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Zürich, Opernhaus 29.12.2021
Gaetano Donizetti (1797-1848)
Anna Bolena
Lyrische Tragödie in zwei Akten von
(Libretto von Felice Romani nach dem Drama «Henri VIII» von Marie-Joseph de Chénier)
Musikalische Leitung Enrique Mazzola
Inszenierung David Alden
Ausstattung Gideon Davey
Lichtgestaltung Elfried Roller
Video Robi Voigt
Choreografische Mitarbeit Arturo Gama
Choreinstudierung Ernst Raffelsberger
Dramaturgie Michael Küster
Enrico VIII Luca Pisaroni
Anna Bolena Diana Damrau
Giovanna di Seymour Karine Deshayes
Lord Rochefort Stanislav Vorobyov
Lord Riccardo Percy Alexey Neklyudov
Smeton Nadezhda Karyazina
Sir Hervey Nathan Haller
Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Gestern zum letzten Mal Live-Musik im alten Jahr – und was für ein Erlebnis! Mazzola, Alden, Davey und Damrau haben in der Saison 2917/18 schon die mittlere der drei Elizabeth-Opern von Donizetti, Maria Stuarda, in Zürich zur Aufführung gebracht. „Roberto Devereux“ soll noch folgen, die Reihenfolge der ersten beiden Opern ist dabei allerdings verauscht (in „Maria Stuarda“ ist Elisabeth der Titelheldin Kontrahentin, in „Anna Bolena“ ist sie noch ein kleines Kind – in Zürich tritt sie, als 5 oder 6jähriges Mädchen etwas zu alt, als stumme Rolle auf, da werden quasi die Traumata der späteren Königin Elisabeth geformt, die die Hinrichtung ihrer Mutter miterleben muss).
Die Bühne war erneut einfach gehalten, die Kostüme grösstenteils schlicht (am Schluss musste Deshayes im Brautkleid auftreten, was beim Schlussapplaus etwas riskant war), das Regiekonzept wirkte stimmig, gradlinig, am Ende sehr schlüssig. Die Auf- und Abgänge, Auftritte des Chores usw. waren hübsch choreographiert.
Mazzola bemüht sich seit längerem sehr um Donizetti und hat auch von „Anna Bolena“ an einer neuen Edition mitgearbeitet: er beharrt auf dem Urtext, kürzt nichts weg, dramatisiert nicht im Verismo-Stil, wie es noch zu Callas‘ Zeiten üblich war (das Kürzen auch, Dauer gestern: ca. 90 Minuten pro Akt), die Tempi und die Dynamik usw. folgen Donizetti, so weit es eben möglich ist. Das gibt der Musik immer wieder viel Raum – und wie auch damals, als ich den inzwischen verstorbenen Nello Santi in L’Elisir d’amore hören konnte, fiel mir gestern immer wieder auf, wie vorsichtig und schön die Musik orchestriert ist: immer wieder andere Kombinationen von Instrumenten, ein unglaublicher Farbenreichtum und ja: unendlich viel Schönklang, der natürlich durch dramatische Momente unterbrochen wird, in denen auch die Musik sich verschattet und verdüstert.
Die Damrau in der Titelrolle war nichts weniger als grandios – sie beherrschte das Geschehen, ohne den anderen ihren Platz zu nehmen. Dass Deshayes daneben einen schweren Stand habe, war in der Rezension der NZZ zu lesen (eine Doppelrezension, da die „Anna Bolena“ vor kurzem auch in Genf in einer neuen Produktion zu sehen war, dort mit der vermutlich noch zu jungen und auch nicht genügend stimmgewaltigen Elsa Dreisig ind er Titelrolle, dafür mit der grossartigen Stéphanie d’Oustrac als Seymour – Damrau/d’Oustrac wären da eine absolute Traumbesetzung). Mir schien das Urteil des Rezensenten dabei etwas unfair („fällt […] im Forte fast immer schrill […], erbarmungslos ab“), ein so grosses Gefälle mochte ich nicht wahrzunehmen, vor allem schien mir trotz der überragenden Darstellung Damraus das Ensemble insgesamt hervorragend besetzt und – vermutlich in harter Probenarbeit, zumal das auch ein Rollendebut für Damrau und Deshayes war – aufeinander abgestimmt. Besonders Neklyudov als Percy, aber auch Karyazina als Smeton (auch ein Rollendebut) gefielen mir sehr gut. Und Pisaroni machte seine Sache als König ebenso gut.
Die zweimal 90 Minuten, die die Oper in so einer werktreuen Aufführung braucht, sind schon ordentlich lang – und klar hätte ich Lust auf ein kühles Bierchen gehabt in der Pause … aber trotz – und vielleicht auch gerade: wegen – der weiterhin widrigen Umstände (so eine Vorstellung in der Zeit wäre sonst auch restlos ausverkauft, was gestern nicht der Fall war) ein grandioses Erlebnis! Mein Live- bzw. Konzert-Erlebnis des Jahres, zweifellos, noch vor dem umwerfenden Konzert von Cecilia Bartoli vor ein paar Wochen.
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