Antwort auf: Klassik: Corona-Konzerte etc.

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gypsy-tail-wind
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Das Opernhaus Zürich bietet noch bis Sonntag Mitternacht (seit gestern 18 Uhr, das sind die Zeitfenster) die phänomenale Aufführung von „Pelléas et Mélisande“ an, die ich damals gerade noch sehen konnte – sass kränkelnd in einer leeren Loge (hatte den billigsten Platz hinten gekauft, aber schon spekuliert, dass ich allein bleiben würde) und war am Ende unglaublich froh, dass ich nicht zuhause geblieben war, weil’s so grossartig war. Nehme nicht an, dass sich das auf den kleinen Bildschirm übertragen lässt, aber damals war das wirklich perfekt, die Behandlung der Sprache in der Musik, das konstante Flirren der Musik – enorm beeindruckend (ich konnte das Erlebnis bisher auch mit Aufnahmen nicht rekonstruieren, hab’s auch noch gar nicht ernsthaft versucht – war aber auch mein erster Opernbesuch nach wohl 15 Jahren).

https://www.opernhaus.ch/spielplan/streaming/pelleas-et-melisande/

Mein Post von damals:

gypsy-tail-wind
Gestern abend nach vielen Jahren endlich mal wieder in die Oper hier in Zürich (der letzte Besuch war vor ein paar Jahren in Duisburg, davor wohl zehn oder gar zwölf Jahre keine Oper live gesehen) – nach den Besprechungen vor ein paar Wochen (das Stück läuft vom 8. bis 29. Mai, keine Wiederaufnahme in der nächsten Saison :doh:) musste ich einfach hin, trotz nicht auskurierter Sommergrippe, ausgerüstet mit Hustenbonbons und Taschentüchern … zum Glück landete ich, trotzdem ich die letzte erhältliche Karte der billigsten Kategorie erwischt hatte, ganz alleine in einer Loge (kam aber ohne Hustenanfälle durch, im Gegensatz zu vielen anderen im Saal, gibt es eigentlich sozialpsychologische Studien zu dieser Zwangsneurose und kann man den betroffenen nicht einfach eine Spritze ins Gesäss verpassen vor der Aufführung?) – aber gut, es gab:

PELLÉAS ET MÉLISANDE
Oper von Claude Debussy

Musikalische Leitung Alain Altinoglu
Philharmonia Zürich
Zusatzchor der Oper Zürich
SoprAlti

Arkel, König von Allemonde Brindley Sherratt
Pelléas, Arkels Enkel Jacques Imbrailo
Golaud, Arkels Enkel Kyle Ketelsen
Yniold, Golauds Sohn aus erster Ehe Damien Göritz (Tölzer Knabenchor)
Ein Arzt Charles Dekeyser
Mélisande Corinne Winters
Geneviève, Mutter von Golaud Yvonne Naef
Pelléas‘ Vater Reinhard Mayr

Inszenierung und Bühne Dmitri Tcherniakov
Kostüme Elena Zaytseva
Lichtgestaltung Gleb Filshtinsky
Video-Design Tieni Burkhalter
Choreinstudierung Jürg Hämmerli
Dramaturgie Beate Breidenbach

Wie so oft – ich hörte die Oper in den letzten Wochen ein paar Male an, zuletzt ja noch gestern in der Boulez/Sony-Einspielung – half es mir enorm, eine Aufführung zu sehen, das Orchester in echt zu hören, um einen direkten Zugang zum Werk zu finden (das ja wohl eigentlich gar keine Zugänge erlaubt, wenigstens nicht im herkömmlichen Sinn). Es ist ja nicht gerade so, als gäbe der verworrene Plot etwas her, als würde die Musik dramatische Bögen gestalten – ich verstehe jeden nur halbwegs interessierten, der das Werk für langweilig oder langfädig hält. Das Bühnenbild war simpel, einer modernen Villa nachempfunden, mit sündhaft teuren Liegen, einem langen Designer-Holztisch im Hintergrund, einem Nebenraum mit Schiebetür – als Grotte und Wald (als Burg sowieso) völlig ungeeignet, ich hätte wohl ein noch abstrakteres Bühnenbild bevorzugt, aber egal, die Inszenierung gefiel mir sehr gut, sehr einfach, Golaud legte Mélisande erstmal auf die Couch (und band sie danach, das gab es nur als Einspielung, stumm, auf dem Flachbildschirm der Villa, ans Krankenhausbett – Bilder aus älteren Filmen mit Szenen aus der Psychiatrie wurden wach). Das mag man überflüssig oder albern finden, aber es spielte keine Rolle, drängte sich nicht zu sehr ins Geschehen.

