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negro leo, desejo de lacrar (2020, nur digital: https://negroleo.bandcamp.com/album/desejo-de-lacrar)
eins meiner lieblingsalben von 2020, will ich seitdem hier vorstellen. obwohl es mich immer noch völlig überfordert. ist so ziemlich das gegenteil des carlos-walker-albums, erzielt aber einen ganz ähnlichen effekt, man wird ein bisschen verrückt daran. DESEJO DE LACRAR ist kein verloren gegangenes hippie-album, sondern komplett aus dem digitalen heraus konzipiert, aus überangeboten, billigen vorlagen, einfachen zugängen, schlafzimmerproduziert, eine jonglage aus merkwürdigen effekten, bearbeitungen, filtern, glitches, bei denen nur der künstler selbst den überblick behält, der immer wieder auch dann klar definierte melodielinien singt, wenn um ihn herum die akkordgebenden synthesizerakkorde abstürzen oder ausleiern.
der einstig ist hart, eine surrealer chor, der eher laute ausstößt als text singt, dann ein hyperaktives zeitrafferstück, in dem aber schon erste schöne funk-elemente auftauchen, ab dem dritten stück, einer erstaunlich tiefgehenden ballade mit besagten abstürzenden synthesizern, wird es richtig gut und immer besser. negro leo (ein angeeignetes schimpfwort) ist im norden geboren und in rio aufegwachsen, lebt mittlerweile in são paulo, ist mit einer künsterlin verheiratet, aber (und/trotzdem/außerdem/deswegen) ziemlich queer unterwegs (der titel des albums verwendet ein lgbt-slangwort für analsex), mag es überhaupt nicht, als tropicalist gelabelt zu werden und bezieht sich, wenn überhaupt („alle, die ich bewundere, sind tot“) auf westafrika & polyrhythmen, dennoch kann so ein album wie das hier nur aus brasilien kommen, das hört man sofort. nicht nur wegen der surrealen folklore, den baile-funk-einlagen oder der großartigen durchgefilterten hommage auf männer-mit-gitarre-melancholie auf dem 8. stück.
negro leo war 2020 auch schon beim jazzfest berlin zugeschaltet, irgendwann ziehen leute wie er momentan sowieso nach berlin (und machen schlechte kunst), welcher freigeist will schon unter bolsonaro leben. DESEJO DE LACRAR ist in der jüngeren vergangenheit das einzige von ihm, was so halbwegs einem album ähnelt. ich bin auf alles weitere sehr gespannt. auch wenn es mich noch überfordert und mich an den schönen details festhalte, den drum-, ebass- und synthiesounds, den manchmal nur gepfiffenen melodien, wächst es bei jedem hören.
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