Antwort auf: Klassik: Corona-Konzerte etc.

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gypsy-tail-wind
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Tonhalle-Maag, Zürich – 26.06.2020

Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi
Chefdirigent und Music Director

Witold Lutosławski «Musique funèbre» für Streichorchester
Arthur Honegger Sinfonie Nr. 2

So, ich war auch wieder im Konzert … seltsame Umstände, ein recht gross besetztes Streichorchester mit je ca. 10 Geigen, etwas weniger Bratschen und Celli sowie drei Bässen, soweit ich es von weit hinten erkennen konnte – vermutlich knapp über 40 MusikerInnen. Im Saal hätte über 200 Plätze verkauft werden können (240 habe ich im Kopf?), es waren aber nur ca. 60 Leute da, die meisten sassen weit vorn, ich fühlte mich also definitiv nicht unwohl – trug obendrein wie empfohlen Maske (zum ersten Mal, beim Einkauf muss man hier nicht und ich hab den immer zu Randzeiten erledigt, freitags um 10 Uhr morgens oder samstags schon um 8 Uhr, bevor die Leute alle draussen sind). Aber zum Wichtigen!

Live-Musik – Wahnsinn! Und dann auch noch zwei Werke, die ich nicht kannte, die mich mächtig neugierig machten. Statt einem Programmheft gab es einige öffnende Worte von der Intendantin Ilona Schmiel und nach ein paar Minuten ging es los – mit der Grabesmusik, die Witold Lutosławski 1954-58 für Béla Bartók geschrieben hat. Ein düster-melancholisches Werk mit getragenen Streicherklängen, sich langsam entpuppenden Melodien, der Stimmführer der Celli, Rafael Rosenfeld, hatte ein paar Momente im Rampenlicht, später auch Konzertmeister Klaidi Sahatçi und der Stimmführer der Bratschen, Gilad Karni. Doch vor allem beeindruckte der kompakte Klang (obwohl die Besetzung doppelt so gross war wie bei der Uraufführung – Wikipedia-Eintrag), der zu flirren, zu schweben anfing, den Raum langsam flutete. Es war wohl der „Metamorphoses“ überschriebene mittlere der fünf Sätze, der mich am meisten gefesselt hat, wenn ich die Wiki-Beschreibung lese: da wird eine Art „Kettenform“ gespielt (wie er sie später in der Passacaglia des „Concerto for Orchestra“ wieder anwenden sollte): drei Stränge werden verflochten, die Zwölftonreihe vom Prolog (die als Intervalle den Tritonus und die kleine Sekund nutzt) wird in zwölf „Metamorphosen“ durch den absteigenden Quintenzirkel geschoben, während die Textur immer dichter wird – eine Art Cantus Firmus mit darüber immer farbiger und ungewöhnlicher werdender Klangwelt.

Honeggers zweite Symphonie ist ähnlich düster sie entstand 1940/41 und wurde 1942 vom Collegium Musicum unter Paul Sacher hier in Zürich uraufgeführt. Honegger sprach, wie er daran gearbeitet habe, dem ersten Satz eine „strenge Form zu geben ohne die innere Heftigkeit abzuschwächen“ (zit. nach Reclams Konzertführer, 18. Auflage, 2006). Das finde ich sehr passend, denn streng wirkt das ganze Werk, und heftig ebenso. Im Vergleich zu Lutosławskis Werk von viel stärkeren rhythmischen Impulsen geprägt, aber in der Stimmung ähnlich dunkel. Vielleicht ist das ja gerade die richtige Musik für diese Tage – sie trifft die Stimmung, entfaltet aber in ihrem Reichtum auch eine grosse Strahlkraft. Bei Honegger gibt es am Ende noch einen Twist, denn im dritten Satz kommt eine Solotrompete dazu (der Solist ist im schlechten Bildchen auf dem Balkon zu sehen).

Wie gut es tut, auch unter wenig optimalen Umständen – der Applaus dünn, der Kopf mit der Maske nach einer halben Stunde zum Brummen neigend, die Müdigkeit rasant steigend durch das doch etwas erschwerte Atmen – im Konzert zu sitzen und dem Erschaffen von Musik in Echtzeit beizuwohnen – vergessen hatte ich es nicht, aber wohl schon ein wenig verdrängt. Das tue ich wohl bis auf Weiteres und freue mich auf die Ausnahmen.

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