Altinoglu erweckte die Musik zum Leben, wie er aus dem Orchester die ganzen ungewohnten Klänge hervorkitzelte, die Debussy vorschwebten, die er aber, gemäss dem Interview mit Altinoglu im Programmheft, manchmal nur halbwegs zu notieren vermochte: „Debussys Instrumentation ist nicht so genial wie die Ravels. Ravel macht keinen einzigen Fehler, bei ihm funktioniert die Instrumentation wie eine Schweizer Uhr: Wenn man das spielt, was in Ravels Partituren steht, funktioniert es perfekt. Wenn man die Dynamiken ausführt, die Debussy geschrieben hat, ist das nicht so. Man muss als Dirigent spüren, wo die Hauptstimmen un die Nebenstimmen liegen, und wie man beides kombiniert. […] Wenn man dann aber die richtige Balance gefunden hat, ist es wunderschön.“

Das war es in der Tat: wunderschön. Aber auch düster, verhangen, rätselhaft – ganz wie der Plot, die zur Hälfte aus Auslassungen, Leerstellen bestehende Dramatis personae. Aber diese Leerstellen gehören ja ganz zentral zur Faszination des Werkes – und sie sind, so scheint mir, musikalisch kongenial umgesetzt. Man erkennt durchaus kleine Motive, die eine Art unterschwellige Leitmotivik andeuten, überhaupt scheint Debussy die Melodie vor allem fürs Orchester vorgesehen zu haben, der Gesang entspricht in Gestus und Sprache der alltäglichen, gesprochenen Sprache. Und das Orchester spielte denn an dem Abend eine der Hauptrollen – es glimmte, drohte zu erlöschen, brannte auf blauer Flamme, brach dann aus, überdeckte auch einmal für kurze Augenblicke die Stimmen. Da fand alles aus Schönste zusammen. Und die Stimmen fand ich allesamt hervorragend, nur der Knabensopran war manchmal etwas laut/undifferenziert (aber immer noch besser als die quäkenden Sopranistinnen in den „lustigen“ Rollen in traditionellen Opern, Zerbina usw., das ist ja oft Bauerntölpelhumor, der wohl noch Molière beschämt hätte).

Dass es eine Pause gab, war eigentlich ein Skandal … dieses so wundersam schwebende, so ungreifbare Stück, das da direkt vor meiner Nase entstand und nahezu physisch wurde, zu unterbrechen? Was für eine Grobheit! Aber gut, der vierte Akt ist wohl einer der grossen Höhepunkte dieses musikalischen Gemäldes, der fünfte dann eine Art erweiterte „funèbre“ (ist das Ding eigentlich Oper oder Symphonie in fünf langen Sätzen?). Wie Musik und Gesang immer wieder aus dem Nichts entsprangen und ins Nichts zurücksanken, das war schon pure Magie. Am Ende war ich erschlagen – innerlich jauchzend aber auch bereit, die fünfzig Schritte zum See zu gehen und direkt ins Wasser. Diese Mischung der völligen Niedergeschlagenheit bei zugleich grösster Beglückung ist ja ein eher selten Ding („Le Bonheur“, anyone?), umso wertvoller, diese Erfahrung bei einem Konzert zu machen, nicht bloss auf der Leinwand oder mit den Kopfhörern. Jedenfalls eine so rauschhafte wie niederschlagende Sache.

Und das stimmte mich nachdenklich, klar. Wenn „Pelléas et Mélisande“ eben keine Krone der Spätromantik ist (als die sie wohl von Wagnerianern gerne betrachtet wird, doch kickt das Ding doch die Ärsche von all denen in Bayreuth … die Karajan-Einspielung höre ich mir trotzdem bald mal an, scheint ja allein schon wegen des Spiels der Berliner Philharmoniker zu lohnen) sondern so etwas wie der (ein?) Beginn der modernen Oper, wofür es ja mancherlei überzeugend Argument gibt, so ist es wohl die Leere, das Spiel mit den Leerstellen, die Referenzen, die allesamt ins Nichts laufen, die Feststellung, dass man zwar etwas sieht, aber nicht versteht – oder anders: versteht, dass es nicht ums Verstehen auf einer schlichten Handlungsebene geht; wobei der Twist mit der Psychoanalyse vor diesem Licht nur noch sarkastischer – und als Regie-Einfall toller – wird, denn: Es gibt hier nichts zu Psychologisieren. Nichts. Die erschlagende, alles tränkende Traurigkeit, die sich über einen legt, ist die grundsätzliche Erfahrung der Leere in der Moderne – ich denke an Robert Walser und seinen drifter Jakob von Gunten, man mag auch an Beckett denken. Ein angeklebtes „Post-“ ändert an der Intensität dieser Erfahrung, und damit sind wir dann wieder beim Kern: Nichts.

http://forum.rollingstone.de/foren/topic/die-wunderbare-welt-der-oper/page/20/#post-8732171

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