionalen Ebene kaum an – und doch hakt sie sich fest, faszinieren mich seine Klangwelten ungeheuer. Neben den früheren Konzerten des Tonhalle-Orchesters mit Järvi gab es für mich im Sommer 2019 auch noch ein tolles Konzert mit Rattle in Luzern. Auch gestern ging es mir so: wie das Orchester sich wandelt, wie Klänge geschichtet werden, massiv und dennoch von einer unglaubliche Finesse, wie das grosse Orchester über längere Zeit wie eine Orgel klingt … wahnsinnig toll! (Das Ausgehpublikum, das gestern auch vertreten war, war hingegen eher betreten.)
Dann folgte eine Umbaupause, die Schlagzeuger rückten nach vorn (leider für mich im toten Winkel), die Bläser machten sich vom Acker … und dann Janine Jansen. Ich glaub, für den Rest meiner Tage werde ich jedes Konzert von ihr hören gehen, das ich hören kann. Was für eine umwerfende Musikerin! Vergesst die Geigenfräuleins, die blöden Cover, die Decca mit ihr macht – geht einfach ins Konzert, wenn sie spielt! In der Saison 2018/19, als Järvi auch schon regelmässiger Gast war, aber das Orchester offiziell ohne Chefdirigent, war Jansen „artist in residence“ und ich konnte sie mehrmals hören: Eliasson mit Blendulf, KV 219 mit Järvi, ein Rezital mit Alexander Gavrylyuk und zuletzt Brahms mit Blomstedt – und das war ein grosses Glück! In der Zwischenzeit hat Jansen auch länger pausiert, soweit ich mitgekriegt hatte. Und jetzt ist sie mit Bernstein zurück, der „Serenade“ bzw. dem „Symposium“, der Adaption von Platons Gastmahl. Dass sie und Järvi einen guten Draht haben, war schon bei Mozart eindrücklich zu hören, da wird gemeinsam musiziert, spontan und rücksichtsvoll, hellwach – auch das ausgedünnte Tonhalle-Orchester auf der Stuhlkante, nicht zuletzt der neue Stimmführer der Celli, der sehr junge Paul Handschke, ebenso wie der Konzertmeister des gestrigen Abends, Klaidi Sahatçi. Ich habe ein paar Aufnahmen davon da, nicht zuletzt von Isaac Stern, der das Stück unter Bernstein selbst uraufgeführt hat, und natürlich die von Hilary Hahn mit Järvis Vor-Vorgänger David Zinman (Baltimore SO) – aber gestern hat sich mir dieses Werk zum ersten Mal so richtig geöffnet.
Nach der Pause dann wieder zurück zu Üppigkeit und Volumen, die Bläser wieder dabei und enorm gefordert in Bruckners Dritter. Diese wurde – bei dem Programm wohl das einzig sinnvolle – in der dritten Fassung von 1888/89 gespielt, die eine knappe Stunde dauert. Seit 2013 (Zinman) wurde sie vom Tonhalle-Orchester nicht mehr gespielt, aber wie im Programmheft anhand eines alten Zettels aus dem Archiv zu sehen war, haben u.a. Rosbaud, Haitink, Kubelik, Sawallisch, Dohnányi, Maazel und Masur sie schon mit dem Orchester aufgeführt. Und natürlich diverse Male zwischen 1903 (erst Aufführung) und 1950 der langjährige Chefdirigent Volkmar Andrae. Mir ist die Symphonie trotz einer inzwischen recht grossen Vertrautheit recht fremd geblieben. Die fast folkloristischen Passagen wirken für meine Ohren wie ein Bruch, aufgepappt irgendwie – aber das ist wohl eh das Problem, das ich mit Bruckner (eben auch in der Sechsten) immer wieder habe: neben grossen Bögen höre ich immer wieder harte Brüche, nicht als Anregung oder interessante Wendung sondern eher so, dass ich rausfalle und mich erstmal wieder sammeln muss, nachdem ich mich gefragt habe, was das da gerade eigentlich sollte. Unabhängig davon wie gesagt echt ein Erlebnis, das Orchester zurück in der Stammhalle zu hören – dass ich so begeistern sein würde davon, war nach der grossen Enttäuschung über das Scheitern der Projekte, die Tonhalle-Maag weiter zu nutzen, nicht so direkt absehbar und freut mich umso mehr.
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